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bewegte sich gebückt weiter; schnell, aber vorsichtig, immer aufmerksam, denn er wusste, das Kind konnte jederzeit von seinem Pfad abweichen. Den Sonnenuntergang mit den letzten purpurroten Strahlen würdigte er keines Blickes, während er die Anhöhe entlanglief.

      Die rastlose, stundenlange Hast und außergewöhnliche Konzentration, um die fast unsichtbaren Spuren zu erkennen, forderten ihren Tribut. Aber Hunter wusste, alles hing von diesem Augenblick ab. Es waren nur Minuten, bis es dunkel wurde, und er war ebenfalls nur Minuten von dem Jungen entfernt. Aber er musste das Kind vor Einbruch der Dunkelheit finden, denn selbst er konnte in der Finsternis keine Spuren mehr lesen.

       Ich werde dich nicht sterben lassen, mein Junge …

       Ich werde dich nicht sterben lassen …

      Etwas Riesiges, Dunkles und Furchteinflößendes erschien plötzlich auf dem schattigen Granithang vor ihm. Der Junge sah nach oben und erblickte … einen Mann?

      Einen Mann und … einen Wolf?

      Der Junge sah, wie die schwarzen Augen des Tieres ihn durchdringend anstarrten, sah die leicht entblößten Fänge, die selbst im Mondlicht weiß glänzten, und verspürte neue Angst.

      Dann ließen sich der Mann und der Wolf geräuschlos vom Felsen nach unten gleiten und beugten sich über ihn. Der Mann redete ihm beruhigend zu, während der riesige Wolf eine warme Schnauze gegen seine Wange drückte, ihn zum Lachen brachte. Der Junge hob eine zitternde Hand und berührte die warme, dichte Mähne.

      Ohne ein weiteres Wort wickelte ihn der Mann sanft in seinen Mantel und hob ihn vom unbarmherzigen Boden. Sie bewegten sich durch die Bäume, während der Wind rauschte – die schattigen Blätter und Zweige wischten über ihm dahin, aber berührten ihn nie, denn der Mann hielt ihn mit starken Armen an sich gepresst.

      Ihm wurde wieder warm, er hob die Arme, fühlte die Kraft des Mannes und wusste, dass er sicher war.

      »Bei Gott.« Cahill schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass du das hinkriegst, Hunter.«

      Von Zweigen aufgeschürft und mit blauen Flecken, nippte Hunter einen Moment schweigend an seinem Kaffee, lehnte sich auf Cahills Schreibtisch. Er sah in den Becher, während er redete.

      »Geht es dem Jungen gut?«

      »Ja.« Cahill erhob sich von seinem Stuhl und goss sich eine weitere Tasse ein. Massig, mit breiter Brust und den Armen eines Schmieds, bewegte sich der Sheriff mit der kantigen Grazie eines Schwergewichtsboxers.

      »Der Doc sagt, er ist dehydriert und steht unter Schock, aber sie haben ihn schon ins Warme gebracht. Er hat keine Erfrierungen.« Cahill setzte sich und lehnte sich nach hinten, nahm einen langsamen Schluck. »Die Eltern haben angerufen. Sie wollten sich bei dir bedanken.«

      Hunter nippte am Kaffee. »Sag ihnen, ich bin froh, dass es ihrem Jungen gut geht.«

      Cahill schwieg eine Weile und studierte das Gesicht des Mannes, der vor ihm stand.

      Muskulös und mit einer wilden Mähne schwarzer Haare, die ihm knapp bis auf die Schultern reichte, wirkte Hunter, als stamme er aus einem anderen, primitiveren Zeitalter. Seine Augen lagen unter niedrigen, kantigen Brauen, von den Jahren in der Wildnis braun gebrannt. Die Wangen waren knochig und erhoben sich über einem Mund, der wirkte, wie der einer grimmigen Bronzestatue. Die breiten Schultern, die kräftige Brust und die dicken Arme zeugten von großer Kraft, aber Cahill war bereits früher aufgefallen, dass Hunter eine Stärke zu besitzen schien, die man nicht am Körperbau ablesen konnte. Er hatte schon länger den Verdacht, dass Hunter absichtlich verbarg, worin seine wichtigste, größte und wahre Stärke bestand. Er hatte sich immer gefragt, wieso bei ihm so viel im Verborgenen lag.

      Cahill sagte: »Mit Menschen hast du es nicht so, oder, Hunter?«

      Er wartete. Hunter antwortete nicht.

      Cahill fuhr fort: »Aber du riskierst dein Leben, ebendiese Menschen zu finden, wenn wir schon tausend Leute den Wald durchsuchen lassen, die keine Chance haben.« Cahill schien Hunters Schweigen nicht zu irritieren. »Wie letztes Jahr, als du das Pärchen gefunden hast, das sich unterhalb des Sipsey verlaufen hatte. Du hast sie vier Tage verfolgt, ohne Essen, ohne Unterschlupf.« Er schnaufte. »Die hatten Glück. Und du auch. Die Fährte zu verfolgen, hat dich fast das Leben gekostet.«

      Hunter seufzte und zog zustimmend die Brauen hoch. »Sobald man eine Fährte gefunden hat, ist es am besten, keine Pause zu machen. Je zielstrebiger man ist, desto besser stehen die Chancen.« Er hielt inne. »Aber du hast recht. Das war anstrengend. Genau wie dieses Mal. Der kleine Kerl ist ziellos herumgeirrt.«

      Cahill nickte nachdenklich. »Also, wohin geht’s jetzt?«

      »In die Mandschurei.«

      Cahill lachte laut. »Die Mandschurei! Wozu?«

      »Das Tipler-Institut will, dass ich einen sibirischen Tiger einfange.« Hunter schüttelte den Kopf. »Sie sind ziemlich selten, aber eine Expedition hat kürzlich einen gesehen.« Er zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass er dort ist, aber es wäre möglich. Ich werde es rausfinden, wenn ich dabei nicht ins Gras beiße.«

      Cahill lächelte. »Der alte Doc Tipler lebt also noch.« Dann wurde sein Lächeln dünner und verschwand. »Weißt du, mein Junge, ich habe gehört, ein Tiger ist das Fieseste, was einem auf vier Pfoten über den Weg laufen kann. Schlimmer als ein Grizzly. Und sie benehmen sich auch ein wenig wie ein Grizzly. Die schleichen sich an.«

      Hunter lächelte. »Ja, sibirische Tiger sind die besten Jäger der Welt. Sie machen kein Geräusch, bis sie sich in Bewegung setzen, und sie attackieren immer aus dem Hinterhalt. Ich hab schon mal einen gefangen, aber ich glaube, dieses Mal wird es anders laufen.«

      »Was ist denn daran anders?«

      »Allein die Entfernung.« Hunter stellte den Kaffee auf den Schreibtisch und streckte die Arme. »Wegen des dichten Blattwerks ist die Entfernung für einen Schuss begrenzt. Vielleicht zehn, zwölf Meter.«

      »Glaubst du, du kannst gegen den Wind so nahe an einen Tiger herankommen?«

      »Ich nehme an, das muss ich wohl herausfinden.« Hunters Gesichtsausdruck wirkte zufrieden und entspannt, während er redete. Er stand auf, griff nach der Tür, und Cahill hätte schwören können, dass er den Mann leise lachen hören konnte, als er hinausging.

      Er bewegte sich durch die Nacht, fühlte sich Zuhause in der Dunkelheit.

      Der kalte Wind teilte sich um seinen Körper, brachte die Blautannen, Birken und Fichten ringsum zum Schwanken. Er blieb stehen, atmete langsam und rhythmisch. Erinnerungen strömten auf ihn ein. Er wusste, das Moos unter seinen Füßen gab es hier schon seit tausend Jahren. Der Duft eines Dutzends verschiedenster Pflanzen stieg auf und begrüßte ihn. Er kannte sie alle. Die Rinde eines Baumes in der Nähe stillte Schmerzen, und die Wurzel der Pflanze da drüben konnte seinen Magen füllen. Er kannte ihre Geheimnisse, wusste, wie man sie verwendet, auch wenn es nur als Nahrung war. Und dabei war das nicht mehr das Land, das er gekannt hatte, sondern weit davon entfernt. Er konnte hier überleben.

      Und er konnte weit mehr tun, als überleben.

      Die Wache näherte sich dem Tor.

      Es war Zeit.

      Er wusste, dass er sich bewegen musste, bevor der Hund seine Anwesenheit roch. Ein Jagdinstinkt, klarer als der menschliche Verstand, reiner als jeder Zweck, zog ihn voran.

      Seine menschliche Intelligenz hatte die Oberhand, aber sie wurde verstärkt durch die Instinkte, die durch die fantastische Evolution seines Körpers entstanden waren. Gebückt bewegte er sich mit leisen Schritten voran und tauchte wie ein Gespenst aus der dunklen moosbewachsenen Stille und der Finsternis auf, trat ins Licht eines fahlen Mondes und näherte sich dem Tor fast unbemerkt. Erst im letzten Moment drehte sich ein Wachmann um, sah den phantomhaften Umriss aus der Dunkelheit heraus schreckliche Gestalt annehmen – ein mehr als angsteinflößender Anblick – und schrie ungläubig auf, bevor er herumwirbelte, um das Gewehr durchzuladen.

      Es war

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