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diesen Ratsbeschluß aber auch unter den geänderten Umständen zu verwirklichen, hätte man den neuen Brauch einbekennen müssen, was dessen Verhinderung gleichgekommen wäre. So unterblieb denn jegliche Maßnahme des Schutzes. Die Muchtars vertrauten auf Gott, auf die wohlverborgenen Weiden, auf die Trägheit der Türken und redeten im übrigen weder miteinander noch mit den anderen Führern über dieses ordnungswidrige Geheimnis hinter ihrem Rücken. Sie ermöglichten daher den Türken, die ihren guten Kundschaftern dankbar sein mußten, einen ebenso wohlfeilen wie einträglichen Erfolg.

      Zwei Züge Infanterie und eine Abteilung Saptiehs bekamen den Befehl, nächtlicherweile auszurücken und den Musa Dagh jenseits des Passes bei Bitias in aller Stille zu ersteigen. Stille und Behutsamkeit mußte man Offizier und Mannschaft wahrhaftig nicht einschärfen. Diesmal marschierte die Streitmacht trotz der mondlosen Nacht, wie es das taktische Lehrbuch vorschreibt, mit Vorpatrouille, Spitze, Seiten- und Nachhut, jeden Schritt ängstlich abwägend. Diese schreckhafte Vorsicht war das unbezahlbare Kapital, das sich Gabriel Bagradian und seine Zehnerschaften im Herzen der Türken erworben hatten. Die Halbkompanie pirschte sich mit abgeblendeten Laternen an die schlafenden Schäfer und Schafe heran. Bis zum letzten Augenblick vermutete der kommandierende Mülasim, es werde ohne Kampf nicht abgehen. Um so erstaunter aber waren die Soldaten, als sie nur ein paar Greise in weißen Pelzen vorfanden, die sich ohne Lärm und in aller Ruhe von ihnen erschlagen ließen. Die Herden wurden dann noch vor Sonnenaufgang in größter Eile, als sei die Beute in Gefahr, zu Tal getrieben. Damit war dem Volke des Damlajik der Lebensnerv durchschnitten. Unter den geraubten Tieren befanden sich alle Schafe, Hammel und Lämmer der Gemeinschaft, der größte Teil der Ziegen sowie sämtliche Esel bis auf jene, welche von den Verteidigern zur Zeit als Last- und Reittiere verwendet wurden. Rechnete man den ganzen Viehstand, der im Lager zurückgeblieben war, bis zum letzten Pfund Fleisch großmütig zusammen, so konnte man mit der äußersten Sparsamkeit noch drei oder vier Tage auskommen, dann aber stand das Volk unabwendbar vor dem nackten Hunger.

      Als Ter Haigasun am frühen Morgen die Schreckensnachricht erhielt, ließ er sofort den Führerrat zusammenrufen. Er wußte genau, welche seelische Wirkung dieses Ereignis auf das Volk haben werde. Seit jenem Zornausbruch gegen Juliette Bagradian war eine grund- und ziellose Erbitterung in der Stadtmulde angewachsen, die der erstbesten Gelegenheit wartete, um loszubrechen. Wie gerne hätte Ter Haigasun die Katastrophe verheimlicht oder ihr eine Fassung gegeben, die Schuld und Verantwortlichkeit der Führung ausschloß. Dies aber war leider unmöglich. Die Gewählten eilten oder schlichen, je nach ihrem Charakter oder Gewissen, in die Regierungsbaracke. Alle waren bestrebt, den Sitzungsraum zu erreichen, ehe sich noch auf dem Altarplatz irgendwelche Ansammlungen gebildet hatten. Die Männer machten teils einen verzweifelten, teils einen betretenen, teils einen unsicher überheblichen Eindruck. Ter Haigasun hatte zur Vorsicht die zwölf Mann der Stadtpolizei zum Schutze der Regierung beordert. Tschausch Nurhan Elleon bekam den Auftrag, für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung innerhalb der Lagergrenzen rücksichtslos Sorge zu tragen.

      Der Führerrat war bisher nur selten vollzählig zusammengetreten. In Wirklichkeit hatte ein Triumvirat alle Geschäfte geführt, Gabriel Bagradian den Krieg, Aram Tomasian die innere Verwaltung, während Ter Haigasun als Volksoberhaupt in allen Angelegenheiten die letzte Entscheidung traf. Heute aber in dieser kritischen Stunde erschienen alle Führer, ausgenommen Gabriel Bagradian, der seit dem Begräbnis Stephans den Dreizeltplatz noch nicht verlassen hatte. Pastor Aram war glücklich darüber, Gabriel nicht heute begegnen zu müssen. Diesen hatte ein namenloses Unglück getroffen, und der Pastor fühlte sich nicht hart genug, ihn wenige Stunden später schon zur Rede zu stellen. Auch waren die Dinge unlösbar verwickelt. Tomasian hatte sich Howsannahs strengen Wünschen gebeugt, das Zelt samt seinem Inventar dem Verwalter Kristaphor übergeben und das »Babylon« der bisherigen bequemen Wohnstätte verlassen, um mit Frau und Kind in die enge Hütte seines Vaters zu ziehen. In seinem Herzen bedauerte er Howsannah um dieses schlechten Tausches willen. In der Pastorin aber, die doch soviel Sinn für häusliche Schönheit besaß, war eine bissige, ja krankhafte Sucht nach Armut, Dürftigkeit, Härte erwacht. Am schmerzlichsten schlug Arams Gewissen Iskuhis wegen. Er war davon abgekommen, einen Zwang auf das Mädchen auszuüben. Der Grund dafür lag keineswegs in moralischer Duldsamkeit, sondern in der schwierigen Tatsache, daß es für Iskuhi, als Trägerin einer so furchteinflößenden Ansteckungsgefahr, keine andere Unterkunft gab als die bisherige. Nach den Vorschriften der Sanitätskommission wäre sie in einer Hütte der Stadtmulde gar nicht geduldet worden. Durch seine eigene Flucht aus dem Zelt aber verurteilte Tomasian seine Schwester zu einer lasterhaften Dreisamkeit mit Gabriel Bagradian und einer Todkranken. Was bisher kaum jemanden befremdet hatte, dem verhalf der Pastor durch seine auffällige Übersiedlung zu gefährlicher Wirklichkeit. Er selbst also machte sich der Erniedrigung seiner trotz allem tiefgeliebten Schwester schuldig.

      Außer Bagradian gab es noch ein Mitglied des Führerrates, das an dieser kritischen Sitzung nicht teilnahm, obgleich es anwesend war. Apotheker Krikor hatte schon am vergangenen Morgen sein Lager nicht mehr verlassen können. Wie formlose Klumpen lagen seine Glieder da, und er vermochte keinen Finger mehr zu rühren. Bedros Hekim hatte verzweifelt in seinem »Handbuch der Medizin für praktische Ärzte« geblättert, ohne aus den lateinischen Namen der unzähligen Krankheiten klug werden zu können. Diesmal half ihm der gewöhnliche Trost nicht: Nun, und wenn ich auch den Namen verstünde, wüßte ich dann mehr? Er steckte das Buch wieder ein, als sei alles in Ordnung. Seine grimmige Miene verriet dem Patienten nichts von seiner hilflosen Entmutigung, und schon dadurch bewies er, daß er ein guter Arzt war. Dann verordnete er Wärme, Ruhe und überließ, was die Arzneien betraf, dem Apotheker füglich die Auswahl unter seinen eigenen Giftmischungen. Diesem aber konnten weder Arzneien noch auch Wärme helfen. Das einzige, wonach er sich gierig sehnte, war Ruhe, schmerzlose Ruhe. Doch gerade Ruhe bekam er mit Rücksicht auf seine parlamentarische Behausung nicht geschenkt. Zwischen seinem Schmerzenslager und den Geschäften der Welt hatte er eine hehre Scheidewand aufgerichtet. Hinter dieser, aus seinen Büchern erbauten Mauer hoffte er allein zu sein und dem Lärm entrückt. Doch es zeigte sich wieder einmal, daß kein geistiger Wall der Dichtung, Weisheit, Wissenschaft undurchdringlich genug ist, um den gemeinen Lärm der Politik abzuhalten. Dieser Lärm war heute von allem Anfang an beängstigend. Insbesondere die Muchtars konnten sich nicht genugtun. Sie suchten durch Stimmaufwand und Erregung ihre eigene Schuld zu ertränken. Endlich trat Ter Haigasun in die Mitte des Raumes und befahl, daß sich alles niederlasse. Kaum vermochte er seine Stimme zu bändigen:

      »Wenn bei einer kriegführenden Truppe«, hob er an, »ein Verbrechen wie dieses geschieht, so werden die Verantwortlichen ohne Gnade erschossen. Wir aber sind nicht irgendein Militärbataillon, sondern ein ganzes, elendes Volk. Und wir fuhren nicht Krieg gegen einen Feind, der uns gleicht, sondern müssen uns gegen die Ausrottung durch eine hunderttausendfache Übermacht wehren. Nun ermesset das Verbrechen eures Leichtsinns und eurer Verlogenheit! Ich sollte euch nicht nur erschießen, ihr niederträchtigen Muchtars, sondern einzelweise jedes Glied eures Leibes töten. Und das schwöre ich euch, ich würde es mit Freuden tun und ohne vor Gottes Strafe zu zittern, wenn es uns auch nur die geringste Hilfe brächte. Doch ich bin gezwungen, den Schein unserer Einigkeit aufrechtzuerhalten, um die Autorität der Führung zu retten. Ich bin gezwungen, euch, ihr bodenlos pflichtvergessenen Muchtars, in eurem Amt zu belassen, weil jeder Personenwechsel die Ordnung gefährden könnte. Ich bin gezwungen, die Schuld auch auf mich zu nehmen und mit faulen Gründen und niedrigen Ausreden den Führerrat vor der gerechten Wut des Volkes zu verteidigen. Was Wali und Kaimakam und Bimbaschi und Jüsbaschi nicht gelungen ist, das habt ihr, die Führer und Verantwortlichen, glänzend zustande gebracht: Wir sind fertig!«

      Die Dorfschulzen sanken kleinlaut zusammen. Nur einer ließ sich nicht so leicht niederschmettern, der steinreiche Thomas Kebussjan. Pantoffelhelden, die zu Hause den Mund nicht auftun dürfen, halten sich bekanntlich oft im Männerrat schadlos. Kebussjan begann energisch zu schielen und mit dem Kopf zu wackeln. Jene glücklichen Leute, höhnte er, die nichts von Viehzucht und Wirtschaft verständen, hätten es leicht, sich wichtig zu machen. Er, ein Thomas Kebussjan, habe niemals verantwortungslos gehandelt. Jeder wisse, daß er sich bei Tag und Nacht für das Gemeinwohl aufopfere, Jahre und Jahre, seitdem er das verfluchte Kreuz der Ortsverwaltung auf sich genommen habe. Ein Ratsbeschluß und seine Ausführung, das sei zweierlei. Hätte er nicht geduldet, daß man neue Weiden finde, wären die Tiere schon vor vierzehn

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