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gleich dein Taschentuch verlieren!‹

      oder:

      ›Wimmer, renne nicht so mit dem Vater. Wir kommen halt nicht mit!‹

      oder:

      ›Wimmer, Stulp hat nur noch deinen Stock!‹

      Dann dreht sich der Doktor gravitätisch um, wirft einen Feldherrnblick über den langsam daherziehenden Heereszug, pustet und fächelt, knöpft die Weste auf, bindet das Halstuch ab oder zieht wohl gar den Rock aus und sagt:

      ›Schatz, das Spazierengehen müssen wir aufstecken. Beim Zeus, es wird zu angreifend für unsereinen! – Stulp, Schlingel, hol meinen Hut – dort, allons!‹

      Während nun der Zug so lange hält, bis Stulp mit dem Verlorenen zurückkommt, sagt der Alte wohl:

      ›Heinerich, paß auf, das neue Komplimentierbuch geht nicht!‹

      ›Weshalb nicht, Papa?‹

      ›Wir sind hierzulande nicht recht dran gewöhnt!‹ lautet die Antwort.

      ›Das weiß ich schon aus den Nibelungen und dem Parzival‹, sagt der Doktor, eine gewaltige Rauchwolke auspuffend. ›Es soll aber schon ›gehen‹, Onkel und Schwiegerpapa Pümpel! Das Ungewohnte und Ungewöhnliche macht am meisten Glück. Fritzl, laß den Frosch in Ruhe, setz ihn wieder ins Gras, sonst kriegst du ihn gebraten zum Abendessen, was keinem jungen Bayern angenehm sein kann! – Vorwärts! Yankee doodle doodle dandy!‹ Damit setzt sich das Haus Pümpel & Komp. wieder in Marsch.«

      Ich lachte herzlich über diese Schilderung. »Es wachse, blühe und grüne das Haus Pümpel & Kompanie wie – wie – –«

      »Hopfen! – Vivat hoch!« schrie der Zeichner, nahm den Hut und trabte wieder davon. Wo er gesessen hatte, stand ein kleiner Sumpf Regenwasser: einen Schirm brauchte ich ihm also nicht anzubieten.

      Abends 11 Uhr.

      Wie traurig hat dieser Tag geendet! Ich wollte die Geschichte der armen Tänzerin über mir, die wir einst auf den Weihnachtsmarkt begleiteten, nicht erzählen aus Furcht, diesem Bilderbuch eine dunkle Seite mehr zu schaffen; aber die unsichtbare Hand, welche die gewaltigen Blätter des Buches Welt und Leben eins nach dem andern umwendet, mit ihren zertretenen Generationen, gemordeten Völkern und gestorbenen Individuen, will es anders als der kleine nachzeichnende Mensch. Dunkel wird doch dieses Blatt, dunkel – wie der Tod!

      »Herr Wachholder«, sagte die Frau Anna Werner, die um neun Uhr abends an meiner Tür klopfte. »Herr Wachholder, das Kind der Tänzerin stirbt in dieser Nacht! Der Doktor Ehrhard, der eben oben ist, hat’s gesagt. Ist’s nicht schrecklich, daß die Mutter in diesem Augenblick tanzen muß? Sie haben ihr nicht erlauben wollen, die schlechten Menschen, wegzubleiben diesen Abend: es wäre heute der Geburtstag der Königin, sie müsse tanzen!«

      Arme, arme Mutter! Ein hübscher, leichtsinniger Schmetterling gaukeltest du, bis die Verführung kam und siegte. Verlassen, verspottet, suchtest du dein Glück nur in den Augen, in dem Lächeln deines Kindes, und jetzt nimmt dir der Tod auch das!

      Arme, arme Mutter! Mit geschminkten Wangen und den Tod im Herzen zu tanzen! Du hörst nicht die tausend jubelnden Stimmen der Menge, du hörst nicht die rauschende Musik: das Ächzen des winzigen, sterbenden Wesens in der fernen Dachstube übertönt alles. – Ich steige die enge, dunkle Treppe hinauf, die zu der Wohnung der Tänzerin führt. Frau Anna und der gute, alte Doktor Ehrhard sitzen an dem Bettchen des kranken Kindes. Eine verdeckte Lampe wirft ein trübes Licht über das kleine Zimmerchen; hier und da liegt auf den Stühlen phantastischer Putz, eine schwarze Halbmaske unter den Arzneigläsern auf dem Tische. Der Doktor legt das Ohr dem Knaben auf die Brust und lauscht den schweren, ängstlichen Atemzügen; ich stehe am Fenster und horche in die Nacht hinaus. Der Regen schlägt noch immer gegen die Scheiben; aus einem Tanzlokal der niedrigsten Volksklasse dringen die schrillen, schneidenden Töne einer Geige bis hier herauf. – Jetzt zieht der Doktor die Uhr hervor und sagt leise und ernst:

      »Sie muß sich beeilen!«

      Das Kind stöhnt in seinem unruhigen Schlaf; die Hand des Todes drückt schwer und schwerer auf das kleine unwissende Herz, dem sich gleich ein Geheimnis enthüllen wird, vor welchem alle Weisheit der Erde ratlos steht.

      Auf der Sophienkirche schlägt es dumpf zehn. Der Wind macht sich plötzlich auf und rüttelt an den schlechtverwahrten Fenstern. Die Februarnacht wird immer unheimlicher und düsterer.

      Unter Blumenkränzen sich verneigend, steht jetzt im Theater die große, berühmte Künstlerin, die Menge jubelt und klatscht Beifall; der König, die Königin, das Publikum haben sich erhoben – der schwere, goldbesternte Vorhang rollt langsam nieder. Die bleiche Königin ist müde in ihren Wagen gestiegen; die große Künstlerin nimmt die Glückwünsche und Schmeicheleien der sie Umgebenden in Empfang; leer wird das eben noch so menschengefüllte Opernhaus, und – die arme Choristin ist halb bewußtlos an einer Kulisse zu Boden gesunken, um, wie aus wildem Traume zu noch wilderer Wirklichkeit erwachend, mit dem herzzerreißenden Schrei: »Mein Kind, mein Kind!« fortzustürzen. – Wir in dem kleinen Dachstübchen haben das nicht gesehen, nicht gehört, aber jeder kürzer werdende Atemzug des sterbenden Kindes sagte uns, was dort in dem lichterglänzenden, musikerfüllten Gebäude am andern Ende der großen Stadt geschehe.

      Horch! Ein Wagen rasselt heran; er hält drunten.

      »Die Mutter«, sagt der Doktor aufstehend. »Es war Zeit!« Ein eiliger Schritt kommt die Treppe herauf; eine Frau, in einen dunkeln Mantel gehüllt, erscheint todbleich und atemlos in der Tür. Sie läßt den regenfeuchten Mantel fallen, und im phantastischen Kostüm der Teufelinnen, wie wir es in Satanella sahen, stürzt sie auf das Bettchen zu.

      »Mein Kind! Mein Kind!« flüstert sie, in gräßlicher Angst den Doktor ansehend. Sie beugt sich, sie hört den leisen Atem des Kindes: Es lebt noch! – Das schwarze Lockenhaupt mit dem Flitterputz von Glasdiamanten und feuerroten Bändern sinkt auf das ärmliche Kissen.

      »Mama, liebe Mama!« stöhnt das sterbende Kind, mit den kleinen fieberheißen Händchen durch die schwarzen Haare der Mutter greifend, daß die Steine darin blitzen und funkeln. – – Jetzt läuft ein Schauer über den kleinen Körper – – –

      »Vorüber!« – sagt der alte Doktor dumpf, mir die Hand drückend.

      Frau Anna und eine Nachbarin blieben die Nacht bei der armen, bewußtlosen Mutter.

      Am 7. März.

      Gestern nachmittag begannen die schweren Regenwolken, die wochenlang über der großen Stadt gehangen hatten, sich zu heben. Sie zerrissen im Norden wie ein Vorhang und wälzten sich langsam und schwerfällig dem Süden zu. Ein Sonnenstrahl glitt pfeilschnell über die Fenster und Wände mir gegenüber, um ebenso schnell zu schwinden; ein anderer von etwas längerer Dauer folgte ihm, und jetzt liegt der prächtigste Frühlingssonnenschein auf den Dächern und in den Straßen der Stadt. Wahrlich, jetzt gleicht die Stadt nicht mehr einem scheuergeplagten Ehemann; sie gleicht vielmehr seiner bessern Hälfte, die nun ihre Pflicht getan zu haben meint, erschöpft auf einen Stuhl zum Kaffeetrinken niedersinkt und lispelt: »Puh! hab ich mich abgequält, aber gottlob, nun ist’s auch mal wieder rein!«

      Ja, rein ist’s! Verschwunden ist der Schnee, der zuletzt doch gar zu grau und unansehnlich geworden war; viel mißmutige, verdrossene Gesichter haben sich aufgehellt, und – die kleine Leiche von oben ist fort. Die alte Großmutter Karsten hat auch ihr nachgeblickt; sie hat die arme Mutter auf die Stirn geküßt, als man den Sarg hinabtrug, und hat, gleichsam als wundere sie sich über etwas, lange das Haupt geschüttelt. Wer weiß, wieviel jüngere Leben sie noch dahinschwinden sieht!

      Ich habe diese Blätter, glaub ich, einmal ein Traumbuch genannt – wahrlich, sie sind es auch.

      Wie Schatten ziehen die Bilder bald hell und sonnig, bald finster und traurig vorüber. Jetzt ist der dunkle Grund, aus dem sie sich ablösen, ganz bedeckt von Leben und Jubel; jetzt taucht wieder die unheimliche finstere Folie auf. Die Freude verstummt, der Jubel verhallt, es ist tote Nacht allenthalben, die nur dann und wann ein Klagelaut unterbricht. Sei die Nacht aber auch noch so dunkel,

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