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ein Kind in seinem Kummer trösten wollte? Was sind wir für Pädagogen, wenn wir unseren Schülern gegenüber kalt und gleichgültig sind?«

      »Du bist zu weit gegangen, Jens. Das weißt du ganz genau. Ein Kind in den Arm zu nehmen, ist Sache der Eltern. Wenn ein Lehrer das tut, hat er andere Beweggründe.«

      »Heidi, du verdächtigst mich zu Unrecht. Gerade du müßtest mich kennen und mehr Vertrauen zu mir haben.«

      »Ich halte mich an Tatsachen. An das, was ich mit eigenen Augen sah. Du hast die Kleine in deinen Armen gehalten!« Heidi war so laut, daß man es im ganzen Schulhaus hörte.

      Plötzlich tauchte der Schulleiter auf. Er rückte an seiner Brille, als vermittle ihm diese Geste ein besseres Verständnis.

      »Was vernehme ich da?« fragte er sichtlich erregt. »An meiner Schule? Frau Kollegin, Sie wol-

      len doch nicht sagen, daß sich

      Herr Seeger unkorrekt verhalten hat?«

      In diesem Moment hatte Heidi die Macht, über die Zukunft ihres Freundes zu entscheiden. Sie wußte es. Wenn sie die Sache bagatellisierte, war alles erledigt. Aber Heidis Rachegelüste waren stärker als der Wille zur Wahrheit. Die junge Lehrerin sah in Seegers Verhalten eine Zurücksetzung ihrer Person, einen Treuebruch in ihrem Verhältnis zueinander. Das konnte und wollte sie nicht dulden. Jens hatte sich nicht an die Spielregeln gehalten, das mußte bestraft werden.

      »Leider wurde ich Zeuge einer Szene, die mich sehr empört hat. Schließlich geht es um das Ansehen unseres Berufsstandes.« Damit schlug sich Heidi Schumann auf die Seite des Schulleiters. »Wir dürfen nicht den geringsten Verdacht an unserer Korrektheit aufkommen lassen.«

      »Da bin ich voll und ganz Ihrer Ansicht, Frau Kollegin«, keuchte der Schulleiter, dem die Schweißperlen auf der Stirn standen. Für ihn war schon der Gedanke an eine solche Verfehlung ungeheuerlich. »Herr Seeger, Sie werden mir über den Vorfall berichten. Kommen Sie bitte sofort in mein Büro«, sagte er streng.

      Jens sah Heidi ernst an. »Ich hoffe, du bist zufrieden mit dem, was du gerade erreicht hast. Das war’s dann. Ich denke, wir werden uns kaum wiedersehen. Wünsche dir trotzdem alles Gute.«

      Steif ging Seeger hinter dem Schulleiter her. Er war sich keiner Schuld bewußt, und doch schämte er sich jetzt.

      *

      Im Zimmer der dritten Klasse herrschte der übliche Pausenlärm. Da wurde getobt, geschrien und gekämpft. Die Jungen mußten unbedingt ihre Kräfte messen, die Mädchen gingen einander nach und stiegen dabei über Tisch und Stühle. Dabei kicherten sie oder kreischten, je nach Temperament.

      Ein nasser Schwamm flog quer durch den Raum. Das Geschoß galt einem Mitschüler, landete aber an der Wand und hinterließ einen dunklen Fleck. Als Revanche flog ein Schülermäppchen zurück.

      In diesem Moment betrat Jens Seeger das Klassenzimmer. Das Etui traf ihn am Kopf. Stifte, Radiergummi und etwas Kleingeld kullerten ihm übers Gesicht. Jens fing die leere Hülle in Brusthöhe auf und legte sie auf den Tisch, der der Tür am nächsten war.

      Die Schüler spurteten inzwischen auf ihre Plätze. Dabei behinderten sie sich gegenseitig, was nicht ohne Stoßen und Puffen abging.

      Sekunden später standen sie alle ordentlich neben ihrem Stuhl und antworteten laut auf den Gruß des jungen Lehrers. Einige von ihnen waren vom Raufen noch etwas zerzaust, andere hatten rote, erhitzte Gesichter.

      Jens erwähnte das Geschoß, das ihn am Kopf traf, mit keinem Wort. Er wußte ja, daß es nicht ihm gegolten hatte.

      »Leider bin ich heute zum letzten Mal hier. Ich muß den Schuldienst vorerst aufgeben, das heißt, ich werde bis auf weiteres beurlaubt«, sagte er und ging dabei langsam durch die Tischreihen.

      Mäuschenstill war es jetzt in der dritten Klasse. Keiner der Schüler konnte glauben, was er eben gehört hatte.

      »Die Arbeit mit euch hat mir Spaß gemacht. Es tut mir leid, daß ich sie aufgeben muß. Ihr werdet einen Vertreter bekommen, der sicher auch gut mit euch auskommen wird.« Für Jens war es selbstverständlich, sich von seinen Schülern zu verabschieden, denn für ihn waren junge Menschen vollwertige Partner.

      »Buuuh«, schrie die Klasse. Einige Jungen steckten zwei Finger in den Mund und pfiffen unwillig und so laut, als befänden sie sich in einem Fußballstadion.

      Sabine, die Klassensprecherin war, stand auf und fragte mutig:

      »Was bedeutet das, beurlaubt? Kommst du wieder?« Manche Kinder, auch Sabine gehörte dazu, sprachen ihre Erzieher noch immer mit dem kameradschaftlichen Du an. Die meisten Lehrer korrigierten diese Anrede nachdrücklich. Jens tat das nicht. Es war immer sein Bestreben gewesen, ein Freund seiner Schüler zu sein, und Freunde duzte man.

      Die Klasse lauschte gespannt.

      Jens räusperte sich, denn ihm war, als habe er einen Kloß im Hals. »Vielleicht. Es kommt ganz darauf an, was die Untersuchung ergibt.« Jens hatte nicht viel Hoffnung. Man würde ihn nicht mehr haben wollen. Weder hier, noch an einer anderen Schule. So gesehen war er ein ausgesprochener Pechvogel.

      »Welche Untersuchung?« fragte Sabine clever. Sie war in ihrer Entwicklung weiter als die meisten ihrer Mitschüler, weshalb sich niemand gerne mit ihr anlegte.

      Jens beantwortete jede Frage wahrheitsgemäß. Auch das gehörte zu seinen Prinzipien. »Einem Lehrer sind im Umgang mit seinen Schülern sehr enge Grenzen gesetzt. Er darf sie nicht schlagen, aber er darf sie auch nicht streicheln. Das habe ich getan, als ich eine Schülerin trösten wollte. Nun entscheidet die Schulbehörde, ob das eine Verfehlung war.«

      »Gemein!« schallte es mehrstimmig aus der letzten Bank, Conny, die weiter vorne saß, bekam ein rotes Köpfchen. Sie erinnerte sich erschrocken daran, wie aufgebracht diese Frau war, die Jens Seeger ›Heidi‹ nannte.

      »Das war ich«, flüsterte Conny beschämt ihrer Banknachbarin zu.

      »Du mit deiner blöden Heulerei!« Sabine, die wieder auf ihrem Platz saß, funkelte Conny böse an.

      »Wir wollen aber nicht, daß Sie gehen«, meldete sich ein rothaariger Knirps. »Denn dann macht Frau Laufenburg Vertretung, und die ist ganz blöd.«

      »Das habe ich nicht gehört.« Heimlich gab Jens dem Kleinen recht, offiziell durfte er es nicht.

      »Aber den Sportunterricht machst du doch noch, oder?« Gleich mehrere Mädchen stellten diese Frage.

      »Nein, ich darf die Schule nicht mehr betreten.«

      »Und wer bringt uns dann Spagat bei?«

      »Es ist jeder Mensch zu ersetzen. In ein paar Wochen habt ihr mich vergessen.« Jens lächelte wehmütig. Ein guter Pädagoge hatte er sein wollen, nun sah man ihn als Verbrecher an.

      »Nie!« riefen die Kinder im Chor. Einige von ihnen sprangen auf. »Kann man denn gar nichts machen?«

      »Nein. Reden wir lieber noch über die Vögel. Das ist viel erfreulicher.« Jens verstand es, die Klasse abzulenken. Seine letzte Schulstunde in der dritten Klasse verlief nach Unterrichtsplan. Beim Läuten winkte Jens seinen Schülern

      zu und verschwand im Lehrerzimmer.

      Die meisten Buben und Mäd-chen der dritten Klasse standen danach protestierend vor diesem Raum, doch niemand interessierte sich für ihre Aufregung.

      Conny und Sabine waren auf ihren Plätzen geblieben. »Warum?« fragte die Schüchternere der beiden ihre Freundin. »Warum darf er nicht nett zu mir sein? Ich war so froh, daß ich ihm alles erzählen konnte.«

      »Bist du zurückgeblieben«, kritisierte Sabine altklug. »Das wird ihm doch als Kindesmißbrauch ausgelegt. Ganz klar.«

      »Was ist das?« Conny zog die noch kindlich gerundete Stirn in viele Falten.

      »Das weißt du nicht? Darüber wird doch fast jeden Tag im Fernsehen geredet. »Das ist, wenn Lehrer Sex mit Kindern haben.«

      »Sex?«

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