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Tiefe der Erinnerung entgegendämmerte, wie die Türme der versunkenen Julin dem Schiffer auf dem Haff, und der ich jetzt nach so langen Jahren wieder entgegenfuhr. Ich dachte an die Genossen, die ich hinter mir zurückgelassen hatte; ich dachte an die tote Mutter – für die ich meine Liebe allein, für die ich meinen Schmerz allein gehabt hatte! Das Kind neben mir schlug plötzlich die Augen auf, richtete sich empor und warf verwunderte, schlaftrunkene Blicke auf die ungewohnte Umgebung.

      »Wachst du, Helene?« fragte die Mutter. »Nun sind wir bald zu Hause!«

      Die Jungfrau hob den Schleier ein wenig und legte die Hand an die Stirn; der alte Herr erwähnte schnarchend das Wort »Diskonto«.

      Zu Hause! Jeder aufblitzende Lichtstrahl aus einem Hüttenfenster auf der nebeligen Heide erfüllte mich mit einem Gefühl der Verödung, der Vereinsamung. Zu Hause! Wo ist mein Haus? Wo ist meine Heimat? … Mein Blick verlor sich in dem dichter gewordenen Nebel draußen. Der Zug flog in diesem Augenblick über ein altes Schlachtfeld, wo vor langen Jahren um Langvergessenes Tausende und aber Tausende geblutet hatten. Es schien mir, als ob die wogenden, wallenden Dunstmassen sich in kämpfende Männer und Rosse verwandelten, zum Kampfe um ein zerfließendes Nichts. Im wilden, geisterhaften Getümmel drängte sich ein Chaos phantastischer Gestalten auf beiden Seiten des dahinschießenden Dampfrosses, zerschellte an den Rädern, ballte sich von neuem, wirbelte von neuem gespensterhaft durcheinander.

      Auch ich kam ja aus einer Schlacht, wilder als je eine mit Waffen von Stahl und Eisen gekämpft wurde. Wie manchen hatte ich an meiner Seite fallen sehen, wie manchen hatte ich auf dem Schild mit heraustragen helfen aus dem Getümmel

       – at socii miulto gemitu lacrimisque Impositum scuto referunt –

      Ich wickelte mich, fröstelnd, dichter in meinen Mantel. Da ertönte das schrille Pfeifen der Maschine – wir hatten die berühmte Festungsstadt *** erreicht; über die unendlichen Brücken, an den hohen Bollwerken, den Mauern und Brustwehren hin donnerte der Zug – ein neues Pfeifen der Maschine! Meine Mitreisenden rüsteten sich zum Aussteigen, indem sie sich aus ihren Fußsäcken und Decken loswanden, ihre Reisetaschen und Körbe zusammensuchten.

      Der Zug hielt; die unbehagliche Lebendigkeit eines solchen Anhaltepunktes in der Nacht drang auf uns ein.

      »Der wird sich wundern!« sagte der alte Herr grimmig. »Glückliche Reise, Herr!«

      »Der Papa! der Papa!« rief jubelnd das Kind.

      »Der Papa!« wiederholte freudig die Mutter.

      Die Jungfrau ließ den gehobenen Schleier wieder sinken und schlüpfte zuerst aus dem Wagen. Der alte Herr folgte ihr schwerfällig und mühsam; dann gab ich dem harrenden Vater die kleine Helene in die Arme, die Mutter warf mir einen dankenden Blick zu und wünschte mir ebenfalls glückliche Reise; – neue Gesichter drängten sich ein – Lärm und Getöse der Abfahrt – – – ich zog den Hut wieder über die Augen, ohne mir die Mühe zu geben, meine neuen Reisegefährten zu betrachten, und verschlief glücklich einen großen Teil der folgenden Stunden. Als ich wieder erwachte, fand ich mich allein im Wagen, und die Landschaft hatte nun einen vollständig anderen Charakter angenommen. Die Wälder waren auf beiden Seiten der Bahn so nahe gerückt, daß die kahlen Zweige der Bäume den vorüberfliegenden Zug fast zu streifen schienen. Das Terrain war hügelig, bergig geworden: die weite Ebene lag hinter mir, in dieser Ebene die große Stadt, welche ich verlassen hatte, und in dieser Stadt mein teurer Freund Weitenweber, der in diesem Augenblick höchst wahrscheinlich im Opernhause saß, das Kinn auf seinen Stab gestützt, vollständig unfähig, einen Walzer von einer Symphonie zu unterscheiden; sehr befähigt aber, über beides eine »eingehende und durchdachte« Kritik abzugeben. Ein Duft wie feuchte, frisch abgezogene Zeitungsbogen kitzelte meine Nase – abermaliges schrillendes Pfeifen der Maschine –

      » Station Sauingen!« schrie der Schaffner, die Wagentür aufreißend.

      Hier mußte ich die Eisenbahn verlassen, um vermittelst anderer Beförderungsmittel über die Berge im Westen Finkenrode zu erreichen. Halb erfroren, mit eingeschlafenem linken Bein stand ich in der Geisterstunde vor dem ziemlich primitiven Bahngebäude, der einzige Reisende, der an diesem Ort den Zug verließ. Eine schwächlich glimmende Laterne, an einer langen Stange schwankend, half mir nur wenig, mich zu orientieren: hochaufgeschichtete Berge von Tannenbrettern versperrten nach allen Seiten hin die Aussicht, das wilde Volk der Eingeborenen schlief den Schlaf gemütlicher Unkultur.

      Meine Bücher zu rezensieren, hat Weitenweber der Gütige stets von sich gewiesen, um meine Freundschaft zu behalten: meine feine Nase für einzelne Lebensgenüsse hat er dagegen öfters lobend erwähnt, wenn auch nicht Schwarz auf Weiß. Nach einigen Augenblicken ratlosen Umherstarrens, nach einigem Stolpern über allerhand Unebenheiten und Gefährlichkeiten des Bodens, hatte mich die tiefinnige Sehnsucht nach irgendeinem heißen Getränke vor einen hölzernen Verschlag geführt, hinter welchem ein schlaftrunkenes, menschenähnliches, weibliches Individuum sich meine Fragen mehrere Male wiederholen ließ, ehe es sich soweit ermuntert hatte, um Rede und Antwort geben zu können.

      » Finkenrode? Vier Stunden von hier! Spät in der Nacht – werden kein Fuhrwerk mehr bekommen – täten besser, hier zu bleiben! Wirtshaus im Ort – goldener Hahn. – Fünf Groschen der Grog! … Nach Finkenrode morgen früh um sieben Uhr die Post!« …

      Ein schäbiger, gelber, zweifelhafter Köter, der mich schon beim Eintritt einer genauen Untersuchung gewürdigt hatte, fing jetzt an, sich auf sehr verdächtige Weise mit dem, auf meinen Reisesack gewirkten, auf rotem Kissen ruhenden Spitz zu beschäftigen. Er beschnüffelte ihn mit ausgestreckter Schnauze, verächtlich drehte er sich, als ihn ein Tritt belehrte, das Eigentum deutscher Literatur zu respektieren. Heulend flog die Bestie mit eingeklemmtem Schwanz in den fernsten Winkel, und ich – ich – ich stand plötzlich im tiefsten Dunkel!

      »Für ein Glas Grog lassen wir unsere Hunde nicht treten – machen der Herr, daß Sie fortkommen! Es ist spät in der Nacht!« kreischte die Stimme des Weibes aus der urplötzlich und urhämisch hervorgebrachten Dunkelheit.

      »Aber, meine Beste, der Köter« –

      »Komm, Fido, mein Herzchen, wir gehen zu Bett!«

      »Aber so zünden Sie wenigstens doch das Licht wieder an, daß ich das Beschwerdebuch finden kann!«

      »Der Herr können sich morgen beschweren. Der letzte Zug ist längst abgefahren. Die Restauration hat das Recht, schon längst geschlossen zu sein. Hinter Ihnen ist die Tür!«

      Was war gegen die diabolische Rachgier des Ewig-Weiblichen zu machen? Ich rief alle Stoik Weitenwebers zu Hülfe, suchte ein Schwefelholz hervor, rekognoszierte während seines Aufflammens das ungastliche Terrain und fand mich wieder draußen in der kalten Novembernacht, in dem Augenblicke, als das letzte Stückchen der Mondscheibe hinter den Horizont hinabsank. Hinter mir fiel die Tür klirrend ins Schloß, und der Riegel schob sich kreischend vor. Das Triumphgeheul des höllischen Köters schallte noch einige Zeit hinter den eichenen Bohlen, dann ward es still drinnen – still war es draußen! Keine Menschenseele rührte oder zeigte sich auf der Station Sauingen; der Lichtschein aus dem fernen ersten Wächterhäuschen der Bahn war das einzige freundliche Zeichen in der jetzt so dunkeln Nacht. Ein unheimlich kalter Wind pfiff von den Bergen herüber, und ärgerlich raffte ich meine Lebensgeister zusammen, schulterte meinen Reisesack und verließ den freundlichen Bahnhof, den dunklen Schattenmassen zuwandelnd, welche der Flecken Sauingen sein konnten.

      »O ihr führenden Mächte des Himmels« – sandte ich mein Stoßgebet empor – »ich verlange gar nicht, daß ihr einen Engel herabsendet, mich unter Dach und Fach zu bringen; führt mir nur einen Nachtwächter dieser Planetenstelle in den Weg, irgendeinen Sauinger Lovelace, Don Juan oder sonstigen Taugenichts! Ihr seligen Mächte des Himmels, was habt ihr von dem kurzen Spaße, einen Literaten erfrieren zu lassen! Zeigt mir den Hahnen, und ich will euch das schönste Exemplar dieser Tiergattung opfern, welches ich auf dem Geflügelhofe meines verewigten Oheims finden werde!«

      Mehr rutschend als gehend gelangte ich durch eine sehr abschüssige, aber ziemlich breite Gasse auf einen freien Platz – den Markt von Sauingen, und hier sandten mir die Götter das, was ich von ihnen erfleht

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