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also, an der Seite meines Bruders, konnte ich das Versäumte nachholen und schloß mich ihm an, jene Landschaft zu erkunden, die zwar auch zu dieser Zeit schon unter Naturschutz stand, doch erst dreißig Jahre später in den Rang eines Nationalparks erhoben wurde.

      Helmut, von Beruf Gartenarchitekt in der niederrheinischen Industriestadt Leverkusen, war ein leidenschaftlicher Vogelkundler. In seinem Haus, in dem ich wiederholt zu Gast war, wenn ich auf meinen Deutschlandreisen durch die betreffende Gegend kam, wimmelte es von gefiedertem Getier, die Volieren mit all den bezaubernden Exoten waren sein ganzer Stolz. Doch er begnügte sich nicht mit Käfighaltung und Aufzucht, sondern ging vor allem auch in die Natur hinaus, studierte Vorkommen, Verhalten und Verweildauer seiner Lieblinge vor Ort, führte über seine Entdeckungen, Beobachtungen und Zählungen präzise Aufzeichnungen, schrieb darüber sogar ein Buch. Als er 1974 zweiundvierzigjährig starb, war das Manuskript druckfertig; erst nach seinem Tod kam »Die Vogelwelt von Leverkusen«, Band 10 der Reihe »Beiträge zur Avifauna des Rheinlandes«, in den Fachhandel.

      Es war also klar, daß Helmuts Reise in den burgenländischen Seewinkel kein Allerweltsausflug, sondern eine profunde Studienfahrt werden würde – Birdwatching wissenschaftlich grundiert. Wohlvorbereitet traf er in Wien ein; ich als seine Begleitung konnte dabei nicht viel mehr als sein Handlanger sein, der sich um die Autobusverbindungen, um Verköstigung und Nachtquartier zu kümmern hatte.

      Am Zielort Illmitz angelangt, übernahm Helmut sofort die Führung, hielt sich nicht lange mit Spaziergängen durch das malerische Dorf auf, ignorierte meinen Vorschlag, doch auch durch einen der Weingärten zu wandern, interessierte sich weder für Steinzeit- noch für Römerfunde, drängte umso heftiger darauf, mit einem jener Kleinbauern aus der Gegend in Kontakt zu treten, von denen er gehört hatte, daß sie, Kenner der örtlichen Fauna, bereitstünden, ornithologisch Interessierte an jene über Österreich hinaus, ja europaweit einzigartigen Plätze zu führen, an denen Silberreiher und Seeadler, Rohrdommel und Weißstorch anzutreffen sind.

      Wir wurden rasch fündig: Helmut und ich bestiegen, nachdem das zu entrichtende Entgelt ausgehandelt war, einen jener mit Sitzbank ausgerüsteten Leiterwagen, die für »Vogeltouren« extra geräuscharm konstruiert waren. Statt auf groben Holzrädern über das Gelände zu rumpeln und die scheuen Tiere zu erschrecken, rollten wir auf sanftem Hartgummi durch die Steppe; weder Graugans noch Sandregenpfeifer nahmen von den Eindringlingen samt Pferdefuhrwerk Notiz.

      Mein Bruder war ganz in seinem Element: Alles, was er sehen wollte, bekam er zu sehen – und alles vollmundig kommentiert von unserem Bäuerlein auf dem Kutschbock. Immer wieder drehte sich dieser zu uns andächtig Lauschenden um, nannte, was da kreuchte und fleuchte, beim Namen, dozierte in seinem für unser Ohr nicht immer leichtverständlichen Dialekt über Flughöhe und Rastdauer des Bienenfressers, über Brüt- und Nistgewohnheiten des Löfflers, über Nahrungssuche und Feindabwehr bei Eisvogel und Kiebitz, über den Superstar Großtrappe und das grandiose Schauspiel seiner Balz.

      Plötzlich aber veränderte sich sein Ton. Es hatte damit begonnen, daß sich Helmut bei einer der vielen Erklärungen, die unser Führer abgab, zu einer kleinen Korrektur hinreißen ließ. War es ein falscher Name, der dem Mund unseres Gewährsmannes entschlüpft war, war es eine Ungenauigkeit in punkto Lockruf oder Flugverhalten – auf jeden Fall: Mein Bruder widersprach. Freundlich, doch bestimmt. Und als sich dieser Vorgang einige Male wiederholte, wurde es unserem Bäuerlein zu viel: Er verstummte. Mit der knurrigen Bemerkung »Ach, der Herr kennt sich wohl aus?« übergab er das Wort an den ihm fachlich überlegenen Gast und schwieg fortan wie ein Grab. War er in seinem Stolz verletzt? Fühlte er sich gar als Dilettant entlarvt? Mir war die Situation über alle Maßen peinlich, und ich war froh, daß das Unternehmen trotz des besserwisserischen Eingreifens meines Bruders doch noch zu einem guten Ende kam. Helmut war zu seinem Seewinkel-Erlebnis, ich zur Schließung einer meiner vielen Bildungslücken und unser Führer zu seiner Gage gekommen. Alles völlig artgerecht.

      Als ich in späteren Jahren häufiger in Österreichs südöstlichstes Bundesland kam, dank einiger enger Freundschaften sogar mit einer gewissen Regelmäßigkeit, erlebte ich das Burgenland nicht nur als facettenreiches Naturparadies und faszinierendes Völkergemisch, sondern vor allem als eine Art Schule der Unverblümtheit, der Urwüchsigkeit, der Einfachheit. Die gebürtige Parndorferin Maria A. war darin meine Lehrmeisterin.

      Maria, nur wenig älter als ich, hatte in jungen Jahren den Sprung nach Wien geschafft, war seither bei einer der großen internationalen Fluglinien für die Pressearbeit zuständig. Durch ihren Job kam sie viel in der Welt herum; auch in ihrer Freizeit nützte sie jede Gelegenheit, fremde Länder und Städte kennenzulernen; aus der verhuschten Landpomeranze mit starkem Bildungsdefizit war mit der Zeit eine polyglotte Person geworden, eine Frau von Welt. Doch im Gegensatz zu anderen ihres Schlages und ihrer Herkunft blieb sie auch als mondäne Aufsteigerin ihrer Geburtsheimat verbunden, schob zwischen ihren ständigen Fernflügen und Hotelaufenthalten regelmäßig Besuche in ihrem Elternhaus ein, obwohl die dort herrschenden Verhältnisse in krassem Gegensatz zu ihrem nunmehrigen Lebensstil standen.

      Die Eltern bewohnten eine Keusche im Ortszentrum von Parndorf; im angeschlossenen Gärtchen wuchs das Gemüse, das man für die kargen Mahlzeiten brauchte; das Fleisch, das höchstens zwei Mal pro Woche auf den Tisch kam, holte man sich vom Bauern, der Billigwein wurde mit Wasser aus dem Hausbrunnen »gestreckt«.

      Vater A., gelernter Sattler, brachte sich und seine Familie mit Gelegenheitsarbeiten durch, zur allabendlichen Schnapsrunde im Wirtshaus ließ er sich von den »bessergestellten« Kumpanen einladen. Die Mutter, eine zu Korpulenz neigende Frau, der das Kroatische ihres Elternhauses geläufiger war als die deutsche Amtssprache, versah den Haushalt und zog die drei Kinder auf: Maria und ihre beiden Brüder.

      Als ich sie bei meinem ersten Besuch in Parndorf (dem viele weitere folgen sollten) kennenlernte, waren die beiden Elternteile das, was man »einfache Leute« nannte: genügsam, gegenüber Fremden linkisch und scheu, gleichwohl gastfreundlich und von einer sympathischen, natürlichen Herzlichkeit.

      Was mich an Marias Umgang mit ihren Eltern beeindruckte, war die Unbefangenheit, mit der sie, die inzwischen großstädtisch geprägte und auch kulturell ambitionierte Aufsteigerin, Vater und Mutter gegenübertrat, vor allem aber die Entschlossenheit, mit der sie zu Werke ging, die Eltern an ihrem eigenen Bildungsvorsprung teilhaben zu lassen. Einmal war es ein Buch, das sie ihnen zum Lesen mitbrachte, ein andermal ein in einer der Wiener Galerien erworbenes Bild, das sie ihnen zwischen Ehebett und Herrgottswinkel an die Wand hängte, und wenn ihr Blick beim Stöbern in der altvaterischen Wohnstube auf eine häßliche Lampe oder eine mickrige Kommode fiel, tauschte sie das minderwertige Stück heimlich gegen ein geschmackvolleres und neuzeitlicheres aus.

      Langsam und ohne jeden Druck machte sich Maria auch daran, ihre Eltern nach Wien einzuladen, sie ins Theater und zu Kunstausstellungen zu begleiten, und da auch ich in manche dieser Unternehmungen eingebunden war, kann ich bezeugen: Niemals ließ sich Maria anmerken, daß ihr das unbeholfene Auftreten ihrer Schützlinge auf dem Großstadtpflaster peinlich sein oder daß sie sich gar für deren Provinzialität schämen könnte.

      Bewundernswert auch die mit einem gewissen Stolz durchmischte Geduld, mit der sie ihren kaum je aus Parndorf hinausgekommenen Eltern eine völlig neue Welt erschloß: die Welt des Reisens. Was ihr dabei zu Hilfe kam, war Marias Job im Fluggeschäft: Dank ihrer Stellung war es für sie ein Leichtes, freigebliebene Plätze zum Angestelltentarif zu ergattern, und so trat das Wunder ein, daß die beiden alten Leutchen sich eines Tages im Flieger nach Paris sitzen sahen, nach London oder nach New York.

      Es wird solche Beispiele systematischer elterlicher Emanzipation auch anderswo geben und vielleicht öfter, als man denkt – ich kenne es vor allem aus dem Hause A. in Parndorf, Burgenland. Noch heute, da alle Beteiligten – Vater, Mutter, Tochter – längst nicht mehr unter den Lebenden sind, denke ich, so oft ich in die betreffende Gegend komme, mit tiefem Respekt und Rührung an jenes hohe Maß von Kindesliebe, das hier über die Jahre Regie geführt hat.

      Ob es dieser Hang zur Natürlichkeit, zum unkomplizierten Ausleben einfacher Gefühle gewesen sein mag, was in den Wiederaufbaujahren nach 1945 das Burgenland für viele Künstler so anziehend gemacht hat? Vor allem die Maler und

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