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sich im glei­chen Fal­le, auch er hielt sich für ein un­glück­li­ches Kind, denn er hat­te dem hoch­mö­gen­den Äl­tes­ten un­längst auf müt­ter­li­chen Be­fehl ein emp­fan­ge­nes Gast­ge­schenk über­las­sen müs­sen, das er nicht ver­schmer­zen konn­te. Wir zwei Ge­kränk­te be­spra­chen uns mit­ein­an­der und stell­ten fest, dass wir die Pa­ri­as im Hau­se wä­ren, weil wir als die un­ge­fähr­lichs­ten (der Al­ler­jüngs­te ge­noss das Vor­recht sei­nes zar­ten Al­ters) bei je­der Streit­fra­ge un­recht be­ka­men. Und wir be­schlos­sen, das un­dank­ba­re El­tern­haus zu ver­las­sen, um aus­wärts un­ser Heil zu su­chen. Bei­de be­sa­ßen wir klei­ne Spar­büch­sen, in die bald von den El­tern, bald von Ver­wand­ten und Freun­den ein klei­ner Spar­gro­schen für un­se­re kind­li­chen Be­dürf­nis­se ge­legt wur­de. Als ich zwölf gan­ze Gul­den bei­sam­men hat­te und Er­win, der sei­ne Kas­se zu­wei­len an­griff, sechs bis sie­ben, schi­en uns die­ser Be­trag aus­rei­chend, um da­mit den Weg in die wei­te Welt zu neh­men, die schö­ne wei­te Welt, in die alle Mär­chen hin­aus­wie­sen und nach der ich schon da­mals ein bren­nen­des Ver­lan­gen trug. An ei­nem Sonn­tag­vor­mit­tag, tief im Win­ter, bra­chen wir auf. Ich zog dem sie­ben­jäh­ri­gen Bru­der noch zu­vor sorg­lich die Pelz­fäust­lin­ge über, dann wan­der­ten wir zu­sam­men über das nahe Bahn­ge­lei­se in die wun­der­voll schim­mern­de Schnee­land­schaft hin­aus. Es war ein köst­li­cher Tag, die kal­te Son­nen­luft schnitt mir in die Ba­cken, dass sie brann­ten, ich fühl­te mich wohl­ge­bor­gen in dem hüb­schen brau­nen Kas­tor­man­tel, und der Schnee knarr­te so an­ge­nehm un­ter mei­nen Stie­fel­chen. Ein Stück von Hau­se nahm ich in der Per­son des Bru­ders mit, also war auch ge­gen das Heim­weh vor­ge­sorgt. Moch­ten sie nun da­heim zu­se­hen, wie sie es aus­hiel­ten ohne uns zwei Ver­kann­te. Wir lie­ßen das Wald­hörn­le, wo wir sonst mit den El­tern ein­ge­kehrt wa­ren, links lie­gen und schrit­ten flott ge­gen Se­bas­tians­wei­ler los, das die Gren­ze des uns be­kann­ten Erd­teils war. Se­bas­tians­wei­ler, der Name hat­te mir’s an­ge­tan, ob­schon oder weil ich sonst von dem Ort rein gar nichts wuss­te. So zog es mich ganz von selbst in die­ser Rich­tung. Jen­seits Se­bas­tians­wei­ler be­gann dann erst die ei­gent­li­che wei­te Welt, das große Uner­forsch­te. Wir wa­ren schon am Blä­si­bad vor­über, da schrieb das Schick­sal uns ein war­nen­des Me­ne­te­kel an den Weg. Mit­ten im Schnee der Stra­ße lag eine große schö­ne Els­ter vor mei­nen Fü­ßen, die kraft­los die Flü­gel be­weg­te, er­starrt vor Käl­te, wie mir schi­en. Ich hob sie auf und such­te sie un­ter dem Man­tel zu er­wär­men und ihr Le­bens­hauch ein­zu­bla­sen. Um­sonst, sie wur­de nur im­mer mau­d­ri­ger, also nahm ich an, dass sie ver­hun­gert sei. Die stum­me Sym­bo­lik die­ser Er­schei­nung ging mir zwar nicht auf, aber ich wuss­te, dass es nir­gends auf der Welt Wär­me und At­zung gab als am hei­mi­schen Her­de, den wir ver­las­sen hat­ten. Ver­ges­sen war mit ei­nem Male al­les, was uns kränk­te, ver­ges­sen die Lo­ckung der schö­nen wei­ten Welt jen­seits Se­bas­tians­wei­ler; wir dach­ten nur noch an die Ret­tung des ge­fie­der­ten Schütz­lings. Vi­el­leicht war aber uns bei­den der An­lass, un­ser Aben­teu­er zu be­en­den, auch un­be­wusst will­kom­men, denn die See­le hat ihre Heim­lich­kei­ten, von de­nen sie selbst nichts weiß. Wir mach­ten in stum­mem Ein­ver­ständ­nis Kehrt und lie­fen, was wir konn­ten, den wei­ten Weg zu­rück nach Hau­se. Es war noch im­mer Vor­mit­tag, als wir an­ka­men, und kei­ne See­le hat­te sich noch um un­ser Ver­schwin­den Sor­ge ge­macht. Aber so­bald Ed­gar der un­ter­des­sen ver­en­de­ten Els­ter an­sich­tig ward, die ich noch im­mer an die Brust ge­drückt hielt in der Hoff­nung, sie am Ofen wie­der auf­le­ben zu se­hen, da nahm er mir den to­ten Vo­gel, um ihn ohne wei­te­res zu se­zie­ren. Ich wi­der­setz­te mich, denn ich woll­te die arme Els­ter, wenn sie nicht mehr zum Le­ben ge­bracht wer­den konn­te, mit ih­rem schil­lern­den Ge­fie­der ehr­lich be­gra­ben. Sie wur­de mir je­doch ab­ge­spro­chen und dem Se­zier­mes­ser über­wie­sen. Ed­gar war von klein auf ge­wöhnt, was in sei­ne Hand kam, zu zer­le­gen und auf sei­ne in­ne­re Be­schaf­fen­heit hin zu un­ter­su­chen, doch hat­te sich die­ser Hang bis­her auf Er­zeug­nis­se der Mecha­nik be­schränkt, neu­er­dings reg­te sich aber der künf­ti­ge Ana­tom in ihm, und er be­gann nun auch zu mei­nem un­aus­sprech­li­chen Wi­der­wil­len tote Tie­re zu zer­schnei­den. Die gute Fina be­eil­te sich mit ei­ner Er­ge­ben­heit, die ich ver­werf­lich fand, ih­rem jun­gen Herrn und Ge­bie­ter ein aus­ge­dien­tes Hack­brett und ein eben­sol­ches Vor­leg­mes­ser zu brin­gen, und ich sah mit Ent­set­zen, wie das schö­ne Tier zer­sä­belt wur­de und wie das Blut über die fei­nen har­ten Kna­ben­fin­ger lief. Er hol­te Herz und Lun­ge und Le­ber her­aus und be­trach­te­te sie auf­merk­sam, wäh­rend ich mich vor Ab­scheu wei­nend im hin­ters­ten Win­kel der ge­mein­sa­men Stu­be ver­kroch. Ich konn­te gar nicht glau­ben, dass die­se blu­ti­gen Hän­de noch die mei­nes Bru­ders sei­en, in de­nen die mei­ni­gen sonst so trau­lich ge­le­gen hat­ten. Aber ich woll­te nicht mehr fort, die Wär­me des El­tern­hau­ses um­fing mich nach der Ei­ses­luft, in der hei­mat­lo­se Vö­gel star­ben, mit un­säg­li­chem Wohl­be­ha­gen, und ich fühl­te mich wie­der in die lei­den­schaft­li­che Lie­bes­kraft ein­ge­schlos­sen, mit der mei­ne Mut­ter alle ihre Küch­lein um­heg­te. All­mäh­lich däm­mer­te mir auch auf, wel­chen Schre­cken ich den zärt­lichs­ten El­tern hat­te be­rei­ten wol­len und wie gut es mein Schutz­geist mit mir mein­te, als er mich durch die ster­ben­de Els­ter so sänft­lich zur Um­kehr mahn­te. Das nur drei Stun­den ent­fern­te Se­bas­tians­wei­ler aber habe ich wäh­rend mei­nes gan­zen Tü­bin­ger Auf­ent­halts nie­mals mit Au­gen ge­se­hen, da­her es noch heu­te im Lich­te der schöns­ten Ro­man­tik ohne je­den Zug er­nüch­tern­der Wirk­lich­keit vor mei­ner See­le steht.

      1 Flo­ren­ti­ni­sche Erin­ne­run­gen. <<<

      Be­vor ich wei­ter­ge­he, muss ich hier ei­ni­ge Wor­te über die ur­ei­ge­ne Per­sön­lich­keit mei­ner Mut­ter vor­aus­schi­cken, weil ohne einen Blick auf ihr Ge­samt­bild die ein­zel­nen Züge ih­res We­sens, wie sie bruch­stück­ar­tig aus die­sen Blät­tern her­vor­tre­ten, nim­mer­mehr rich­tig ver­stan­den wer­den könn­ten. Sie wie­der­zu­ge­ben ganz so, wie sie war, ist ein Wa­g­nis. Kein Bild ist leich­ter zu ver­zeich­nen als das ihre. So aus­ge­prägt sind ihre Züge, so ur­per­sön­lich – ein ein­zi­ger zu stark ge­zo­ge­ner Strich, eine ver­grö­bern­de Li­nie, und das Edels­te und Sel­tens­te, was es gab, kann zum Zerr­bild wer­den. Und nicht nur die Hand, die das Bild zeich­net, muss ganz leicht und si­cher sein, es kommt auch auf das Auge an, das es auf­fas­sen soll. Wer ge­wohnt ist, in Scha­blo­nen zu den­ken, fin­det für das nur ein­mal Vor­han­de­ne kei­nen Platz in sei­ner Vor­stel­lung. Es gab Phi­lis­ter­see­len, die in die­sem un­be­greif­li­chen We­sen nichts sa­hen, als ein wun­der­li­ches klei­nes Frau­chen, das we­nig auf sei­nen An­zug hielt und kei­ne gu­te Haus­frau war. Für mich und alle, die sie wahr­haft kann­ten, ist sie im­mer das au­ßer­or­dent­lichs­te mensch­li­che Er­eig­nis ge­we­sen.

      Wir wa­ren so fest ver­wach­sen, dass mein Ge­dächt­nis ihre ei­ge­ne Kind­heit mit um­schließt, als ob ich sie selbst er­lebt hät­te. Ich sehe sie, wie sie als Obers­ten­töch­ter­chen in Lud­wigs­burg aus ih­rem großen Gar­ten, der an das Mi­li­tär­ge­fäng­nis stieß, das schöns­te Obst ih­rer Bäu­me durch die ver­gat­ter­ten Fens­ter heim­lich den Sträf­lin­gen zu­warf, voll früh­zei­ti­ger

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