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nette Familie, ging es Anne durch den Kopf, als sie in ihrem Bett lag, mit dem Baby neben ihr. Bald würde sie wieder auf den Beinen sein und sie alle um sich haben. Sie würden zu ihr kommen mit ihren kleinen Freuden und Leiden, mit ihren Hoffnungen, ihren Ängsten und ihren kleinen Problemen, die ihnen so gewaltig vorkamen, und mit ihrem Kummer, der ihnen so bitter erschien. Sie würde wieder ganz für ihre Familie dasein. Und Tante Mary Maria würde endlich keinen Grund mehr haben, Dinge zu sagen wie „Du siehst wieder mal furchtbar müde aus, Gilbert. Gibt es denn niemand, der für dich sorgt?“

      Kapitel 11

      Bis Ende August war Anne wieder auf den Beinen und freute sich auf den Herbst. Die kleine Bertha Marilla wurde von Tag zu Tag hübscher und war der Liebling der ganzen Familie.

      „Ich hab immer gedacht, Babys schreien nur den ganzen Tag; jedenfalls hat das Bertie Shakespeare behauptet“, wunderte sich Jem und sah mit Begeisterung zu, wie die Kleine seine Finger umklammerte.

      „Na, daß die Drew-Babys den ganzen Tag plärren, kann ich mir lebhaft vorstellen“, meinte Susan. „Wenn man zu der Familie gehört, bleibt einem wohl auch nichts anderes übrig, als zu schreien. Aber Bertha Marilla ist schließlich ein Ingleside-Baby.“ Sie bügelte gerade einen Stapel Kinderwäsche.

      „Schade, daß ich nicht auch hier geboren bin, Susan“, sagte Jem wehmütig.

      Eine alte Klassenkameradin von Anne, die einmal zu Besuch da war, hatte sie gefragt: „Findest du es nicht ziemlich langweilig, hier zu leben?“

      Langweilig! Ingleside und langweilig! Mit so einem Baby, das einem jeden Tag wie ein kleines Wunder erschien, mit den vielen Besuchern, die demnächst kommen würden: Diana, die kleine Elizabeth und Rebecca Dew. Und es war immer wieder etwas los: Jem kam in die Schule, Nan trank eine Parfümflasche leer – zum Glück, ohne daß ihr etwas passierte —, eine fremde Katze brachte auf der Veranda zehn Junge zur Welt, Krabbe rollte sich in einen Fliegenfänger ein … Das Leben und langweilig!

      Nicht zu vergessen Tante Mary Maria, die tatsächlich immer noch in Ingleside wohnte. Ab und zu sagte sie voller Selbstmitleid: „Wenn ihr genug von mir habt, laßt mich das ruhig wissen, ich bin es gewöhnt, allein zurechtzukommen.“ Was sollte man darauf schon sagen? Immer war es Gilbert, der ihr dann die Antwort gab, die sie erwartete, allerdings längst nicht mehr in so herzlichem Ton wie anfangs. Auch sein ausgeprägter Verwandtschaftssinn fing nun doch langsam an nachzulassen; er mußte sich eingestehen, daß Tante Mary Maria allmählich zum allgemeinen Problem wurde. Einmal hatte er es tatsächlich gewagt, sie vorsichtig darauf hinzuweisen, daß man sein eigenes Haus nicht allzu lange allein lassen sollte. Der Erfolg war, daß Tante Mary Maria voll mit ihm übereinstimmte und nebenbei erwähnte, sie hätte sowieso schon daran gedacht, ihr Haus in Charlottetown zu verkaufen.

      „Keine schlechte Idee“, griff Gilbert den Gedanken auf. „Ich kenne da ein nettes kleines Häuschen in der Stadt, das zum Verkauf ansteht. Das wäre genau nach deinem Geschmack, es sieht aus wie das, in dem Mrs. Sarah Newman wohnt…“

      „Ja, und zwar allein“, seufzte Tante Mary Maria.

      „Aber ihr gefällt es“, warf Anne hoffnungsvoll ein.

      „Irgendwas stimmt nicht mit Leuten, denen es gefällt, allein zu leben“, Annie“, sagte Tante Mary Maria bedeutungsvoll.

      Und so kam es, daß sie immer noch da war.

      Von heute auf morgen brach dann der Herbst an. Der Herbstwind pustete vom Golf herüber, die Kinder sprangen fröhlich unter den vollbeladenen Apfelbäumen herum, und am Himmel zogen Vogelschwärme vorbei. Als die Tage kürzer wurden, tauchten über den Dünen und dem Hafen die ersten grauen Nebel auf.

      Rebecca Dew löste endlich ihr Versprechen ein und kam nach Ingleside zu Besuch. Sie wollte eigentlich nur eine Woche bleiben, wurde aber – vor allem von Susan – bedrängt, noch eine weitere Woche zu bleiben. Vom ersten Augenblick an wußten nämlich Susan und Rebecca Dew, daß sie ‚verwandte Seelen‘ waren… zumindest was ihre gemeinsame Abneigung gegen Tante Mary Maria betraf.

      Eines Abends schüttete dann auch Susan Rebecca Dew ihr Herz aus. Sie waren allein – Anne und Gilbert waren ausgegangen, die Kinder lagen alle im Bett, und Tante Mary Maria hatte sich zum Glück mit ihrer üblichen Migräne zurückgezogen.

      „Kein Wunder“, bemerkte Rebecca Dew, während sie sich die Füße am Ofen wärmte, „wer so unverschämt viele Makrelen zum Abendessen verschlingt wie die, der muß ja Migräne kriegen.“

      „Liebe Miss Dew“, erwiderte Susan ernst und sah Rebecca flehentlich in die Augen. „Da sehen Sie selbst mal, wie diese Mary Maria Blythe ist. Dabei ist sie noch viel, viel schlimmer. Darf ich ganz offen zu Ihnen reden?“

      „Ja, natürlich, Miss Baker.“

      „Diese Frau ist nun schon seit Juni da, und ich habe mittlerweile den Verdacht, daß sie für den Rest ihres Lebens hierzubleiben gedenkt. Aber keiner hier kann sie leiden, sogar der Herr Doktor nicht, obwohl er das nie zugeben würde. Aber er hält nun mal zu seiner Verwandtschaft, und deshalb meint er, man dürfe ihr nicht das Gefühl geben, unwillkommen zu sein. Ich hab die Frau Doktor angefleht, daß sie wenigstens ein Machtwort sprechen und diese Tante nach Hause schicken soll, aber sie bringt es nicht übers Herz. Wir wissen uns einfach nicht mehr zu helfen, Miss Dew.“ Sie seufzte.

      „Ich wüßte schon mit ihr umzugehen“, sagte Rebecca Dew, die sich selbst auch schon diverse spitze Bemerkungen von Tante Mary Maria hatte gefallenlassen müssen. „Ich weiß natürlich auch, daß man sich an die Regeln der Gastfreundschaft halten sollte, aber ich würde ihr trotzdem mal ordentlich die Meinung sagen, Miss Baker.“

      „Ich würde ihr schon gerne mal eine Standpauke halten, aber schließlich weiß ich, was sich gehört, Miss Dew. Mir sind die Hände gebunden“, gab Susan zu bedenken. „Aber die Frau Doktor im Stich lassen, das kann ich nicht. Wissen Sie“, erklärte Susan feierlich, „wir waren eine richtig glückliche Familie, bevor diese Tante auftauchte. Aber sie macht uns das Leben zur Hölle, und ich weiß nicht, wie das noch weitergehen soll. Wahrscheinlich landen wir alle irgendwann in der Irrenanstalt.“ Sie schürte das Feuer.

      Rebecca Dew schüttelte nur bedauernd den Kopf.

      „Ständig redet sie der Frau Doktor drein, wie sie den Haushalt zu führen hat, wie sie sich anziehen muß“, fuhr Susan fort, „und mich läßt sie den ganzen Tag nicht aus den Augen. Und sie beklagt sich, sie hätte noch nie so streitsüchtige Kinder gesehen. Also liebe Miss Dew, Sie müssen doch selbst zugeben, daß unsere Kinder nie streiten! Oder, na sagen wir mal, fast nie.“

      „Ich habe wirklich selten so bewundernswerte Kinder gesehen, Miss Baker“, lobte Rebecca.

      „Überall schnüffelt sie herum…“

      „Ja, ich hab sie selber dabei ertappt“, bestätigte Rebecca.

      „Und ständig ist sie wegen irgendwas beleidigt, aber leider reicht es nie so weit, daß sie endlich geht. Sie hockt dann bloß mit gekränkter Miene rum und bringt die arme Frau Doktor schier zur Verzweiflung. Nichts kann man ihr recht machen. Sobald ein Fenster offensteht, jammert sie, es zieht. Wenn alle Fenster zu sind, jammert sie, sie erstickt. Zwiebeln kann sie nicht ausstehen, schon bei dem Geruch wird ihr schlecht, behauptet sie. Also hat die Frau Doktor mich gebeten, Zwiebeln beim Kochen ganz wegzulassen. Katzen sind ihr ein Greuel. Sie sagt, sie kriegt eine Gänsehaut davon. Der arme Krabbe traut sich schon gar nicht mehr ins Haus. Ich bin selber kein besonderer Katzenliebhaber, Miss Dew, aber mit dem Schwanz werden sie doch wohl noch wedeln dürfen. Und dann heißt es: ‚Susan, denke daran, daß ich keine Eier essen darf, bitte schön‘, oder: ‚Susan, wie oft soll ich dir noch sagen, daß ich kein altes Toastbrot mag?‘, oder: ‚Susan, es mag ja sein, daß es Leute gibt, denen abgestandener Tee nichts ausmacht, aber ich zähle nicht zu den Glücklichen.‘ Abgestandener Tee, Miss Dew! Als ob ich jemals abgestandenen Tee anbiete!“ Sie schnaubte empört durch die Nase.

      „Nein, das würde Ihnen bestimmt niemand zutrauen, Miss Baker“, bestätigte Rebecca und kuschelte sich in ihren Sessel.

      „Und wehe,

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