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Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben. Heinz Keßler
Читать онлайн.Название Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben
Год выпуска 0
isbn 9783360510037
Автор произведения Heinz Keßler
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Am gefährlichsten für den Weltfrieden ist jedoch die aggressive Konfrontationspolitik der NATO und deren Führungsmacht, die gegen ihren Niedergang kämpft. Die USA schrieben sich nicht erst vor wenigen Jahren »America First« auf die Fahnen. Dieser Drang zur Weltbeherrschung treibt sie seit Beginn des Kalten Krieges, der ein Dreivierteljahrhundert bereits geführt wird. Doch seit die Dominanz der USA zunehmend infrage gestellt wird, insbesondere durch den Aufstieg der Volksrepublik China, spricht Washington seinen Anspruch diplomatisch unverhüllt aus und verleiht ihm Nachdruck. Mit Forderungen, Sanktionen, Drohungen, Manövern, militärischen Interventionen und militanten Reden. Da bezeichnet der US-Präsident seinen russischen Amtskollegen als »Killer«, da proben Soldaten aus 26 Ländern im NATO-Manöver »Defender Europe 2021« vor der russischen Grenze, da werden Firmen mit Boykottmaßnahmen belegt, wenn sie Geschäfte mit dem »Feind« machen. Da engagieren sich leidenschaftlich die USA und Westeuropa in der Ukraine gemäß der Ansage des einstigen US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński: »Wer die Ukraine beherrscht, schwächt Russland dramatisch.«
Das alles vergiftet nicht nur die internationalen Beziehungen, sondern erhöht dramatisch die Gefahr eines großen Krieges. Wir sollten nicht vergessen, dass die Weltwirtschaftskrise, die 1929 ihren Anfang in den USA nahm, nicht mit dem New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt, sondern durch den Zweiten Weltkrieg beendet wurde.
Unser Buch zeigt, wie in einer angespannten Sicherheitslage die Politik es vermochte, einen Konflikt zu entschärfen. Damals wie auch heute genügte ein Funke, das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Vor sechzig Jahren gelang es, diesen Funken gemeinsam auszutreten, woran auch der junge US-Präsident John F. Kennedy insofern beteiligt war, als er Moskau zugestand, gemäß seiner Sicherheitsinteressen auf seinem Territorium, in seinem Einflussgebiet ungehindert zu agieren, sofern davon nicht die Interessen der USA betroffen sein würden.
Die Sicherheitspolitik und das Sicherheitsverständnis Moskaus haben sich seither nicht geändert. Die der Vereinigten Staaten von Amerika hingegen schon.
An der vorliegenden Dokumentation hat Heinz Keßler mitgewirkt. Der Armeegeneral war als Verteidigungsminister der DDR mein Chef, mein Genosse und auch mein Freund. Gemeinsam haben wir im Sommer 2011 dieses Buch in Berlin vorgestellt. Das Echo war, wie erwartet, geteilt. »Zwei Betonköpfe« (Neue Zürcher Zeitung, 28. Juli 2011) hätten einen »verbalen Schmutzwall zwischen zwei Buchdeckel« errichtet (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Mai 2011) und angeblich die »Schüsse auf Flüchtlinge beschönigt« (Die Welt, 12. Mai 2011). »Selbstzweifel oder gar Selbstkritik« (Der Tagesspiegel, 11. August 2011) seien »den alten Genossen« unbekannt, befand der Journalist.
Dem Hohn, der Ignoranz, der ideologischen Verblendung und der persönlichen Schmähung standen weitaus mehr anerkennende Bekundungen entgegen, die bis heute andauern. Sie fanden ihren Ausdruck auch in der großen Zahl jener, die Heinz das letzte Geleit gaben. Er verstarb am 2. Mai 2017 im Alter von 97 Jahren. So erinnert denn diese Neuauflage nicht nur an ein wichtiges Ereignis der europäischen Nachkriegsgeschichte, sondern auch an einen Soldaten, der wenige Tage nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion aus der Wehrmacht desertierte und zur Roten Armee überlief. »In der DDR wurde mein Vater Offizier, weil er den Krieg hasste«, sagte sein Sohn in der Trauerrede. Heinz Keßler sorgte mit dafür, dass die Nationale Volksarmee die einzige deutsche Armee ist, die nie in einen Krieg zog.
Das alles sollte man im Hinterkopf haben, wenn man dieses Buch liest und die Geschichtsverdrehungen zur Kenntnis nehmen muss, die um den 13. August 2021 ganz gewiss in den deutschen Medien verbreitet werden. »Jede Kriegführung gründet auf Täuschung«, soll schon vor zweieinhalbtausend Jahren der chinesische Militärstratege Sunzi formuliert haben. Das gilt auch für den Informations- und Propagandakrieg, in dem wir uns gegenwärtig befinden.
Fritz Streletz,
Strausberg, im Frühjahr 2021
50 Jahre danach
Quer durch die Mitte Berlins zieht sich ein Band von Pflastersteinen, gelegentlich unterbrochen vom in Metall gegossenen Hinweis, dass sich hier bis 1989 »die Mauer« befunden hätte. Und alljährlich am 13. August formieren sich die Stadtoberen, Vertreter von Parteien und sogenannter Opferverbände in der Bernauer Straße zu einer Trauergemeinde. Die Nachrichtenagenturen vermelden wie etwa dpa an jenem Tag 2010: »Mit Kränzen, Kerzen und Schweigeminuten erinnert Berlin heute an den Mauerbau vor 49 Jahren. An der Gedenkstätte in der Bernauer Straße legt Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit einen Kranz für die Opfer des DDR-Grenzregimes nieder.« Zuvor hatte man »bei einer Andacht auf dem früheren Todesstreifen Kerzen entzündet«.
Solche Bilder gehen um die Welt und ans Gemüt. Wo »Trauer« herrscht, hat die Vernunft zu schweigen. Und alle, die den Finger heben und sich kritisch äußern, gelten augenblicklich als Zyniker. Sie würden »die Opfer« verhöhnen.
Zynisch hingegen sind tatsächlich jene, die einer falschen, einer ahistorischen Darstellung das Wort reden und ihr in solchen Aufmärschen und Erklärungen symbolhaft Gestalt geben. Man könnte es besser wissen, wenn man es denn wissen wollte. Aber die Lesart ist vorgegeben und wird seit einem halben Jahrhundert ins öffentliche Bewusstsein getrommelt: Ulbricht, der Lügner, hat die Mauer gebaut und damit das Land gespalten.
Und zum Beweis sendet man in Endlosschleifen jene Sequenz, wo eben jener Geschmähte erklärt, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Ohne natürlich, was die journalistische Sorgfaltspflicht verlangte, die Erklärung hinzuzusetzen, dass der DDR-Staatsratsvorsitzende dies am 15. Juni 1961 und auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin nach dem Gipfeltreffen von Chruschtschow und Kennedy in Wien gesagt hatte. Und zwar auf die Frage der Korrespondentin der Frankfurter Rundschau Annamarie Doherr: »Bedeutet die Bildung einer Freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?«
Und Ulbricht reagierte darauf in der bekannten Weise: »Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!«
Das genügt als Beweis für die Behauptung, dass erstens Ulbricht log, schließlich errichteten zwei Monate später die Berliner Bauarbeiter eben jene »Mauer«, und dass er zweitens dafür Order erteilt haben musste, denn schließlich hatte Ulbricht selbst diesen Begriff eingeführt: Mauer.
Die tatsächliche Lüge ist die inzwischen offizielle Lesart, Walter Ulbricht sei sowohl Erfinder als auch Bauherr »der Mauer«. Die Wahrheit hingegen ist: Ulbricht hatte in Moskau wirksame Maßnahmen zur Friedenssicherung und gegen den Exodus der DDR durch die hohe Anzahl der Wirtschaftsflüchtlinge gefordert, nicht aber das, was zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 an der Grenze geschah.
Wer was wo und warum entschied, werden wir auf den nachfolgenden Seiten dokumentieren. Als Militärs richten wir naturgemäß unser Augenmerk auf militärpolitische Aspekte, auf militärstrategische Fragen zwischen den beiden damals bestehenden Bündnissen, also zwischen Warschauer Vertrag und Nordatlantikpakt. Diese standen, was zu beweisen ist, im Zentrum aller Überlegungen in Moskau und in Washington. Alle anderen Aspekte, die seither in der politischen und propagandistischen Auseinandersetzung um den 13. August und die Grenzsicherungsmaßnahmen in den Vordergrund gedrängt und behandelt werden, die »menschliche Seite« und die damit verbundenen Emotionen, spielten damals eine nachrangige Rolle. Westliche Militärs würden das Kollateralschaden nennen.