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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften
Год выпуска 0
isbn 9788075830890
Автор произведения Edith Stein
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
c) Freiheit; Können und Sollen
Was besagt Freiheit? Es besagt dasselbe wie das: Ich kann. Als waches, geistiges Ich schaue ich in eine Welt von Dingen hinein; aber sie zwingt sich mir nicht einfach auf: Die Dinge fordern mich auf, ihnen nachzugehen, sie von verschiedenen Seiten zu betrachten, in sie einzudringen. Wenn ich dieser Aufforderung nachgehe, so erschließen sie sich mir mehr und mehr. Folge ich der Aufforderung nicht – und ich kann mich ihr versagen – so bleibt mein Weltbild arm und bruchstückhaft. Etwas an den Dingen lockt mich und reizt mich, es weckt in mir das Verlangen, mich ihrer zu bemächtigen. Das Tier folgt solcher Lockung unaufhaltsam, wenn nicht ein stärkerer Trieb es zurückhält. Der Mensch ist dem Spiel der Reize und Reaktionen nicht wehrlos ausgeliefert, er kann widerstehen, er kann das, was in ihm aufsteigt, unterbinden. Wir sagten früher: In der Seele des Tieres ist das Zentrum des ganzen Lebewesens; hier schlägt alles zusammen, was von außen auf es eindringt; von hier geht alles aus, was an triebhaften Reaktionen aus ihm hervorbricht. Beim Menschen ist das kein bloßes Geschehen, es vollzieht sich nicht nur in ihm eine Umschaltung vom Eindruck zum Ausdruck oder zur Gegenhandlung; er selbst steht als freie Person im Zentrum und hat das Schaltwerk in der Hand – richtiger: Er kann es in der Hand haben; denn selbst das noch ist Sache seiner Freiheit, ob er von ihr Gebrauch machen will oder nicht.
Wir gingen davon aus: Der Mensch kann und soll sich selbst formen. Wir verstanden das »Er« im Sinne der personalen Geistigkeit. Dazu gehört notwendig das »Können« als Freiheit. Aus dem Können ergibt sich die Möglichkeit des Sollens. Das freie Ich, das sich entscheiden kann, etwas zu tun oder zu unterlassen, dies oder jenes zu tun, fühlt sich im Innersten aufgerufen, dies zu tun und jenes zu lassen. Weil es Forderungen vernehmen und ihnen folgen kann, ist es imstande, sich Ziele zu setzen und sie handelnd zu verwirklichen. Können und Sollen, Wollen und Handeln gehören innerlich zusammen. (Der Sinn des Sollens bleibt noch zu klären nach Inhalt und Ursprung des »Rufes«.)
2. »Ich« und »Selbst«; personale Formung der animalischen Natur
Was heißt es, daß ich mich selbst formen soll? Sind das Ich und das Selbst dasselbe? Ja und Nein. In dem Selbst liegt ja die Rückbezogenheit. Aber das Formende und das, was geformt wird, sind nicht in vollständiger Deckung. Es liegt hier nahe, wieder von Form und Materie zu sprechen. Ob es wirklich erlaubt ist, muß erst geprüft werden. Wir wissen schon, daß auf den höheren Seinsstufen »Materie« immer bereits eine geformte Materie bedeutet. Was der Mensch zu formen hätte, das wäre seine ganze animalische Natur. Und das Ergebnis dieser Formung wäre der voll ausgebildete, personal durchgeformte Mensch.
a) Formung des aktuellen Seelenlebens
α) Empfindung – Wahrnehmung; Intentionalität
Wir versuchen zunächst, uns klar zu machen, ob und in welcher Weise die tierische Natur im Menschen neu geformt wird. Schon das aktuelle Seelenleben hat eine völlig andere Struktur. Wir haben früher gesehen, daß wir nur durch eine mühsame Abstraktion zu einem bloßen Empfindungsmaterial gelangen können. Unsere Sinnesdaten sind immer schon einer Ordnung eingefügt, in der sie uns etwas bekunden. Unser geistiger Blick geht durch sie hindurch in eine gegenständliche, sinnenfällig qualifizierte Welt. Oder, wenn wir ihn von dieser normalen Richtung ablenken, ihn auf die Sinnesdaten selbst richten, dann sind sie »Gegenstand«; und Empfindungen konstatieren ist wiederum etwas anderes als bloß empfinden, bloß »betroffen sein«. Überdies: Sobald wir den Blick auf die Empfindungen selbst richten, werden sie uns zu Zuständlichkeiten unseres Leibes, dieser eigentümliche »Gegenstand« kommt uns durch sie zur Gegebenheit, sie stehen also in einer neuen Bekundungsfunktion. Damit enthüllt sich uns die Grundform des spezifisch menschlichen Seelenlebens: Die Intentionalität oder das Gerichtetsein auf Gegenständliches. Es gehört dazu ein Dreifaches: das Ich, das einem Gegenstand zugewendet ist; der Gegenstand, dem es zugewendet ist, und der Akt, in dem das Ich jeweils lebt und sich in dieser oder jener Weise auf einen Gegenstand richtet. Wir leben in einer Welt, die uns in die Sinne fällt und die wir eben damit wahrnehmen. Sie steht nicht mit einem Schlage vor uns, und die Wahrnehmung ist kein einzelner Akt. Sie ist ein kompliziertes Gefüge von sinnlichen Daten und Intentionen, von Akten, die ineinander übergehen. In diesem Gefüge hat, wie wir schon sahen, die Freiheit eine Stelle. Die Welt, die uns in die Sinne fällt und wie sie uns in die Sinne fällt, fordert uns zu fortschreitender Betrachtung auf, sie motiviert einen Übergang zu immer neuen Wahrnehmungsakten, die uns immer Neues in unserer Wahrnehmungswelt enthüllen. Gefüge und Ablauf der Wahrnehmungsakte, der gesetzmäßige Bau des intentionalen Lebens, entspricht dem formalen Bau der gegenständlichen Welt. Gegenstände wahrnehmen heißt, bestimmt geformte dingliche Einheiten wahrzunehmen. Das Fortschreiten von Akt zu Akt ist ein Fortschreiten im Zusammenhang der einen dinglichen Welt.
β) Geist als Verstand und Wille
Der Geist, der mit seinem intentionalen Leben das sinnliche Material in ein Gefüge ordnet und, indem er das tut, in eine gegenständliche Welt hineinschaut, heißt Verstand oder Intellekt. Die sinnliche Wahrnehmung ist seine erste, seine unterste Leistung. Er kann noch mehr: Er kann sich zurückwenden: reflektieren und damit das sinnliche Material und sein eigenes Aktleben erfassen; er kann ferner an den Dingen und an seinem eigenen Aktleben den formalen Bau zur Abhebung bringen: abstrahieren. »Er kann« – d. h. er ist frei. Das erkennende, das »intelligente« Ich erfährt die Motivationen, die von der gegenständlichen Welt herkommen, es greift sie auf und geht ihnen frei-willig nach; es ist notwendig zugleich wollendes Ich, und von seinem willentlichen geistigen Tun hängt es ab, was es erkennt. Der Geist ist Verstand und Wille zugleich, Erkennen und Wollen stehen in Wechselbedingtheit.
γ) Intentionalität des Fühlens; Freiheit im Gefühlsleben, Wollen und Handeln
Die Materie, die geistiger Formung unterliegt, sind nicht bloß sinnliche Empfindungen, und die Welt, in der wir leben, ist keine bloße Wahrnehmungswelt. Beides hängt zusammen. Das Tier empfindet Lust und Unlust und wird eben dadurch in seinen Reaktionen bestimmt. Der Mensch empfindet Lust und Unlust an gewissen Dingen, die ihm eben damit als angenehm oder unangenehm erscheinen. Er fühlt sich bedrückt oder erhoben, und eben damit erscheinen ihm die Dinge erhaben oder bedrohlich. Sein Gefühlsleben ist zugleich eine Skala innerer Zuständlichkeiten, in denen es sich selbst als ein so und so »gestimmtes« findet, und eine Mannigfaltigkeit intentionaler Akte, in denen ihm gegenständliche Qualitäten, die wir Wertqualitäten nennen, zur Gegebenheit kommen. Auf die nähere Analyse dieser Mannigfaltigkeit müssen wir vorläufig verzichten. Es sollte zunächst gezeigt werden, daß auch hier sich eine geistige Formung in Gestalt einer doppelten Intentionalität vollzieht. Es wird dadurch auf der gegenständlichen Seite die Welt als Wertewelt erschlossen: als eine Welt des Angenehmen und Unangenehmen, des Edlen und Gemeinen, des Schönen und Häßlichen, des Guten und Schlechten, des Heiligen und Profanen; und wiederum als eine Welt des Nützlichen und Schädlichen, des Begeisternden und Abstoßenden, des Beglückenden und Beseligenden oder Bedrückenden und Niederschmetternden (die eine Reihe als Skala der objektiven Werte, die andere als Skala ihrer Bedeutungen für das ergriffene Subjekt); es wird auf der andern Seite etwas am Menschen selbst enthüllt: ein eigentümlicher Bau seiner Seele, die von den Werten in verschiedener Tiefe, verschieden heftig und nachhaltig ergriffen wird. Und analog wie im Wahrnehmungsbereich haben wir hier ein Zusammenspiel von Passivität und Aktivität, von Ergriffenwerden und Freiheit. Das Können ist dabei ein mehrfaches: Auch die Werte fordern zu näherer Betrachtung, zu tieferem Eindringen auf – ich kann dem Folge leisten oder nicht, kann es in der einen oder andern von verschiedenen möglichen Richtungen tun. Es ist aber auch das innere Ergriffenwerden etwas, was der Freiheit einen Angriffspunkt bietet: Ich kann mich einer Freude, die in mir aufsteigt, hingeben, kann ihr gestatten sich auszuwirken, und ich kann mich ihr versagen, sie unterbinden, ihr keinen Raum lassen. – Und schließlich noch ein Drittes: Werte motivieren nicht nur ein Fortschreiten im Erkenntniszusammenhang, auch nicht nur eine bestimmte gefühlsmäßige Antwort, sie sind Motive noch in einem neuen Sinn, sie fordern eine bestimmte Willensstellungnahme und ein entsprechendes Handeln: Das Verbrechen verlangt nicht bloß Empörung, sondern Strafe und Abwehr. Und wiederum ist ein reaktives Stellungnehmen und Handeln möglich und demgegenüber eine freie Entscheidung, die im Sinne der unwillkürlichen Stellungnahme oder