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kommt erst wieder zum richtigen Denken, als Doktor Freytag ihr vor die Füße fällt, und aus seiner Hand fließt der Lebensstrom unaufhaltsam weiter.

      Sie verliert alle Überlegung, ja alles klare Denken und Handeln, sonst hätte sie sehen müssen, daß die Schlagader getroffen ist.

      Mit einem Aufschrei rennt sie davon, stürmt den Flur entlang in das Zimmer, wo sie Doktor Müller vermutet und wo sie ihn auch antrifft.

      »Kommen Sie sofort, bitte, Herr Doktor – ein Unglück!«

      Müller stürzt hinter ihr her. Zunächst vermutet er Magda. Aber dann sieht er im Zimmer der diensttuenden Oberschwester, die augenblicklich von Anita vertreten wird, was geschehen ist. Freytag hat den Schrank eingeschlagen und sich dabei lebensgefährlich verletzt.

      Doktor Müller behält seine Ruhe. Mit Umsicht ordnet er alles Nötige an, und da Doktor Romberg noch im Hause ist, läßt er diesen in den Operationssaal rufen.

      Minuten später liegt Doktor Freytag auf dem Operationstisch. Über ihn neigen sich Doktor Romberg und Doktor Müller. Sybilla beobachtet die spukhaften Vorgänge nur aus der Ferne. Jeder ist an seinem Platz. Sie kann jede Handreichung von ihrem Platz aus beobachten, und sie beobachtet scharf.

      Sie bewundert Doktor Romberg, der sicher und gelassen wie immer arbeitet. Nicht, als hätte er eine schlaflose, arbeitsreiche Nacht hinter sich. Aber sie kann jetzt nicht von seiner Seite gehen, wenngleich ihre Hilfe am Operationstisch nicht nötig ist.

      Sie wartet mit unendlicher Geduld, bis alles vorüber ist und Freytag aus dem Operationssaal gefahren wird.

      Sie geht Romberg voraus in den Waschraum. Sie nimmt ihm Gummischürze, Gesichtsmaske und die Handschuhe ab.

      Er lächelt sie an. »Wie schön, daß Sie da sind«, sagt er, und es kommt aus tiefstem Herzen. Dabei ist sein Ton fast zärtlich, und er macht sie verlegen wie ein junges Mädchen.

      »Wie – konnte das – geschehen?« lenkt sie von ihrer Person ab und reicht ihm das Handtuch.

      »Das werde ich Ihnen erklären«, mischt Doktor Müller sich in das Gespräch, der noch eine Bluttransfusion überwacht hat und nun im Waschraum erscheint.

      »Sie wissen?« Sybilla stockt der Atem, so sehr betroffen ist sie von dem verbissenen Grimm, der aus Müllers Zügen spricht.

      »Dann wollen wir ins Ärztezimmer gehen«, schlägt Romberg vor, der stutzig geworden ist.

      Sybilla nimmt Müller gegenüber Platz. Romberg lehnt mit dem Rücken am Fenster.

      »Doktor Freytag ist Morphinist«, kommt es klar und sachlich von Müllers Lippen.

      Zwei erschrockene Ausrufe sind zunächst die Antwort. Dann bleibt es still.

      »Und er hat sich selbst die Pulsader geöffnet?« forscht Sybilla, der jetzt manches klar wird.

      »Das hat er wohl nicht gewollt«, erklärt Müller unheimlich ruhig weiter. »Er hat die Glastür zum Giftschrank zerschlagen und sich dabei so schwer verletzt. Er muß nicht mehr Herr über sich selbst gewesen sein.«

      »Gütiger Himmel«, entfährt es Sybilla, und ihre Augen, in denen der Schrecken liegt, suchen Rombergs bewegungslose Gestalt.

      »Aber das ist noch nicht alles«, fährt Doktor Müller fort. Und nun gibt er alle seine Beobachtungen preis und das, was er von Anita erfahren hat. Er schont auch die Oberschwester nicht, stellt sie jedoch als Opfer Freytags dar. Überhaupt, als er auf Magda zu sprechen kommt, nimmt seine Stimme einen ganz anderen Klang an. Seine Augen werden tieftraurig.

      »Mir tut dabei nur die Oberschwester leid.« Er verstummt jäh, als habe er schon zuviel gesagt.

      Er liebt sie – geht es Sybilla durch den Kopf – und hat sie doch anklagen müssen, weil es seine Pflicht als Arzt ist.

      »Man muß bei Professor Becker ein gutes Wort für sie einlegen. Solange sich Freytag nicht hinter sie klemmte, war sie unsere zuverlässigste Schwester. Schade um sie.« Ehrliches Mitgefühl bestimmt Rombergs hervorgebrachte Entschuldigung.

      Sybilla nickt ihm eifrig zu. Wie immer fühlt sie sich einig mit ihm.

      »Für den Professor wird es ein schwerer Schlag sein«, nimmt sie nach einer Weile das Gespräch auf. »Aber er muß es wissen. Soll ich es ihm beibringen? Wir Frauen sind mitunter bessere Diplomaten. Vor allem wegen der Oberschwester.«

      Im selben Augenblick meldet sich im Lautsprecher eine Stimme: »Doktor Romberg und Doktor Müller zu Professor Becker.«

      Sybilla steht rasch auf. Sie macht eine befehlende Handbewegung.

      »Nein, lassen Sie mich gehen. Ich fühle es, es geht um Doktor Freitag, vielleicht war Oberschwester Magda selbst bei ihm, da sie keinen Ausweg mehr wußte und mit einer neuen Erpressung Freytags rechnen mußte.«

      Sie wartet keine Einwilligung ab. Sie halten sie auch nicht zurück. Ein weiches Lächeln umspielt Rombergs Mund, und Müller brummt:

      »Wir hätten nicht eine Frau vorschicken sollen. Offengestanden – es – paßt mir nicht.«

      Romberg tritt an den Kollegen heran. »Derselben Meinung bin ich auch. Aber – in diesem Falle glaube ich Sybilla Sanders. Sie wird mehr erreichen als wir beide zusammen. Wir würden doch nur anklagen. Sie ist eine Frau, sie wird auch eine treffende Entschuldigung finden.«

      Müller schweigt dazu. An seinem verschlossenen Gesicht ist schwer abzulesen, ob er überzeugt ist.

      *

      Professor Becker empfindet sofort, als er seine Abteilung betritt, daß sich etwas Außerordentliches ereignet haben muß.

      Im eleganten hellgrauen Einreiher, ohne Kopfbedeckung, von dem Personal ehrfürchtig gegrüßt, geht er durch die Gänge.

      Er kommt auch am Zimmer der Oberschwester vorbei, das für gewöhnlich offensteht. Wildes Schluchzen läßt seinen Fuß stocken.

      Schwester Anita liegt mit dem Oberkörper auf dem Tisch und wird von heftigem Weinen geschüttelt.

      Becker ist schon ein paarmal auf die immer fröhliche Schwester aufmerksam geworden. Um so mehr ist er über diesen Schmerzensausbruch erstaunt. Ja, anders kann er dieses verzweifelte Schluchzen nicht bezeichnen. Leise tritt er ein, legt mit einer ihm eigenen leichten Bewegung die Hand auf ihre Schulter, so daß sie erschrocken auffährt.

      »Na, na, Schwester Anita«, versucht er begütigend auf sie einzureden. »Gibt es einen so großen Schmerz, der solche Tränen verdient? Alles geht einmal vorüber, alle Freude, aber auch alles Leid. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Stimmt mit Ihrer Familie etwas nicht?«

      »Herr Professor!« stammelt sie, von seiner offensichtlichen Teilnahme noch mehr zu Tränen gerührt. »Es handelt sich nicht um mich. Es ist – Doktor Freytag – sehen Sie – dort?« – Sie weist mit der Hand auf die zerschlagene Scheibe des Giftschrankes, auf die immer noch am Boden liegenden Scherben. »Er hat es getan – und sich dabei die Pulsader zerschnitten. Ach –« Tränen ersticken jedes weitere Wort.

      »Er muß wahnsinnig sein«, entfährt es Becker, und er sucht vergebens eine Gedankenverbindung von dem Unglück zu dieser kleinen, bildhübschen Schwester. Warum zittert sie an allen Gliedern?

      »Es ist viel – schlimmer, Herr Professor«, weint sie auf. »Er – er ist Morphinist!«

      Als habe Becker einen Schlag empfangen, weicht er etwas von ihr zurück, blickt sie mit ungläubigem Staunen an.

      »Martin – ist –?« Nein, er mag das Wort nicht aussprechen. Wie eine Vision sieht er das lachende, fröhliche Gesicht Martins vor sich, das strahlend blonde Haar…

      »Kommen Sie!« befiehlt er streng, und eingeschüchtert geht sie neben ihm her. In seinem Zimmer geht er rasch zu seinem Schreibtisch. Mit einem Telefongespräch hat er sich die nötige Erklärung verschafft. Und wieder fordert er Anita auf, mitzukommen. Diesmal klingt seine Stimme wie zerbrochen.

      Noch weiß man im Hause

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