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legte die Kreide beiseite. »Tot?« Sie ging auf Gritli zu und nahm sie in den Arm. »Deine Tante Theres ist gestorben? Das tut mir leid.«

      Gritli schluchzte auf. »Ich hab ihr in der Früh die Hafersuppe gebracht. Sie hat sich nicht gefreut wie sonst. Und gerührt hat sie sich auch nicht. Da bin ich zur Großmutter, und die ist mit mir ins Haus von Theres. Großmutter hat gesagt, jetzt ist Theres im Himmel. Und dann hat Großmutter arg geweint…«

      »Theres war die Schwester deiner Großmutter, nicht wahr?« flüsterte Barbara und drückte das zarte Kind an sich.

      Gritli nickte stumm.

      »Wenn du willst, Gritli, kannst wieder hochsteigen auf den Hof«, schlug Barbara vor. »Du mußt heute nicht am Unterricht teilnehmen.«

      Da schüttelte Gritli den Kopf. »Ohne Theres will ich nicht wieder hoch.«

      »Wennst oben über den Wolken bist, ist deine alte Theres doch auch nicht bei dir«, gab Karli seinen Senf dazu. Zu Barbaras Erleichterung wagte diesmal keiner darüber zu lachen. Sie führte Gritli behutsam zu ihrem Platz, nahm ihr den Ranzen ab und fuhr ihr übers Haar.

      »Ich fahr dich nach Schulschluß schnell heim auf den Berghof«, flüsterte sie. »Ich laß dich nicht allein zurückgehen. So, und nun hol deine Malstifte vor.«

      »Die hab ich vergesen«, hauchte Gritli und fügte mit erstickter Stimme hinzu: »Bittschön! Schimpfen ’s mich nicht wieder so.«

      »Nein, heut schimpf ich nicht«, versprach Barbara.

      Es war ja das erste Mal, daß eines ihrer Schützlinge mit dem Tod eines geliebten Menschen fertig werden mußte. Warum hatte es ausgerechnet Gritli, dieses sonderbare Kind, getroffen? Wieviel Leid sollte sie noch erdulden? Denn nun gab es auf dem Berghof wohl keine gute Seele mehr, deren Liebe die elternlose Sechsjährige stützte und ihr Halt gab. Noch häufiger würde sie den Unterricht versäumen und noch seltener ihre Hausaufgaben machen.

      Barbara sah es klar voraus. Um Gritli würde sie sich kümmern müssen.

      *

      Drei Monate waren seit dem Tod der alten Theres vergangen. Der Bach Wese, der im Frühjahr vom vielen Schmelzwasser aus den Bergen immer über die Ufer trat, hatte längst wieder in sein schmales Bett zurückgefunden. Im Dorf ließen sich einige Touristen blicken, aber die meisten zogen es vor, in einem der gutgeführten Berghotels einige Kilometer weiter Quartier zu beziehen.

      Im Leben des Schreiners Lange und seiner Tochter, der hübschen Lehrerin, war nicht viel geschehen. Ruppert Lange hatte noch immer keinen zweiten Gesellen eingestellt und die Hoffnung, den richtigen zu finden, wohl schon aufgegeben. Nur Barbaras Äußeres hatte sich ein wenig verändert. Eines Tages war sie ins Städtchen Oberau gefahren und mit einem neuen Kleid und etwas kürzeren Haaren zurückgekehrt. Beides stand ihr gut, aber ihren Tagesablauf beeinflußte es keineswegs.

      An einem Samstagnachmittag Ende Juni, als die Sonne vom klarblauen Himmel hinunter ins Dorf brannte und den Duft vom frischgemähten Heu noch verstärkte, zog Barbara ihr neues Kleid zum ersten Mal an. Das kleine Blumenmuster in blau und violett brachte ihre grünen Augen hübsch zur Geltung und unterstrich den leichten Goldton auf Armen und Décolleté. Sie blickte kurz aus dem Fenster, entnahm ihrer Schultertasche dann die Sonnenbrille und schob sie sich über die Stirn aufs Haar.

      Ein kurzes Klopfen an der Wohnungstür verriet ihr, daß Ruppert sie mal wieder brauchte. Ihr Vater trat ein und sah sie mißbilligend an.

      »Du gehst fort? Heute? Und wer hilft mir bei der Steuer zum zweiten Quartal?«

      »Ich. Wenn ich wieder zurück bin, Vater«, schmunzelte Barbara.

      »Und wann bist du zurück?«

      »In zwei Stunden.«

      Er sah sie mißtrauisch an. »Schaust aus, als wolltest in die Stadt fahren oder Traudl besuchen. Dann wird’s Abend.«

      »Ich fahr aber nur hoch zum Berghof.«

      Ruppert Lange hob die Brauen. »Mit der Sonnenbrille und dem hübschen Kleid? Was willst denn da? Dem Sepp Heimhofer schöne Augen machen?«

      »Was du nur denkst!« lachte sie und schulterte ihre Tasche. »Dem Sturkopf Sepp Heimhofer doch nicht! Ich muß mit Agnes, der Großmutter vom Gritli, sprechen. So geht es nicht weiter mit dem Mädchen. Seitdem die alte Theres verschieden ist, bummelt das Gritli noch mehr als sonst. Eine Schande ist’s, weil sie nicht dumm, sondern nur verwahrlost ist. Keiner gibt acht auf das Mädchen. Das regt mich richtig auf.«

      Der Schreinermeister nickte. »Viel kannst erreichen im Leben, mein Bärbelchen, aber die alte Agnes, die Heimhoferin, war schon immer ein stockertes Weib. Brauchst gar nicht erst hochzufahren, erreichen wirst nix! Und überhaupt! Hast doch Sommerreifen drauf. Ob du so weit hoch kommst mit dem Wagen? Willst meinen Kombi?«

      Barbara stutzte nur sekundenlang. Dann holte sie den Beutel mit ihren Bergstiefeln, schwenkte ihn hin und her und meinte: »Wenn nichts mehr geht, schaff ich den Rest des Wegs zu Fuß. Zufrieden?«

      »Das paßt scho’!« schmunzelte er. »Dann wird’s aber gewiß Abend!«

      Fünf Minuten später hatte Barbara schon die Hälfte der Fahrt hinter sich. Aber nun begann das dicke Ende. Nach der Bahnunterführung ging es nach links, dann kam der düstere Tunnel, an dem eine Ampel den spärlichen Gegenverkehr zurückhielt, und danach führte die Asphaltstraße hoch, bis sie an einer Biegung in einen steilen Weg überging. Im ersten Gang schaffte ihr Wagen den Hang ohne Schwierigkeiten, nur legte sie die restlichen drei Kilometer im Schneckentempo zurück. Recht mühsam wand sich ihr Auto über

      die Serpentinen hoch auf die Wiesen, wo nur noch vereinzelte Fichten zwischen den kleinen Felsen standen.

      Barbara stöhnte, und ein mitfühlendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Gritli mußte wirklich jeden Tag einen beschwerlichen Weg zur Schule hinter sich bringen. Hatte denn keiner ihrer Angehörigen Mitleid mit dem Kind?

      Sie konnte nicht ahnen, daß die alte Agnes das Auto der jungen Lehrerin schon seit Minuten mit Adleraugen beobachtete. Agnes Heimhofer war knapp über siebzig. Sie trug das weiße Haar streng aus dem sonnengegerbten Gesicht gekämmt und hinten mit einer Spange zusammengehalten. Dazu konnte sie eine Miene aufsetzen, die alle das Fürchten lehrte. Der faltige Rock ihres dunklen Dirndls bauschte sich über den mächtigen Hüften, das hochgeschlossene Oberteil betonte ihre matronenhafte Gestalt. Wenn sie wie jetzt das Kinn kampfeslustig vorschob, glich sie eher einem Feldherrn als einer Großmutter.

      »Ts! Ts!« verriet sie schon jetzt ihren Unwillen, denn aus dem Auto stieg eine elegante junge Dame, die ihr schon mal begegnet war. Agnes wußte nur nicht, wann und wo. Ja, doch, auf der Bestattung von Tante Theres. Und war diese Dame nicht ausgerechnet Gritlis Lehrerin, die Tochter vom Dorfschreiner Lange?

      Während ihrer letzten Schritte ließ Barbara sich Zeit, um das behäbige Gebäude der Heimhofers genauer betrachten zu können. Es lag trotzig an einem Hang und schien majestätisch ins Tal zu blicken. Aber nichts an dem ausladenden Bau deutete auf Wohlstand oder auch nur einen Hauch von Lebensfreude hin. Es gab keine Blumen an den Fenstern, so daß deren Höhlen wie düstere Löcher aus der graufahlen Mauer stierten. Und vor dem Haus boten sich dem Betrachter ein Wust von Unordnung, also unzählige Beweise bitterer Armut dar. Und die alte Agnes zeigte mit ihrer stolzen, abweisenden Haltung auch nicht gerade an, daß hier ein Fremder willkommen war.

      »Sie wollen doch wohl nicht zu mir?« rief sie ihr entgegen. »Wenn S’ das Gritli suchen, die ist mit dem Sepp zur Alm hoch. Aber da können S’ mit dem Auto nicht hin.«

      Barbara überraschten diese Worte nicht. Schon auf dem Begräbnis der alten Theres hatte sie festgestellt, daß weder mit Gritlis Großmutter Agnes noch mit deren Sohn Sepp Heimhofer gut Kirschenessen war. Das karge Leben hier oben machte die Menschen eben hart. Vielleicht schämten sie sich auch ihres sorgenvollen Daseins, weil sie nicht mehr die Kraft besaßen, etwas daran zu ändern.

      Barbara zwang sich zu einem höflichen Lächeln und streckte der imposanten Frau die Hand entgegen. »Ich sprech

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