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konnte sich die Frage nicht versagen:

      »Was bedeutet Dreizeltplatz?«

      Gabriel aber war schon weitergegangen und hörte nicht. Ich muß einem Träumer beim Träumen helfen, urteilte der Student. Doch gerade was mit dem Dreizeltplatz gemeint war, sollte er schon zwei Tage später erfahren.

      Als Doktor Altouni den Verband von Iskuhis Arm und Schulter abnahm, wurde er sehr mürrisch:

      »Ich habe es mir gedacht. Wären wir in einer großen Stadt, könnte alles noch gut werden. Du hättest in Aleppo bleiben sollen, mein Augenlicht, und dort ins Hospital gehen. Aber vielleicht hast du recht gehabt, hierherzukommen. Wer kann das in solchen Zeiten voraussagen? Nun, sei mir nicht verzweifelt, Seele! Wir werden ja noch sehen!«

      Iskuhi beruhigte den Alten:

      »Ich bin gar nicht verzweifelt, Arzt. Es ist ja glücklicherweise der linke Arm.« Iskuhi glaubte den schwachen Tröstungen Altounis nicht. Sie sah flüchtig an sich herab. Schlaff, abgezehrt, verkürzt hing ihr Arm aus der Schulter. Bewegen konnte er sich nicht. Doch sie fühlte sich schon zufrieden, weil sie keine Schmerzen mehr litt. Nun würde sie wohl für immer ein Krüppel bleiben. Aber war das nicht ein gelindes Opfer, wenn Iskuhi an das Schicksal des Transportes dachte, mit dem sie nur zwei flüchtige Tage lang hatte wandern müssen? (Auch sie war in ihrem Innern wie das ganze Volk hier sonderbar zukunftslos.) Ihren Nächten aber entstiegen die grauenhaftesten Bilder und Geräusche. Das Schlurfen, Scharren, Tappen, Traben von tausend Füßen. Müd winselnde Kinder, die hinfallen, und sie muß trotz ihrem Gebrechen zwei und drei zugleich hochreißen. Irrsinnige Aufschreie an der Spitze des Zuges und schon toben knüppelschwingende Saptiehs mit blutunterlaufenen Augen heran. Das Gesicht des Vergewaltigers überall! Es bestand nicht nur aus einem, sondern aus dreißig Gesichtern, und es erschienen manche darunter, die sie kannte und die nicht einmal widerlich waren. Meist aber starrte es schmutzig, borstig, blutbesudelt auf sie herab. Auf den wulstigen Lippen platzten Speichelblasen. So genau konnte sie die überlebensgroße kaleidoskopische Fläche sehen, die sich über sie beugte und sie in eine knoblauchscharfe Betäubungswolke einhüllte. Sie wehrte sich und schlug ihre Zähne in die haarigen Affenhände, die ihre Brüste umspannten. Aber was half das? Ich habe nur einen Arm, überlegte sie, als wäre das ein mildernder Umstand dafür, daß sie sich dem Grauen anheimgab und das Bewußtsein verlor.

      Die Tage, die solchen Nächten folgten, glichen den Tagen von Malariakranken, bei denen die Körpertemperatur von hohen Fiebergraden ohne Übergang tief unter das Maß stürzt. Ein Schleier legte sich dann auf ihre Sinne, und vielleicht war er die Ursache, daß sie ihr Unglück so leicht ertrug. Der gelähmte Arm hing wie ein Hindernis an ihrer linken Seite. Ihr Körper aber, jung und voll Lebenskraft, stellte sich von Tag zu Tag geschickter auf das Gebrechen ein. Sie gewöhnte sich daran, ohne dessen recht inne zu werden, jede Tätigkeit mit der rechten Hand auszuführen. Es beruhigte sie tief, daß sie keiner Hilfe bedürftig war. Iskuhi lebte nun schon ziemlich lange im Haus Bagradian. Vor einiger Zeit war Pastor Aram Tomasian erschienen, hatte für die gütige Aufnahme seiner Schwester gedankt und erklärt, er wolle sie nun abholen, da er in der Nähe der väterlichen Wohnung ein leerstehendes Haus habe instand setzen lassen. Gabriel Bagradian zeigte sich bitter gekränkt:

      »Warum, Pastor Aram, wollen Sie uns Fräulein Iskuhi entführen? Wir lieben sie alle, und meine Frau am meisten.«

      »Fremde Leute im Hause sind auf die Dauer lästig.«

      »Das ist ein sehr stolzer Standpunkt. Sie wissen es selbst, daß Fräulein Iskuhi ein Wesen ist, das man leider viel zuwenig im Hause spürt, so leise und zurückgezogen. Und dann: Haben wir nicht alle hier das gleiche Schicksal?«

      Aram sah Gabriel mit einem langsamen Blick an:

      »Ich hoffe, daß Sie unser Schicksal nicht rosiger sehen, als es in Wirklichkeit ist.«

      In diesen kritischen Worten verbarg sich ein leichter Argwohn gegen den Landfremden und Wohlgeborgenen, der keine Ahnung von dem Entsetzen dort draußen zu haben schien. Aber gerade die mißtrauische Zurückhaltung des Pastors erfüllte Bagradian mit freundschaftlichen Regungen. Seine Stimme klang sehr warm:

      »Es tut mir leid, daß Sie nicht bei uns wohnen, Pastor Aram Tomasian! Doch ich bitte Sie, sooft Sie nur Lust haben, hierherzukommen. An unserem Tisch werden von heut an immer zwei Plätze für Sie gedeckt sein. Nehmen Sie mir meine Bitte nicht übel und machen Sie uns die Freude, wenn es für Ihre Frau nicht zu beschwerlich ist.«

      Noch unwilliger darüber, daß Iskuhi eine neue Wohnung hätte beziehen sollen, zeigte sich Juliette. Zwischen den beiden Frauen hatte sich eine eigenartige Beziehung angesponnen, und es kann nicht geleugnet werden, daß Juliette um die junge Armenierin warb. Die feinste Wahrheit über solche Dinge läßt sich freilich nur ungenau andeuten und der Sinn des Wortes »Werben« entspricht dieser Wahrheit bloß oberflächlich. Für ihre neunzehn Jahre war Iskuhi eigentümlich unerweckt, besonders wenn man an den Orient und die Frühreife seiner Frauen denkt. In Madame Bagradian sah das junge Mädchen die große Dame, unendlich überlegen an Schönheit, Herkunft, Wissen, Wesen. Wenn die beiden in Juliettens Zimmer im oberen Stockwerk beisammen saßen, schien Iskuhi auch in vertrauter Gemeinschaft ihre Schüchternheit nicht überwinden zu können. Vielleicht auch litt sie in solchen Stunden an dem Müßiggang, zu dem sie verurteilt war. Juliette wiederum, die Iskuhi suchte, fühlte sich in ihrer Nähe nicht ganz sicher. Obgleich dies unerklärlich erscheint, verhielt es sich so. Es gibt Menschen, die keineswegs durch Rang und Wesen hervorstechen müssen, und doch befällt uns in ihrer Gegenwart ein Gefühl des Kleinmutes. In ihrem Umkreis kommen wir uns selbst, und zwar ohne jeden zureichenden Grund, unecht oder geschraubt vor. Vielleicht war jene redselige Lebhaftigkeit, die Juliette in Fräulein Tomasians Gesellschaft befiel, auf etwas Ähnliches zurückzuführen. Sie konnte Iskuhi lange anstarren und dann in folgende Worte ausbrechen:

      »Weißt du, daß ich im Grunde die Orientalinnen mit ihrer Faulheit und ihren schlaffen Bewegungen alle verabscheue. Nicht einmal bei uns kann ich Brünette leiden. Aber du bist ja gar keine Orientalin, Iskuhi. Wenn du so gegen das Licht sitzt, hast du ganz blaue Augen …«

      »Das sagen Sie, Madame«, erschrak Iskuhi, »mit Ihren Augen und Ihrem blonden Haar?«

      »Wie oft soll ich dich noch bitten, meine Liebe, mich nicht Madame zu nennen, sondern Juliette und du? Mußt du mir immer unter die Nase reiben, daß ich die viel Ältere bin?«

      »O nein, das will ich wirklich nicht … Verzeihen Sie … Verzeih …« Juliette mußte über die Arglosigkeit lachen, die einem koketten Scherz mit ernsten, beinahe entsetzten Augen begegnete.

      Iskuhi hatte fast ihre ganze Habe in Zeitun lassen müssen. Das kleine Gepäck, das die Tomasians auf den Verschickungsweg mitnehmen durften, war irgendwo in den unwirtlichen Feldern jenseits der großen Stadt liegengeblieben. Sie besaß also nichts anderes als die verbrauchten Kleider, die zerrissenen Schuhe und Strümpfe, mit denen sie nach Yoghonoluk entkommen war. Juliette zog sie von Kopf bis Fuß neu an. Das machte ihr selbst große Freude. So kam doch endlich der Kabinenkoffer voll Kleider, der die Reise von Paris über Stambul, Beirut in diese Einsiedelei (man konnte ja niemals wissen) treulich mitgemacht hatte, zu seiner Geltung. Zwar mit Frauengewändern geht es wie mit dem Sommerlaub; sie verwelken im Herbst der Mode, mögen Stoff und Seide noch so gut und köstlich sein. Juliette wußte nichts mehr von den Fortschritten der Mode in Paris. So erfand sie denn eine eigene, »nur nach dem Gefühl«, und begann für sich und Iskuhi ihren Kleiderschatz umzuschneidern und zu verändern. Diese leidenschaftlich geübte Nachmittagsarbeit löste die Vormittagsarbeit im Haus und Garten auf das sinnvollste ab. Juliette hatte wirklich kaum Gelegenheit, zu sich zu kommen. Die Modewerkstätte wurde in einem der leeren Zimmer aufgeschlagen. Zwei geschickte Mädchen aus Yoghonoluk wählte die Herrin als Gehilfinnen aus. In den Dörfern sprach sich die Sache herum. Jeden Augenblick erschienen Frauen und boten alte und neue Seiden- und Spitzengewebe zum Kaufe an. Juliette erwarb einen Vorrat, mit dem sie den gesamten Frauenflor eines Ballfestes hätte gewanden können. Die Stunden gingen hin. Fruchtbar an zauberhaften Eingebungen wie sie war, warf sie, ohne die »Vogue« zum Vorbild zu haben, ihre Entwürfe aufs Papier. Manches davon wurde in Taten umgesetzt. Der Zweck spielte keine Rolle. Die arme Iskuhi freilich konnte bei der Arbeit nur zuschauen.

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