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und jenes probieren, das Haar lösen, das Haar aufstecken, sich drehen und wenden. Sie tat es gar nicht ungern. Ihre durch das Schicksal von Zeitun verschüttete Lebenslust begann sich zu regen und die Wangen leicht zu färben.

      »Du bist wirklich eine Heuchlerin, ma petite«, gestand Juliette. »Man könnte meinen, du hättest nie etwas anderes getragen als eure Kittel und womöglich noch einen türkischen Schleier vor dem Gesicht. Dann aber ziehst du meine Kleider an und bewegst dich in ihnen, als würdest du dein Lebtag nur an Putz denken. Nicht ungestraft hast du in Lausanne die französische Kultur gerochen.«

      Eines Abends verlangte Juliette von ihr, sie möge eine der »großen«, eine der ausgeschnittenen und ärmellosen Roben anlegen. Iskuhis Gesicht verdunkelte sich:

      »Aber das ist doch unmöglich. Ich kann es ja nicht mit meinem Arm.«

      Juliette warf einen bekümmerten Blick auf sie:

      »Das ist wahr! … Aber wie lange wird die Geschichte noch dauern? Zwei, drei Monate. Dann sind wir wieder in Europa. Und dich, Iskuhi, nehme ich mit. Darauf gebe ich dir mein Wort. In Paris und in der Schweiz gibt es einige Anstalten, die solche Leiden heilen.«

      Fast zur gleichen Stunde, in der Gabriel Bagradians Gattin solche kühne Hoffnungen hegte, kamen die ersten verschmachteten Züge der Ausgestoßenen in Deir es Zor am Rande der mesopotamischen Küste ans Ziel.

      Nicht immer war Iskuhi so scheu und schweigsam. Wenn die Schreckensbilder sich für längere Zeit entfernten, wenn das Kaleidoskop-Gesicht sie freigab, konnte sie plötzlich wieder lachen und mit Lust und Laune allerlei Spaßhaftes aus Zeitun erzählen. Daß sie aber eine Liederseele war, entdeckte erst Stephan, der sich seit neuerem am Nachmittag aus der Werkstätte der Frauen nicht fortrührte. Juliette hatte sich wieder einmal in ein Thema verbissen, das ihrem Mann schon manche trübe Stunde bereitet hatte. Merkwürdigerweise wurde sie durch Iskuhi, in Gabriels Stellvertretung, besonders dazu gereizt, über das armenische Volk abfällige Bemerkungen zu machen und ihm das Lichtmeer der gallischen Zivilisation entgegenzuhalten wie einem halbdunkeln Winkel:

      »Ihr seid ein altes Volk«, eiferte sie, »gut! Ein Kulturvolk! Meinetwegen! Aber wodurch beweist ihr eigentlich, daß ihr ein Kulturvolk seid? Nun ja, ich weiß schon. Die Namen, die ich immer wieder hören muß: Abovian, Raffi, Samanto! Aber wer kennt diese Leute? Außer euch niemand auf der Welt. Eure Sprache kann ein europäischer Mensch nie begreifen und sprechen. Ihr habt keinen Racine und Voltaire gehabt. Und ihr habt keinen Catulle Mendès und keinen Pierre Loti. – Hast du je etwas von Pierre Loti gelesen, meine Liebe?«

      Iskuhi hob, von dieser bitteren Rede betroffen, aufmerksam den Kopf:

      »Nein, Mad... nein, ich habe nichts gelesen.«

      »Es sind Bücher aus fernen Ländern«, stellte Juliette mißbilligend fest, als wäre das Grund genug für Iskuhi, diesen Pierre Loti zu kennen. Es war nicht gerade nobel von Juliette, mit solchen erdrückenden Vergleichen zu arbeiten. Doch sie befand sich jetzt in der Lage, das Ihre gegen eine mächtigere Umgebung zu verteidigen, und so war's nicht unverständlich. Man merkte den Augen Iskuhis an, daß sie manches zu sagen hatte. Aber es kam nach einer Weile nur ein einfacher Satz heraus:

      »Wir haben alte Gesänge, die sehr schön sind.«

      »Singen Sie etwas, Mademoiselle«, bat Stephan, der sie aus einer Zimmerecke heraus betrachtete. Iskuhi hatte ihn kaum bemerkt. Jetzt aber wurde es ihr klar wie noch nie, daß der Sohn der Französin ein echter armenischer Knabe war, ohne den Hauch einer fremdstämmigen Wesenheit, unter der blassen Stirn die unverkennbaren Augen seines Volkes, die in ihrem ganzen Leben doch nur Gutes und Angenehmes gesehen hatten. Vielleicht war es diese Erkenntnis, aus der heraus sie ihren inneren Widerstand bezwang und sich zum Singen entschloß. Sie sang nicht, um die Zweiflerin Juliette vom Werte armenischer Lieder zu überzeugen. Sie sang nur für Stephan, als sei es ihre Pflicht, diesen entfremdeten Knaben in seine und in ihre Welt zurückzuführen. Iskuhi hatte eine dünne hauchige Stimme, keinen schönen Frauensopran, eher die Stimme eines kleinen Mädchens. In den traurig-rhythmischen Melodien aber erklang die Stimme nicht nur kindlich, sondern mehr noch priesterinnenhaft. Sie begann mit jenem Gesang, den sie aus Yoghonoluk in die Waisenschule von Zeitun verpflanzt hatte, dem Gesang »vom Kommen und Gehn«, der weniger wegen seines weisen Textes als seiner getragenen Melodie zu einem Arbeitslied der sieben Dörfer geworden war:

      »Die Unglückstage ziehen vorbei

       Gleich den Tagen des Winters, sie kommen und gehn.

       Die Schmerzen der Menschen bleiben nicht lang,

       Wie die Kunden im Laden, sie kommen und gehn.

      Verfolgungen, blutige, peitschen das Volk.

       Die Karawanen, sie kommen und gehn.

       Die Menschen entkeimen dem Garten der Welt.

       Ob Bilskraut, ob Balsam, sie kommen und gehn.

      Nicht stolz sei der Starke, der Schwache nicht bleich!

       Das Leben vertauscht sie, sie kommen und gehn.

       Die Sonne strahlt furchtlos ihr ewiges Licht,

       Die Wolken am Altar, sie kommen und gehn.

      Die Welt ist ein Herbergshaus, Sänger, am Weg.

       Die Gäste, die Völker, sie kommen und gehn.

       Mutter Erde umherzt das gebildete Kind,

       Unwissende Rassen verkommen, vergehn.«

      Während des Gesanges spürte Juliette ganz rein an Iskuhi jenes Undurchdringliche, das in Gestalt der Schüchternheit, der Trauer, ja auch in der abwehrenden Entgegennahme von Geschenken all ihren Bemühungen hartnäckig widerstand. Da sie nicht alles aufgefaßt hatte, ließ sie sich das Lied zum Teil übersetzen. Bei der letzten Strophe triumphierte sie:

      »Da sieht man wieder, wie hochmütig ihr seid. Das gebildete Kind, zu dem sich Mutter Erde so schmeichelhaft benimmt, ist das Armeniertum und die unwissenden Rassen, das sind alle anderen ...«

      Stephan verlangte fast herrisch:

      »Noch etwas, Iskuhi!«

      Juliette aber wollte etwas Leidenschaftliches hören. Nichts zum Nachdenken und nichts, wo von gebildeten Kindern und unwissenden Rassen die Rede ist: »Ein echtes Chanson d'amour, Iskuhi!«

      Iskuhi saß regungslos auf ihrem Stuhl, ein bißchen nach vorne gebeugt. Die linke Hand mit den eingekrümmten Fingern lag in ihrem Schoß. Da die tiefgetönte Sonne hinter ihr das Fenster füllte, war ihr Gesicht dunkel und ihre Züge nicht wahrnehmbar. Nach einer kleinen Frist schien sie in ihrer Erinnerung etwas gefunden zu haben:

      »Ich kenne ein paar Liebeslieder, die man hier singt. Das hab ich mir alles gemerkt, als ich noch sehr klein war und gar nichts davon verstand. Eines davon besonders. Es ist ganz verrückt. Eigentlich müßte es ein Mann singen, obgleich das Mädchen dabei die Hauptsache ist.«

      Die Kleinmädchen- und Priesterinnenstimme kam wie aus dem Leeren. Die wilde Strophe stand in einem höchst eigentümlichen Gegensatz zu dieser kühlen Stimme:

      »Sie kam aus ihrem Garten

       Und hielt an ihre Brust gepreßt

       Zwei Früchte des Granatbaums,

       Zwei glänzend große Äpfel.

       Sie gab sie mir, ich nahm sie nicht.

       Da schlug sie mit der Hand,

       Da schlug sie mit der Hand sich an ihr Brustbein,

       Schlug dreimal, sechsmal, zwölfmal,

       Schlug, bis der Knochen brach.«

      »Noch einmal«, forderte Stephan. Iskuhi aber war zu einer Wiederholung nicht zu bewegen, denn Gabriel Bagradian hatte leise die Tür geöffnet und war ins Zimmer getreten.

      In diesen Tagen belebte sich das Haus Bagradian immer mehr. Zu jeder Mahlzeit fast kamen Gäste. Juliette und Gabriel waren zufrieden mit dieser Bewegung. Es fiel ihnen jetzt schwer, miteinander allein zu bleiben. Auch verging die Zeit viel schneller. Jeder abgelebte Tag war ein Sieg, denn er befestigte die Hoffnung,

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