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ich fühle mich wie im Traum, wenn man versucht zu rennen, aber die Beine nicht mitmachen wollen“, sagte Anne mit trostloser Stimme. „Wenn es wenigstens nur ab und zu so wäre… aber jeden Tag! Die Mahlzeiten sind mittlerweile der reinste Horror. Es ist überhaupt keine normale Unterhaltung mehr möglich, weil sie einem ständig über den Mund fährt. Dauernd ermahnt sie die Kinder, daß sie sich benehmen sollen, besonders, wenn Besuch da ist. Wir haben uns immer so auf unsere gemeinsamen Mahlzeiten gefreut – und jetzt? Noch nicht mal lachen darf man in ihrer Gegenwart. Wenn wir aber still sind, wird sie gleich argwöhnisch. Heute sagte sie zu Gilbert: ‚Gilbert, hör auf, den Beleidigten zu spielen. Hast du dich mit Annie gestritten?‘ Gilbert ist immer ein bißchen niedergeschlagen, wenn ein Patient gestorben ist, müssen Sie wissen. Und dann legt sie sich auch noch mit Susan ständig an. Meistens schimpft Susan nur vor sich hin, aber manchmal platzt ihr doch der Kragen. Zum Beispiel, als Tante Mary Maria sagte, Walter sei der größte Lügner, den sie kennt, bloß weil er Di erzählt hatte, er hätte den Mann im Mond getroffen und sich mit ihm unterhalten. Tante Mary Maria und Susan hatten einen Riesenstreit deswegen. Dann trichtert sie den Kindern die schauerlichsten Geschichten ein. Zum Beispiel erzählte sie Nan von einem Kind, das ungehorsam war und deswegen im Schlaf sterben muß. Nan hat jetzt prompt Angst vor dem Einschlafen. Zu Di hat sie gesagt, wenn sie immer ein braves Mädchen wäre, dann würden ihre Eltern sie genauso liebhaben wie Nan, obwohl sie doch rote Haare hätte. Gilbert war ganz schön zornig, als er das hörte, und sagte ihr ein paar scharfe Worte. Ich habe noch gehofft, sie wäre jetzt endgültig eingeschnappt und würde gehen. Statt dessen stand sie da mit Tränen in den Augen und sagte, sie hätte ja niemandem etwas tun wollen. Sie hätte gehört, daß Zwillinge nie gleich behandelt werden, und hätte wirklich gedacht, wir hätten Nan lieber als Di. Sie heulte die ganze Nacht, bis Gilbert sich schließlich wie ein Scheusal vorkam und sich bei ihr entschuldigte!“

      Anne war jetzt noch empört, wenn sie an die Szene dachte.

      „Das sieht ihm ähnlich!“ meinte Miss Cornelia kopfschüttelnd.

      „Ich weiß, ich sollte nicht so reden, Miss Cornelia. Vielleicht sollte ich mir das alles nicht so zu Herzen nehmen. Und sie ist ja auch nicht immer so häßlich, sie kann auch ganz nett sein…“

      „Ach ja?“ sagte Miss Cornelia in sarkastischem Ton.

      „Ja. Als sie zum Beispiel hörte, daß ich mir ein Teeservice wünsche, ließ sie mir eines aus Toronto schicken, per Luftpost! Ach, Miss Cornelia, es ist alles so verfahren!“

      Annes Lachen endete mit einem Seufzer. Doch dann mußte sie von neuem lachen.

      „Und jetzt wollen wir nicht mehr von ihr reden! Jetzt, wo ich mir alles von der Seele geredet habe, kommt es mir nur noch halb so schlimm vor. Sehen Sie mal, wie schön Rillas Wimpern aussehen, wenn sie schläft, Miss Cornelia.“

      Anne war wieder ganz die alte. Doch als Miss Cornelia gegangen war, saß sie noch eine Weile nachdenklich vor dem Kaminfeuer. Sie hatte Miss Cornelia doch nicht alles erzählt. Und sie hatte Gilbert nie etwas davon gesagt. Es waren so viele Kleinigkeiten.

      ‚Sie sind so unbedeutend, daß ich mich nicht darüber beklagen kann‘, dachte Anne. ‚Und doch sind es die Kleinigkeiten, die Löcher ins Leben fressen wie Motten… und es zerstören. Richtig eingeschüchtert hat sie uns alle, alles dreht sich inzwischen um die Frage: Wird es Tante Mary Maria auch recht sein? Keiner würde zugeben, daß es so ist, aber es stimmt. Hauptsache, man gibt ihr keinen Anlaß, sich die Tränen mit der üblichen edlen Geste aus dem Gesicht zu wischen. So kann es einfach nicht weitergehen.‘

      Dann fiel Anne plötzlich ein, was Miss Cornelia noch gesagt hatte: Mary Maria Blythe hätte nie in ihrem Leben Freunde gehabt. Wie schrecklich! Wenn sie überlegte, wie viele Freunde sie selbst hatte, überkam Anne ein Anflug von Mitleid für diese Frau. Eigentlich waren diese kleinen Ärgernisse ja wirklich nur oberflächlich. Daß sie einem die Freuden des Lebens vergällen würden, so schlimm war es nun auch wieder nicht.

      „Es war wohl nichts weiter als ein Anfall von Selbstmitleid, das ist alles“, sagte Anne zu sich selbst. Sie hob Rilla aus ihrem Körbchen und genoß das prickelnde Gefühl, das sie empfand, wenn sie sanft ihre Wange streifte.

      Kapitel 13

      Der Novemberschnee war inzwischen längst geschmolzen, und der Dezember war durchweg dunkel und trostlos. In Ingleside hatte man die Hoffnung auf Schnee zu Weihnachten schon fast aufgegeben. Aber trotz allem wurden eifrig Vorbereitungen getroffen, und in der letzten Woche vor dem Fest war das ganze Haus erfüllt von geheimnisvollem Getuschel und Geknister und den herrlichsten Düften. Einen Tag vor Weihnachten war alles soweit. Der Tannenbaum, den Walter und Jem aus dem Wald geholt hatten, stand in der Ecke des Wohnzimmers, und die Türen und Fenster hingen voll mit grünen Girlanden, die mit roten Schleifen verziert waren. Selbst das Treppengeländer war umflochten mit Fichtenzweigen, und die Speisekammer platzte aus allen Nähten. Alle hatten sich schon mit einem ‚grünen‘ Weihnachtsfest abgefunden, als plötzlich am Spätnachmittag dichte weiße Flocken fielen, die so groß waren wie Federn.

      „Es schneit, es schneit!“ rief Jem ganz außer sich. „Jetzt haben wir doch noch weiße Weihnachten, Mami.“ Alle drückten sich an den Fenstern die Nasen platt.

      Am Abend gingen die Kinder glücklich und zufrieden ins Bett. Wie schön war es, sich in die warmen Kissen zu kuscheln und dem Schneesturm draußen zu lauschen. Anne und Susan machten sich währenddessen daran, den Weihnachtsbaum zu schmücken.

      ‚Wie die Kinder benehmen die sich‘ dachte Tante Mary Maria verächtlich. Über die Kerzen am Baum war sie alles andere als begeistert, womöglich brannte das ganze Haus ab; und die Weihnachtskugeln stecken die Zwillinge wahrscheinlich in den Mund und verschlucken sie – über alles und jedes fand sie etwas zu meckern. Aber es hörte einfach niemand mehr hin. Es war die einzige Möglichkeit, das Zusammenleben mit Tante Mary Maria überhaupt zu ertragen.

      „Fertig!“ rief Anne, nachdem sie den großen Silberstern auf der Tannenspitze befestigt hatte. „Ist er nicht schön geworden, Susan? Ist es nicht schön, daß auch die Erwachsenen zu Weihnachten wieder Kind sein dürfen? Und ich freue mich so, daß es doch noch schneit. Der Sturm könnte allerdings bald mal aufhören.“

      „Der wird auch morgen noch wetterwüten“, behauptete Tante Mary Maria. „Das spüre ich jetzt schon im Rücken.“

      Anne ging zur Tür und spähte hinaus. Das Schneetreiben war in vollem Gange, sogar an den Fenstern türmten sich jetzt die Schneewehen. Und die Pinie im Garten sah aus wie ein riesengroßes weißes Gespenst. „Sieht nicht sehr vielversprechend aus“, gab Anne kleinlaut zu.

      „Der liebe Gott ist für das Wetter zuständig, Frau Doktor, und nicht Miss Mary Maria Blythe“, raunte Susan ihr verstohlen zu.

      „Hoffentlich ist wenigstens heute abend kein Krankenbesuch nötig“, sagte Anne, während sie ins Haus zurückging.

      Susan warf noch einen letzten Blick hinaus in die Dunkelheit, bevor sie die Tür verriegelte.

      „Komm bloß nicht auf die Idee und kriege heute noch dein Baby“, sagte sie drohend in Richtung Glen, wo Mrs. George Drew ihr viertes Kind erwartete.

      Trotz Tante Mary Marias verheißungsvollen Rückenbeschwerden legte sich der Sturm jedoch noch in derselben Nacht, und am nächsten Morgen ging dunkelrot die Sonne auf. Die Kinder waren schon früh aus den Federn vor ungeduldiger Erwartung.

      „Mami, ist der Weihnachtsmann heil durch den Sturm gekommen?“ fragten sie durcheinander.

      „Nein. Er war krank und konnte nicht kommen“, sagte Tante Mary Maria, die ausnahmsweise heute guter Laune war – wenn man das so nennen konnte – und sich furchtbar witzig vorkam.

      „Der Weihnachtsmann ist gut angekommen“, warf Susan schnell ein, bevor es Tränen gab, „und nach dem Frühstück dürft ihr nachsehen, was er unter den Baum gelegt hat.“

      Nach dem Frühstück stahl Gilbert sich aus dem Zimmer. Den Kindern fiel nichts auf, weil sie viel zu sehr mit dem Weihnachtsbaum und den vielen bunten Päckchen beschäftigt waren, die sich darunter auftürmten. Dann kam der Weihnachtsmann. Er sah wunderschön aus mit seinem purpurroten Mantel und

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