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Sicherlich, es war die Gewohnheit einer kulturell verstiegenen Zeit geworden. Das Tiefste, was das Menschentum barg, der Born, aus dem sich vergangene Geschlechter immer neue Jugend schöpften, man hatte ihn parfümiert und mit allerlei Reizmitteln verbunden, die die heiligen Wasser um ihre läuternde Wirkung brachten. Das jetzige schnell dahinrasende Geschlecht wähnte ohne jene aufpeitschenden Genüsse nicht mehr das Gleichmaß der Tage überstehen zu können. Aber unten, tief unten auf dem undurchsichtigen und aufgewühlten Grunde des Borns, da lagerte der Ekel.

      Als Fritz Harder bis hierher gelangt war, schreckte er plötzlich auf. War es ein kühlerer Luftzug, der ihn durch das offene Fenster hindurch anwehte, oder hatte ihn das mißtönende Geschlürf von ein Paar merkwürdig kreischenden Stiefeln aus seinen Gespinsten verscheucht? Rasch wandte er das Haupt, knöpfte den Uniformrock zu und zog ihn fester über der jugendlichen Brust zusammen. Wahrhaftig, er hatte sich nicht getäuscht. Draußen auf dem Bürgersteig wurde ein unendlich zerbeulter steifer Filzhut vor ihm gelüftet. Solch ein ehrwürdiges Stück konnte nur dem mißvergnügten Erfinder Leiser Bienchen gehören, der Punkt halb acht, seinem Meister, dem alten Adameit, zum Trotz das Pfefferkuchenhaus verließ, um in einem schockelnden Trabe dreimal die enge Gasse herauf und herunter zu laufen.

      »Schönen guten Abend, Herr Leutnant,« sagte der knickbeinige Geselle zu dem Einwohner seines Herrn hinauf und verzog die weit vorstehende Karpfenschnauze, die ewig beweglich in einem Meer von Runzeln schwamm, zu einem griesgrämigen Lächeln. »Was hab' ich Ihnen gesagt, was hab' ich Ihnen schon heut morgen gesagt? Er ist wieder vollständig wild. Ein Meschuggener, Herr Leutnant, Sie können es mir glauben. Aber einer von die schlimme Sorte. Besessen. Er wird noch einmal anrichten das größte Malheur. Heute hat er wieder – das heißt, das gehört nicht zur Sache –,« unterbrach sich Leiser Bienchen und bewegte seine verkrümmte Gestalt in den Hüften hin und her, so daß sein Rockkragen immer abwechselnd das rechte oder das linke Ohr erreichte; »was ich sagen wollte, seine Ideen sind gut, aber zu hastig, Herr Leutnant, zu hastig. Jeden Tag was anderes. Nu, wie gesagt, ich freue mich bloß auf das große Unglück. Sie werden sehen. Gute Nacht, Herr Leutnant.«

      Fritz Harder nickte der schlottrigen Gestalt zu und verfolgte den Davontrabenden, bis er ihn in der Einbuchtung des Marktplatzes verschwinden sah. Was er aber nicht wußte, das bestand darin, daß dieser mit Gott und den Menschen unzufriedene Geselle in den kargen Abendstunden, die ihm vergönnt waren, sich fast regelmäßig unter eine äußere Nische der herrlichen Sebalduskirche mitten auf dem Marktplatz drückte, um gespannt abzuwarten, bis das berühmte Glockenspiel seinen silbernen Gesang ertönen ließ. Dann neigte der kleine Jude das Haupt, und während er sein mächtiges Lippenpaar krampfhaft festhielt, damit es sich nicht gegen seinen Willen kritisch hin und her bewege, da murmelte er fast immer in einer seltsamen Rührung:

      »Großartig, ganz, ganz großartig. Wie er das wohl herausgebracht hat? Was hab' ich immer gesagt? Dieser Adameit is'n Meschuggener und 'n ganz gemeiner, gewöhnlicher Filz, der mir abzieht bald 'n Groschen hier und bald 'n Groschen da. Aber was kann ich dafür? Der Mann ist ein Genie, 'n ganz großes, unerklärliches Genie, und es ist mein Pech, daß ich ihm nicht ablernen kann, wie man das wird.« Und dann hob er das Haupt und schockelte sich verzückt in den Hüften hin und her. »Gott, wie ein Klang. Man möchte tanzen dazu. Wie schön ist doch diese deutsche Musik!«

      Immer grauer kroch die Dämmerung durch die enge Rosenkranzgasse. Schon traten einzelne Geschäftsleute auf das schmale Trottoir, um die Jalousien vor ihren Schaufenstern herabzuziehen. In dem kleinen Leutnantszimmer jedoch merkte man nichts mehr von Dämmerung und Kahlheit. Allgewaltig herrschte in ihm jener klingende, sorgenlösende Gott, den der kleine verkümmerte Jude unter seiner Kirchennische so inbrünstig angerufen hatte. Fritz Harder saß vor seinem Flügel und spielte. Längst hatte er die vorgezeichneten Bahnen des Musiktextes verlassen, und ohne, daß er es selbst ahnte, ebneten sich plötzlich helle, weißschimmernde Pfade vor ihm, die ihn hinaufleiteten auf klare, glashelle Höhen. Je weiter er aufwärts stieg, desto wunderbarere Prozessionen zogen ihm entgegen. Sie trugen goldene Kronen, die er sich auf das Haupt setzte, um unter wuchtigen Klängen den düsteren Schauer der Macht zu spüren. Und hinter seinen geschlossenen Augen spiegelte es sich deutlich, wie sich die zarten Luftgebilde ehrfürchtig vor dem armen kleinen Leutnant neigten. Aber das war noch nicht das Herrlichste, was ihm entgegenquoll. Einsamer und stiller wurden die verschwiegenen Wege, schwanke, braune Haselnußstauden schlossen sich über ihm zu einem schattigen Domgang zusammen, und ganz oben auf der letzten Stufe, da leuchtete wartend und verlangend eine Gestalt von so üppiger Pracht, daß der Betörte mitten durch seine Melodien dicht über dem Haupte das betäubende Donnern einer ungeheuren Glocke zu vernehmen meinte. Aber es waren nur die starken Schläge seines eigenen Herzens, das die Ströme des Blutes nicht mehr zu bändigen vermochte.

      »Marianne,« flüsterte er ermattet, während seine Hände kraftlos von den Tasten herabsanken.

      Da – um Gott, das war doch nicht möglich, – da lachte etwas hinter ihm. Genau mit demselben silbernen, etwas müden Ausdruck, wie er es eben in den verebbenden Phantasien aufgefangen. Undenkbar! Das war noch nie geschehen. Ein wahnsinniger Spuk, der ihm deutlich zeigte, wie weit seine kräftige Natur bereits von allem Wirklichen fortgelockt war. Wozu nachgeben? Weshalb sich erst umwenden?

       Und doch – dicht neben ihm rauschte es stärker. Ein feiner Resedaduft schlug auf. Hinter seinem Rücken wähnte der Gebannte etwas Weiches, Köstliches zu spüren, und dann – ein züngelnder Blitz – ein paar warme Lippen schmiegten sich auf seinen Nacken und blieben dort haften.

      Er sprang in die Höhe, daß die Tasten einen wimmernden Laut aussendeten. Vor seinen Augen schimmerte es. Er konnte das Unwahrscheinliche nicht fassen.

      »Marianne,« stammelte er ungläubig, ohne den Klaviersessel, den er umkrampft hielt, frei zu geben, »bist du es wirklich? Bei mir?« Und er schickte einen beschwörenden Blick in die Runde, als ob er die geblümte Tapete, die abgetretenen Dielen, sowie die jämmerlich mürben Möbelstücke anflehen wollte, sich für die elegante Dame in dem weißen Sommerkleid zu einem Fürstensaal zu verwandeln.

      Ganz im Gegensatz zu der Befürchtung des jungen Offiziers indessen schien sich seine Besucherin von diesem Junggesellenheim äußerst angemutet zu fühlen. Langsam schlug sie ihren blauseidenen Staubmantel auseinander, beugte das eine Knie auf den einzigen Korblehnstuhl und zeichnete mit ihrem schlanken weißen Sonnenschirm allerlei Figuren auf den verschossenen grünen Teppich.

      »Also hier wohnst du, Fritz?«

      Inzwischen hatte der Überraschte Sprache und Besinnung wiedergefunden. Ein fernes nagendes Gefühl des Unbehagens zehrte in seiner Brust und ließ ihn einen hastigen Blick auf die niedrige Tür werfen. Die Idee, daß jene Schwelle in wenigen Minuten von seinem menageschleppenden Burschen überschritten werden könnte, sie peinigte seine anerzogene Vornehmheit und zauste in der aufspringenden Freude herum.

      »Liebe, süße Marianne,« begann er befangen, »daß du soviel Mut besitzt! Ich weiß gar nicht, wie ich dir dafür danken soll.«

      »Oh,« erwiderte das schöne Geschöpf lächelnd, »ich wüßte es schon. Du könntest zum Beispiel schnell die Vorhänge vor deinem Fenster schließen. Das würde dich sicherlich von vielen Befürchtungen befreien, nicht wahr, Fritzchen?«

      Sie sprach es so harmlos und lässig, und ihre schwarzen Augen streiften dabei so schalkhaft sein Antlitz, daß der Offizier im ersten Moment gar nicht begriff, warum ihn ihre praktische Anordnung derartig verletzte. Und nur langsam verstand er sich selbst. Die Sicherheit, mit der sie hier disponierte, das Vertrautsein mit allerlei abscheulichen kleinen Kriegslisten, alles das erkältete ihn und ließ ihn verstummen. Schweigend schritt er zum Fenster und riß den Vorhang zusammen. Dann trat er hinter ihren Stuhl, den sie noch immer in leise schaukelnder Bewegung hielt. Und unvermerkt entzündete sich sein Schönheitssinn an der sanften Schwingung, durch die diese prachtvollen Glieder ihm bald zugebeugt und wieder entfernt wurden. Ganz sacht und unmerklich. Immer von neuem ein betörendes Haschen und Entflattern. Die Macht, die sie über ihn ausübte, ohne daß sie viel sprach oder ihn durch blendende Gedanken zu interessieren vermochte, sie schlug abermals über dem halb Gewonnenen zusammen.

      »Du siehst so ernst aus, mein Liebling,« sagte sie mit ihrer weichen

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