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href="#ulink_ac566e21-25a5-5069-b367-c7da3e1fb9df">[B] Plastuns hießen die am östlichen Ufer des Schwarzen Meeres und am Kuban lebenden Kosaken.

      Es ist sogar leicht möglich, daß der Marineoffizier aus Eitelkeit oder nur so, um sich ein Vergnügen zu machen, in unserer Gegenwart ein wenig schießen lassen will. »Den Kommandor herschicken, Bedienungsmannschaft ans Geschütz!« – und an vierzehn Mann Matrosen, der eine seine Pfeife in die Tasche steckend, der andere Zwieback kauend, gehen frisch und munter, mit den beschlagenen Stiefeln auf der Plattform laut auftretend, an die Kanone und laden sie. Wir betrachten die Züge, die Haltung und die Bewegung dieser Leute: in jeder Falte dieses verbrannten Gesichts mit den starken Backenknochen, in jeder Muskel, in diesen breiten Schultern, in diesen kräftigen Beinen, die in gewaltigen Stiefeln stecken, in jeder dieser ruhigen, sicheren, langsamen Bewegungen erkennt man die Hauptcharakterzüge, die die Kraft des Russen ausmachen – Schlichtheit und Festigkeit; aber hier, dünkt uns, hat die Gefahr, der Zorn und die Leiden des Krieges jedem Gesicht außer diesen Hauptzügen noch die Spuren des Bewußtseins des eigenen Wertes, erhabenen Denkens und Empfindens eingeprägt.

      Plötzlich überrascht uns ein schrecklicher, nicht nur unser Gehör, sondern unseren ganzen Organismus erschütternder Knall, so daß wir am ganzen Leibe erzittern. Gleich darauf hören wir, wie das Geschoß sich pfeifend entfernt, und dichter Pulverdampf hüllt uns, die Plattform und die schwarzen Gestalten der hin- und hergehenden Matrosen ein. Wir hören verschiedene Gespräche der Matrosen über diesen Schuß. Wir sehen, wie sie lebhaft werden und ein Gefühl offenbaren, das wir kaum erwartet hätten – das Gefühl der Wut, der Rache am Feinde, das in der Seele eines jeden verborgen ruht. »Gerade in die Schießscharte hat es getroffen; wie es scheint, sind zwei gefallen ... dort trägt man sie heraus,« hören wir freudig ausrufen. »Sieh, er ärgert sich, – gleich wird er hierher schießen,« sagt jemand, und wirklich sehen wir bald darauf Blitz und Rauch vor uns; der auf der Brustwehr stehende Posten schreit: »Kano–one!« und gleich darauf kommt eine Kanonenkugel an uns vorbeigeflogen, schlägt auf die Erde auf und wirft, sich trichterförmig einbohrend, Steine und Erdstücke um sich. Der Batteriechef, ärgerlich wegen dieser Kugel, befiehlt ein zweites und drittes Geschütz zu laden, – der Feind beginnt uns zu antworten, und wir durchleben interessante Empfindungen, hören und sehen interessante Dinge. Der Posten schreit wiederum: »Kanone!« und wir hören denselben Ton und Schlag, sehen dieselben Erdstücke; oder er schreit: »Mörser!« – und wir hören ein gleichmäßiges, ziemlich angenehmes Pfeifen der Bombe, mit dem man nur mühsam den Gedanken an etwas Furchtbares in Verbindung bringt, wir hören das Pfeifen, das sich uns nähert und sich beschleunigt, dann sehen wir eine schwarze Kugel, ihr Aufschlagen auf die Erde und das von einem starken Krach begleitete Platzen der Bombe. Mit Pfeifen und Zischen fliegen dann die Splitter umher, schwirren Steine durch die Luft und wir werden mit Schmutz beworfen. Bei diesen Tönen empfinden wir ein sonderbares Gefühl, gemischt aus Angst und Genuß. In dem Augenblicke, wo das Geschoß auf uns zufliegt, schießt uns unbedingt der Gedanke durch den Kopf, daß es uns tötet; aber das Gefühl der Eigenliebe stachelt uns, und niemand bemerkt das Messer, das uns ins Fleisch schneidet. Dafür aber leben wir, wenn das Geschoß vorübergeflogen ist, ohne uns zu streifen, wieder auf, und ein erquickendes, unsagbar angenehmes Gefühl kommt, wenn auch nur einen Augenblick, über uns, so daß wir an der Gefahr, an diesem Spiel um Leben und Tod einen besonderen Genuß finden; wir wünschen, es möchten noch näher und näher bei uns Kugeln oder Bomben niederfallen. Da schreit der Posten noch einmal mit seiner lauten, tiefen Stimme: »Mörser!« – wiederum ertönt das Pfeifen, Aufschlagen und Platzen der Bombe, aber zugleich mit diesem Ton erschreckt uns das Stöhnen eines Menschen. Wir gehen zu gleicher Zeit mit den Trägern zu dem Verwundeten heran, der blutig und beschmutzt ein seltsames, nicht menschliches Aussehen hat. Einem Matrosen ist ein Teil der Brust fortgerissen worden. In dem ersten Augenblick ist in seinem mit Schmutz bespritzten Gesicht nur Schreck und ein unechter, vorzeitiger Ausdruck von Leiden zu lesen, wie er einem Menschen in solcher Lage eigen ist; aber in dem Augenblick, wo man ihm die Tragbahre bringt, und er sich selbst mit seiner gesunden Seite darauf legt, bemerken wir, daß dieser Ausdruck sich in den Ausdruck einer gewissen Begeisterung und eines erhabenen, unausgesprochenen Gedankens verwandelt: die Augen leuchten heller, die Zähne pressen sich aufeinander, der Kopf richtet sich mit Anstrengung in die Höhe und in dem Augenblick, wo man ihn aufhebt, hält er die Bahre an und spricht mühsam mit zitternder Stimme zu den Kameraden: »Lebt wohl, Brüder!« – er will noch etwas sagen, man sieht, er will etwas Rührendes sagen, aber er wiederholt noch einmal: »Lebt wohl, Brüder!« Da geht ein Kamerad, ein Matrose, zu ihm, setzt ihm die Mütze auf den Kopf, den ihm der Verwundete hinhält, und kehrt ruhig, gleichmäßig die Arme schwenkend, zu seinem Geschütz zurück. »So ist es jeden Tag – sieben oder acht Mann,« sagt uns der Marineoffizier, indem er uns antwortet auf den Ausdruck des Entsetzens, das aus unsern Zügen spricht, und dabei gähnt und aus gelbem Papier eine Cigarette dreht.

      So haben wir die Verteidiger Sewastopols an dem Orte der Verteidigung selber gesehen und gehen zurück, ohne den Kanonen- und Gewehrkugeln, die den ganzen Weg entlang bis zu dem niedergeschossenen Theater hin pfeifen, Beachtung zu schenken, – wir gehen mit ruhiger, erhobener Seele. Die hauptsächliche, tröstliche Überzeugung, die wir davontragen, ist die Überzeugung von der Unmöglichkeit, die Kraft des russischen Volkes an irgend einem Punkte zu erschüttern. Und diese Unmöglichkeit haben wir nicht in der Menge der Quergänge, der Brustwehren, der kunstvoll gezogenen Laufgräben, der Minengänge und Geschosse, die übereinander getürmt sind, gesehen, wovon wir nichts verstanden haben, nein, wir haben sie in dem Blick, in der Rede, in dem Gebahren gesehen, in dem, was man den Geist der Verteidiger Sewastopols nennt. Was sie thun, thun sie so schlicht, so ohne Anspannung und Anstrengung, daß wir die Überzeugung gewinnen, sie können noch hundertmal mehr – sie können alles. Wir begreifen, daß das Gefühl, das sie schaffen heißt, nicht das Gefühl der Kleinlichkeit, der Eitelkeit, der Unbedachtsamkeit ist, das wir selbst empfunden haben, sondern ein anderes Gefühl, ein gewaltigeres, das sie zu Menschen gemacht hat, die ebenso ruhig unter dem Regen der Kugeln leben, unter hundert Möglichkeiten des Todes anstatt der einen, der diese Menschen alle unterworfen sind, und die unter diesen Bedingungen leben mitten in ununterbrochener Arbeit, in Wachen und Schmutz. Um eines Ordens willen, um eines Titels willen, um des Zwanges willen können Menschen sich so entsetzlichen Lebensbedingungen nicht fügen: es muß eine andere, eine erhabenere Triebfeder sein. Und diese Triebfeder ist ein Gefühl, das selten, verschämt bei dem Russen in die Erscheinung tritt, das aber auf dem Grunde der Seele eines jeden ruht – die Liebe zum Vaterland. Erst jetzt sind uns die Erzählungen von den ersten Zeiten der Belagerung Sewastopols, da es noch keine Befestigungen, keine Armee hatte, da es physisch unmöglich war, es zu halten, und doch nicht der mindeste Zweifel bestand, daß es sich dem Feinde nicht ergeben würde, glaubhaft geworden, – die Erzählungen von den Zeiten, da Kornilow, dieser des alten Griechenlands würdige Held, bei einer Musterung der Truppen sprach: »Wir wollen sterben, Kinder, aber Sewastopol nicht übergeben,« und unsere Russen, die kein Talent zur Phrasenmacherei haben, antworteten: »Wir wollen sterben! Urra!« – erst jetzt haben die Erzählungen aus jener Zeit aufgehört, für uns eine schöne geschichtliche Überlieferung zu sein, und sind zur Wahrheit, zur Thatsache geworden. Wir verstehen klar und würdigen die Menschen, die wir soeben gesehen, als die Helden, die in jener schweren Zeit den Mut nicht sinken ließen, sondern steigerten, und die freudig in den Tod gegangen sind, nicht für die Stadt, sondern für das Vaterland. Lange wird in Rußland diese Epopöe von Sewastopol, deren Held das russische Volk war, tiefe Spuren zurücklassen ...

      Der Tag neigt sich schon. Die Sonne ist vor ihrem Untergange aus den grauen Wolken hervorgetreten, die den Himmel bedecken, und beleuchtet plötzlich mit purpurnem Licht: lilafarbene Wolken, das mit Schiffen und Böten bedeckte, gleichmäßig wogende grünliche Meer, die weißen Häuser der Stadt und die in den Straßen wogenden Menschen. Über das Wasser tönen die Klänge eines alten Walzers, den die Regimentsmusik auf dem Boulevard spielt, und der Schall der Geschosse von den Bastionen, der sie seltsam begleitet.

      Sewastopol, den 25. April 1885.

      

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