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Sie war an ihm herabgeglitten und preßte den Kopf gegen seine Knie. In dieser Stunde bewegte sie nicht so sehr Stephans Tod wie Gabriels Dulderschaft. Nur sie wußte, wie scheu und bedürftig seine Seele war. Und doch hatte er sich entschlossen, eine brennende Welt auf seinen wunden Rücken zu nehmen, den ganzen Damlajik. Die Seinen aber hatten ihm die Sehnen durchschnitten, zuerst Juliette und nun der tote Sohn. Und Gabriel stand noch immer. Was war sie, was war Aram, was waren all die andern für nichtige Fliegen gegen ihn? Rohe, schmutzige Bauern, ohne Gedanken im Kopf, ohne Gefühle im Herzen, die nicht ahnten, wer zu ihnen herabgestiegen war. Iskuhi fühlte sich von ihrer eigenen Schwäche, ihrem eigenen Unwert zu Boden geschlagen. Was konnte sie leisten und opfern, um Gabriels würdig zu sein? Nichts! Sie streckte die offene Hand aus. Es war die Gebärde einer Bettlerin. Sie bettelte um ein Teilchen seines Schmerzes und seiner Last. Ihr Gesicht glühte vor Devotion und schmerzlichem Dienstbedürfnis, da sie vor dem Manne kniete, der noch immer nicht zu erkennen gab, daß er ihre Gegenwart spüre. Sie fing zu flüstern an, heißes, ungereimtes Zeug, vor dem sie selbst erschrak und sich schämte. Wie arm war sie, wie grauenhaft arm, daß sie gar keine Macht der Hilfe hatte. Endlich kam, aus der Verzweiflung geboren, ein mütterlicher Drang über sie, kaum bewußt: Es ist nicht gut, im Schmerz zu stehen. Im Schmerze soll man liegen. Schlafen. Er muß schlafen. Nur der Schlaf kann ihm helfen, nicht ich. Sie hakte seine Gamaschen auf, sie nestelte an seinen Schuhbändern, sie zwang ihn, sich auf ihr Lager zu setzen. Auch ihre lahme Hand nahm sie mit übermenschlicher Anstrengung dabei zu Hilfe. Es war ein hartes Werk, doch da Gabriel sich mechanisch selbst zu entkleiden begann, gelang es. Als Iskuhi ihn dann zudeckte, keuchte sie vor Erschöpfung. Sie fühlte einen schnell abgleitenden Blick ohne Ausdruck.

      Ich liege weich. Etwas andres wußte Gabriel nicht. Seit vielen Wochen schon hatte er kein andres Lager benützt als die nackte Erde der Nordstellung. Seine Zähne begannen zu klappern. Es war wie ein aus Qual und Wohlbehagen gemischter Schüttelfrost. Iskuhi kauerte sich in einen Winkel, damit er sie nicht fühle, ehe er ihrer bedurfte. Sie betete innerlich, daß ihn ein schwerer Schlaf endlich erlöse. Es drang aber nicht der Atem des Schlafes aus seiner Brust, sondern ein leises Summen und gleichmäßiges Stöhnen, das an die Totenklage erinnerte. Gabriel suchte noch immer in der leeren Öde seines Schmerzes nach Stephan, ohne ihn finden zu können. Das Summen aber schien sein Herz zu erleichtern, denn es hielt mit kleinen Unterbrechungen an, bis die Stunde kam, in der die Augustsonne einen langen Strahl durch den Vorhangspalt zu schicken pflegte. Der Strahl rückte vor und ließ Juliettens Gesicht aufflammen. Da sah Iskuhi, daß sich die Verfassung der Kranken plötzlich geändert hatte. Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen, die Augen waren weit offen, und den Kopf hielt sie lauschend in den Raum gewandt. Eine tiefe Begeisterung erfüllte Juliette. Noch aber konnte sie sich mit ihrer lahmen und wunden Zunge kaum verständlich machen:

      »Glocken ... Gabriel ... Hörst du ... Glocken ... Hundert Glocken ... Nicht wahr ...?«

      Das Stöhnen auf dem anderen Lager verstummte jäh. Juliette aber versuchte, sich erregt hochzuarbeiten. Sie spannte ihre kraftlose Stimme zu einem Jubelschrei an:

      »... Nun ist die ganze Welt französisch ...«

      Diese Worte aber enthielten eine Wahrheit, von der Juliette in den Glockenmeeren ihres patriotischen Siegestraumes nichts ahnte. Mit dem vergossenen Blut Stephans, mit dem Tode des einzigen Sohnes, den sie dem Armeniervolke geschenkt hatte, war für sie die ganze Welt in Wirklichkeit wieder französisch geworden.

      Viertes Kapitel

       Zerfall und Versuchung

       Inhaltsverzeichnis

      Am einunddreißigsten Tage des Musa Dagh fand Stephans Begräbnis statt. Am zweiunddreißigsten jedoch trat die große Katastrophe ein.

      Bis zu diesem Tage hatte das Volk der sieben Gemeinden nicht unzufrieden sein dürfen. Während um dieselbe Zeit zwischen Aleppo und Deïr es Zor, in den Engpässen und Talbreiten des Euphrat, auf den Steppen und Wüstenrändern Mesopotamiens schon Hunderttausende Armenier faulten – die Hälfte aller Deportierten beinahe –, waren in der Stadtmulde, in den Stellungen, im Lazarettschuppen und Seuchenwald noch keine zweihundertachtzig Menschen gefallen und gestorben. Im Hinblick auf die blutigen Schlachten, auf Unterernährung, Seuche, Strapazen, Schlafmangel und Entbehrungen aller Art bewies dieser mäßige Prozentsatz des Todes nicht nur die ungemeine Widerstandskraft der Bergsöhne, sondern auch die Unterstützung des Himmels. Es war höchst merkwürdig, überall, wo die Armenier gegen Enver und Talaat rebellierten, griff sofort eine rettende Macht mit unheimlicher Präzision ein und entschied die Sachlage zugunsten der Tapferen. Die Leute des Musa Dagh freilich konnten nicht wie die ostanatolischen Aufständischen von Wan und Bitlis mit dem Einmarsch der Russen rechnen, die den Todfeind der Armenier, General Dschewjed Pascha, vor sich hertrieben. Das unendliche Land des Islams mit Berg und Steppe umbrandete sie noch erbarmungsloser als das Meer. Und dieses Meer in ihrem Rücken? Es blieb unfaßbar tot, so nach wie vor. Kein Kind gab sich der Hoffnung mehr hin, ein Kriegsschiff werde die syrische Küste passieren. Und selbst, wenn wider alle Vernunft, durch ein unglaubwürdiges Wunder solch ein Kriegsschiff am Horizont erschiene, wer war noch dumm genug anzunehmen, die Schiffswache werde das lächerliche Schnupftuch bemerken, das auf der Schüsselterrasse von einer Stange herabhing? Nun war schon mehr als eine Woche vergangen, und die Schwimmer von Alexandrette kamen nicht heim. Man gab sie verloren. Nur einige unheilbare Romantiker versuchten in diesem langen Ausbleiben ein günstiges Zeichen zu sehen.

      Wie dies alles auch immer sein und werden mochte, noch lebte man. Sieben oder acht Verteidigungsabschnitte waren durch die glühende Brandwüste unangreifbar geworden, und die übrigen hatte Gabriel Bagradian auf das sinnreichste verstärkt und verändert. Die Türken schienen auch nicht die geringste Lust mehr zu haben, sich in ein Abenteuer einzulassen. In der Orontesebene und im Dörfertal wimmelte es von neuen Truppen und neuen Saptiehs, die den Tag totschlugen. Das feindliche Kommando hatte sich bisher nicht einmal zu einer nachlässigen Belagerung aufgerafft. Vielleicht wagte es nicht, eingedenk der Komitatschigefahr, den Berg im Umkreis zu besetzen, vielleicht erwartete es vorerst die nötige Artillerie. Auch mit der elenden Ernährung hatte sich das Lager bis zu einem gewissen Grade abgefunden. Furchtbar war die Entbehrung des Brotes. Die Weiber jedoch experimentierten mit Ersatzmitteln und Zutaten. Man aß nicht mehr das bloße Fleisch wie zu Beginn. Der magere zähe Happen reichte nicht aus, den Magen zu füllen. Man zerschnitt deshalb das Fleisch in kleine Stücke und kochte es, mit Lauch und gemüseartigen Pflanzen vermengt, in seiner Suppe, wodurch wenigstens große Portionen zustande kamen. Das erfinderische Leben wäre mit diesen Schwierigkeiten noch eine geraume Weile fertig geworden, hätte nicht jener schwere Unglücksschlag allem ein jähes Ende gesetzt.

      Wer trug die Schuld? Nun, diese Schuld konnte niemals ganz aufgeklärt werden. Die verantwortlichen Muchtars schoben sie einer auf den andern. Fest stand nur, daß einer der ersten und wichtigsten Beschlüsse des Führerrates in verbrecherischem Leichtsinn zum Unheil des ganzen Volkes übertreten worden war. Die Muchtars hatten den »neuen Brauch« nicht nur nicht verhindert, sondern sogar wohlwollend geduldet, sie mochten jetzt sagen, was sie wollten, und jammernd immer wieder auf die erschöpften Almen innerhalb der Verteidigungsgrenzen hinweisen sowie auf die Notwendigkeit, den Herden frisches Futter zu schaffen. Gewiß! Die neuen Weideplätze lagen nicht fernab vom Nordsattel, sie waren auf die denkbar günstigste Art in das Felsgebiet des Musa Dagh eingesprengt und für Fremde so gut wie unsichtbar und unzugänglich. Durfte man jedoch den Schäfern vertrauen, die sich wie überall in der Welt aus träumerischen Greisen und kleinen Jungen zusammensetzten? Diese verschlafene Gesellschaft, die sich der Schafnatur angeglichen hatte, glaubte noch immer, man lebe in tiefem Frieden. Die Muchtars waren mit einem Wort in der Ausübung ihrer Dienstpflichten höchst lässig geworden und gaben sich damit zufrieden, wenn die Schäfer allmorgendlich mit der vorgeschriebenen Stückzahl von Schlachtvieh (dessen Gewicht sich übrigens seit dem neuen Brauch zusehends. verbesserte) bei den Fleischbänken erschienen. Als Mitglieder des Führerrates aber wollten sie nichts wissen. Um so gewissenloser und frevelhafter war mithin das zweite Versäumnis, das sie duldeten. Der Beschluß war sogar schriftlich ausgefertigt und von Ter Haigasun unterschrieben worden, solche Wichtigkeit hatte ihm der Senat beigemessen. Niemals sollten die Herden,

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