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Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke von Gottfried Keller
Год выпуска 0
isbn 9788027225873
Автор произведения Готфрид Келлер
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Graf sah seine Tochter etwas überrascht an, auch schaute er sich um und sagte verwundert »Ich dächte, wir wollten essen? und wo hast du denn decken lassen?« – »Ich habe heute im Rittersaal decken lassen«, sagte sie, »wir haben so lange nicht da gegessen, und der Herr grüne Heinrich kann sich da am besten orientieren, bei wem er eigentlich ist, wir haben uns, die wir ihn nun schon mehr kennen, ihm eigentlich noch gar nicht vorgestellt, und kaum weiß er, wie wir heißen!«
Der Graf, welcher nicht wußte, was sie im Schilde führen mochte, ließ sie gewähren, und so begab man sich durch einige Gänge des weitläufigen Hauses nach einem langen, etwas düstern Saal. Dieser war von unten bis oben mit Ahnenbildern angefüllt, fast durchgängig schöne Männer und Frauen in allen Lebensaltern, die, der Tracht und der Kunst nach zu urteilen, bis zum Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts hinaufreichten. Von da ab waren aber noch wohl drei Jahrhundert dargestellt in Waffen, silbernen Geschirren, Hauschroniken in allerhand Pergamentbänden, altertümlichen Urkundenschränken und Kuriositäten aller Art, welche sämtlich mit Daten, Wappen und deutlichen Merkmalen versehen waren. Die Fenster waren zum größten Teil mit gemalten Scheiben bedeckt, auf welchen allen das Wappen des Hauses mit demjenigen der eingeheirateten Frauen verbunden über biblischen Handlungen und Legenden schwebte. Auch war darin das Hauswappen in allen seinen Wandlungen, von seiner ersten kriegerischen Einfachheit bis zu seiner letzten Vermehrung und Zusammensetzung, zu sehen. Der Boden des Saales war ganz mit hochrotem Tuche bedeckt, was zu den dunklen alten Möbeln und Bilderrahmen prächtig und romantisch abstach, während die Tritte der Gehenden nur leise darauf ertönten; in dem Kamin von schwarzem Marmor glühten große Eichenklötze, und da das Gemach der langen Verschlossenheit wegen durchräuchert worden, erhöhte der feine Duft noch die Feierlichkeit und Vornehmheit dieses Aufenthaltes.
»Ich habe«, sagte der Graf, »meinen ganzen Familienkram hier auf einen Punkt aufgestapelt, da dergleichen auch sein Recht will und sich nicht so leicht entäußern läßt, als man glauben möchte. Sehen Sie sich ein wenig um, es sind manche hübsche Sachen darunter!«
Heinrich sah sich lebhaft um und bezeugte große Freude über die vielen wertvollen Stücke und über das Merkwürdige, was hier aufgehäuft war; unter den Bildern waren manche von den besten Meistern der verschiedenen Zeiten und Orte, wo die alten Herren auf ihren Zügen und Gesandtschaften sich umgetrieben. Andere, wenn auch von dunkleren örtlichen Pinselieren gemalt, machten sich durch ihren charaktervollen Gegenstand und dessen Schicksal geltend, das ihnen auf der Stirne stand; vorzüglich aber gefielen ihm die vielen feineren oder keckeren Kindergesichter, welche gleich den Blüten an diesem großen Baume zwischen den reifen Früchten überall hervorlächelten, deren Schicksal, dessen Beginn und Morgenrot hier für immer festgehalten schien, nun auch seit Jahrhunderten erfüllt und in die Erde gelegt war oder gar nicht zur Erfüllung gekommen, da ein Kreuz oder ein denatus ansagte, daß sie als Blüten schon vom Baume geweht worden. Manches gemalte Schwert und Panzerstück war im gleichen Saale auch in Wirklichkeit vorhanden, und der Graf hielt ihm die schweren Stücke mit leichter und kundiger Hand vor, indessen Heinrich sie auch nicht wie ein Mädchen ihm abnahm, da ihm die Waffenfähigkeit und – liebhaberei seines Geburtslandes in den Fingern steckte. Dorothea hingegen bewegte sich rasch und gefällig herum, stieg auf Schemel und Tritte, um einen alten silbernen Becher oder ein Kästchen herabzuholen, und wies und erklärte die Sachen mit freundlicher, aber fast mitleidiger Höflichkeit, was indessen Heinrich, der vollauf mit dem Beschauen der Gegenstände beschäftigt war, nicht bemerkte, sondern nur als einen angenehmen Eindruck zu dem übrigen empfand, ohne darauf zu achten. Erst als sie sich zu Tische setzten und man sich gegenübersaß, wo Dorothea, die den Männern vorlegte, mit noch erhöhter vornehmer Freundlichkeit und Herablassung den Gast nach seinen Wünschen und Bedürfnissen fragte, fiel ihm dies Wesen auf, das ihm gestern gar nicht vorhanden geschienen. Es gefiel ihm aber gar wohl, da er geneigt war, solchen schönen Geschöpfen nichts übelzunehmen, wenn sie nicht gerade zu herzlos waren, und um sie darin zu bestärken und ihr einen Gefallen zu tun, sagte er »Solche Anschaulichkeit und Durchsichtigkeit einer langen Vergangenheit sind doch eine Art von Concretum, das sich nicht willkürlich vergessen und verwischen läßt. Wenn es einmal da ist, so ist es da, und man kann sich nicht verhindern, an dem Vorhandenen seine Freude zu haben!«
»Gewiß«, erwiderte der Graf, »nur ist es töricht, willkürlich fortsetzen und machen zu wollen, was unter ganz anderen Verhältnissen und Bedingungen geworden ist. Desnahen nenne ich mich auch ungeniert noch von soundso, weil diese Landschaft so heißt und nicht meine Person, welche kein Berg, sondern ein Mensch ist. Schon weil seltenerweise das Grundstück nie aus unserm Besitz gekommen ist und fortwährend welche von uns hier gewohnt haben in grader Linie, so erfordert eine gewisse Dankbarkeit gegen diese Erscheinung, daß man ihr die Ehre gebe. Ich selbst habe eine bürgerliche Frau genommen, welche früh gestorben ist und mir keinen Erben hinterließ; ich habe sie so geliebt, daß es mir nicht möglich war, wieder zu heiraten, und wenn es nicht zu seltsam klänge, so wäre ich fast froh, keinen Sohn zu hinterlassen; denn wenn ich mir denken müßte, daß diese Familiengeschichte noch einmal achthundert Jahre fortdauern könnte oder wollte, so würde mir dieser Gedanke Kopfschmerzen machen, da es Zeit ist, daß wir wieder untertauchen in die erneuende Verborgenheit. Ich selbst bin im Verfall des alten Reiches geboren und eigentlich schon ganz überflüssig, so daß sich unser Stamm müde fühlt in mir und nach kräftigender Dunkelheit sehnt. Wenn ich einen Sohn hätte, so würde ich auch Besitz und Stamm gewaltsam aufgegeben haben und dahin gezogen sein, wo kein Herkommen gilt und jeder von vorn anfangen muß, damit das Leibliche der Linie gerettet werde und ferner nütze und genieße, da dieses am Ende die Hauptsache ist.«
Heinrich freute sich dieser Reden und fühlte sich durch sie geehrt. »Ist jene stolze schöne Dame, welche dazumal das Hündchen auf den Tisch setzte, vielleicht Ihre Gemahlin gewesen?« fragte er mit höflicher Teilnahme.
»Nein«, sagte der Graf lachend, »das ist meine Schwester; die lebt als Gattin eines alten Edelmannes vom stolzesten Geblüte tief in Polen und ist ganz verbauert; auch hat sie zur Strafe für ihre Narrheiten schon vier Jahre in Sibirien zubringen müssen mit ihrem Eheherrn. Übrigens ist es eine ganz gute und liebe Dame, und wenn ich sterbe, so werde ich diesen ganzen Trödel hier zusammenpacken lassen und ihr zuschicken; vielleicht, wenn es gut geht, rutscht er mit der Zeit weiter ostwärts wieder nach Asien hinüber, woher unsere Urväter gekommen sind, und findet da ein gemütliches Grab!«
Dorothea, welche sah, daß ihrem Gaste diese Reden sehr behagten, aber selbst in ihrem Hochmut verharrte, sagte nun in der alten, halb teilnehmenden, halb gleichgültigen, ja sogar fast mokanten Weise zu ihm »Sie scheinen aber auch von einer Art guter Herkunft zu sein, Herr Lee? wenigstens freuen Sie sich am Anfang Ihres hübschen Buches Ihrer wackeren bürgertichen Eltern?«
»Allerdings«, sagte Heinrich, dem diese Frage in diesem Augenblick etwas überquer kam, errötend, »bin ich auch nicht auf der Straße gefunden!«
Da klatschte sie plötzlich jubelnd in die Hände, indem sie wieder ihre gestrige offene und natürliche Art annahm, und rief fröhlich »Nun hab ich Sie doch gefangen! Aber ich bin auf der Straße gefunden, wie Sie mich da sehen!«
Heinrich sah sie verblüfft an und wußte nicht, was das heißen sollte, indessen sie fortfuhr, sich zu freuen, und rief »Sehen Sie, nun konnt ich Sie doch noch verblüfft machen, der sich von diesen Herrlichkeiten so gar nicht verblüffen ließ! Ja, ja, mein gestrenger Herr von braver Abkunft, ich bin das richtigste Findelkind und heiße mit Namen Dortchen Schönfund und nicht anders, so hat mich mein lieber Pflegepapa getauft!«
Heinrich sah den Grafen verwundert an, und dieser lachte und sagte »Ei, ist dies also nun das Ziel deines Witzes? Wir mußten nämlich gestern abend lachen, lieber Freund! als wir Ihre Worte lasen wenn Sie sich selbst bei der Nase fassen, so seien Sie sattsam überzeugt, daß Sie zweiunddreißig Ahnen besäßen! Als wir aber dann die ganz gesunde Freude lasen, welche Sie doch äußern, so ehrliche Eltern zu besitzen, und wie Sie sich doch nicht enthalten können, über die