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in der Hut der Stadtmauer und der Giebeldächer lagen und sich darauf besannen, daß es ein schönes, festliches Ding um Frühling, Leben, Werden und Wachsen sei.

      Die Luft war voll Schwalbengezwitscher und Starengeschwätze. Auf dem Kirchendach klapperten die Störche, in den Blüten der Frühkirschenbäume summten die Bienen wie toll vor ausgelassener Daseinsfreude. Eine Katze schnurrte auf dem Bretterzaun. Es war kein übler Zeitpunkt, den ersten Schritt zu wagen.

      „Freude, Tochter aus Elysium,“ sang die Schöpfung und ließ alle Instrumente dazu klingen. Es war ihr einerlei, daß es Leute gab, die behaupteten, es sei nicht der Mühe wert, in diese Welt herein geboren zu werden.

      Der Rektor Cabisius gehörte nicht zu ihnen. Er ging in den sonnigen Wegen auf und ab, besah sich seine Obstbäume, wie sie mit ausgebreiteten Armen auf ihren Frühling warteten, paffte große und nicht besonders zierliche Rauchwolken aus seiner langen Pfeife, und nahm ab und zu diese Pfeife aus dem Mund, um damit irgend eine Melodie zu taktieren, die ihm durch den Sinn zu gehen schien. Vielleicht war es dieselbe Melodie, die durch die Luft schwirrte; wer kann das wissen? Er sah nicht aus, als ob er irgend jemandem hätte den freundschaftlichen Rat erteilen mögen, nicht in diese Welt herein geboren zu werden.

      Sein Haar war grau; auf der Stirn lagen ein paar tiefe Querfalten, und unter den Augen hatte er unzählige feine Fältchen, ein ganzes Heer von Fältchen.

      Aber was waren das für junge Augen, warme, lebendige, ungetrübte, die zwischen den Fältchen heraus sahen, so, als ob sie sagen wollten: „Ach, das ist ja alles nur äußerlich, das Alte, Graue, Faltige, Mitgenommene. Wenn ihr da innen hinein sehen könntet, wie da Leben ist. Aber das könnet ihr nicht.“

      Ihn freute der Frühling. Er nahm sich das Recht dazu, sich zu freuen trotz allerlei trübem, das ihn durchaus aus dem Winter herüber begleiten wollte. Und es ist nicht zu sagen, wieviel Trauriges ein ehrlicher Mensch, der es von Herzen mit der Freude halten will, durch sie besiegen kann. Die lieblichsten Frühlingswunder zeigt sie ihm, und ein solches zeigte sie ihm jetzt eben, als er stillstehend nach dem grünen Rasenfleck hinübersah, wo auf einem ausgebreiteten, großen Tuch ein kleines Menschenkindlein saß. Es krabbelte mit den Händchen nach den rosa Blütenblättern, die der junge Pfirsichbaum über ihm von Zeit zu Zeit niederschweben ließ. Und als sich einige davon etwas zu entfernt niederließen, da kam ihm das Verlangen, sie zu holen.

      Und da geschah es, daß das Kindlein seinen ersten Schritt auf dieser Erde machte, den ersten von so vielen, die ihm zu tun vorbehalten waren.

      Die runden Händchen faßten den schlanken Stamm als Stütze, und als die Füße fest standen, etwas gespreizt und unsicher freilich, aber doch wirklich und wahrhaftig auf dem Grund, da ließen die Händchen los. Und da geschah der erste Schritt.

      Der Großvater sah ihm zu. Er klopfte die Pfeife aus, legte die Hände auf den Rücken und sah in das blühende Wunder hinein, still, und ein wenig bewegt, und ein wenig belustigt. Das war so etwas Selbständiges, was da vor seinen Augen geschah, da regte sich so eine junge, sichere Kraft, die etwas werden wollte. Mit ernstem Gesicht vollbrachte die kleine Enkelin ihre brave Tat.

      Aber dann kam die Angst über sie. Da war solch ein großer, leerer Raum, in den sie sich hineingewagt hatte; darin war sie so allein. Sie streckte die Händchen aus und wußte nicht weiter.

      Nun war es Zeit für das Alter. „Da,“ sagte der Großvater und trat vollends heran. Er streckte sein langes Pfeifenrohr aus. „Halt’s fest,“ sagte er. Da schlossen sich die kleinen Fingerchen darum, da kam nun die Sicherheit wieder, die im Alleinsein so kläglich vergangen war. Da war ja nun eine Stütze, und der unendliche Raum war liebevoll ausgefüllt durch ein Menschengesicht.

      Und nun machten die beiden jungen Leute eine große, große Wanderung mitsammen, wohl fünf, sechs Schritte, und immer das Pfeifenrohr zwischen ihnen als Halt und Leiter. Dann nahm der alte Herr das kostbare, kleine Menschenwunder in die Arme, und sah zu, wie es über das ernsthafte Gesichtchen flog, wie lauter Sonne; da war ein Leuchten des Glücks zu sehen; bis unter die braunen Härchen auf dem runden, weichen Kinderkopf alles ein Lachen und ein Stolz.

      „Ja, ja,“ sagte er, „ja, ja, das hätten sie sehen sollen,“ und er meinte damit nicht die Leute im Städtchen, die Nachbarn und Freunde, sondern zwei andere Menschen, die vor allen hierhergehört hätten.

      „O du Symboliste,“ sagte seine kleine, heitere, behende Frau, als sie später las, was ihr Mann in das Büchlein geschrieben hatte, in dem er denkwürdige Ereignisse zu verzeichnen pflegte, „o du Symboliste,“ das sagte sie öfters, wenn er mit weitsichtigem Blick in die Lebensfernen in den kleinen Geschehnissen des Tages wie durch einen Spiegel den tiefen Sinn des Lebens sah. Das war ihm eigen, und sie war stolz auf ihn und liebte ihn, gerade so, wie er war. Aber darum konnte sie es doch nicht unterlassen, ihn zu necken. Es hätte ihm auch gefehlt, wenn sie es eines Tages nicht mehr getan hätte.

      Der Eintrag in das Büchlein aber lautete:

      „Das war nun der Anfang. Sie hat sich tapfer auf den Weg gemacht, allein und ohne Hilfe. Das ist gut und nötig. Es wird noch oft nötig sein, daß sie das tut. Aber, o du Kind meines Kindes, mögest du nie im Alleinsein des Lebens vergeblich die Hände ausstrecken nach einem, der dir die Leere fülle.“

      Jetzt eben kam die Frau Rektorin eilfertig durch den Küchengarten geschritten und trat zu den beiden. Sie hatte graues Haar, wie ihr Gatte, und äußerlich betrachtet, hatte sie keinerlei Grund, so strahlend auszusehen, wie sie es wirklich tat. Es lag eine traurige Geschichte in dem Lebensjahr, das die kleine Gertrud schon hinter sich hatte.

      War nicht ihr Vater der jüngste Sohn der beiden alten Leute und seiner Mutter Liebling gewesen? Und hatten nicht beide Eltern das junge Pflänzchen auf Erden zurückgelassen, nachdem sie es in die Hut der Alten gegeben hatten?

      Was für ein wackerer Helfer ist doch ein Kinderlachen, wenn es gilt, über so viel Leid und Sorgen hinüber wieder froh und jung und hoffnungsvoll zu werden.

      Es war ein Festtag heute. Die Großmutter erfuhr das fröhliche Geschehnis und wollte es auch mit ihren eigenen Augen sehen; und als das geschehen war, da stimmten die drei, wenn’s erlaubt ist, so zu sagen, ein Terzett an, das mit reinen Tönen in das Frühlingsorchester hinein klang: „Freude, schöner Götterfunken!“ Gertrud fing an. „Mama, Mama,“ rief sie, und darauf folgte allerlei Kauderwelsch, das man nicht widergeben kann.

      Was die beiden Alten dazu taten, eignet sich gleichfalls nicht für den Druck, und so muß auch der Text hier verschwiegen bleiben und, zusamt der Melodie, dem Ahnungsvermögen derer überlassen werden, die gleich dem Herrn und der Frau Rektor schon die Sonne haben durch Tränentropfen hindurch scheinen sehen.

       Inhaltsverzeichnis

      Es erkälte sich niemand, wenn unmittelbar nach diesem linden, sonnigen Tag im Frühling von Schnee und Eis, Nordostwind, knarrenden Wetterfahnen und Neujahrsglückwünschen die Rede ist. Denn man kann sich ja ebensowohl die Seele erkälten, als den Leib bei solch einem schroffen Wechsel. Und der Leser teilt nicht den Vorzug, den die Leute von Wiblingen haben, daß nämlich seit dem letztgenannten Tage alle Jahreszeiten in guter Ordnung an ihnen vorbeigezogen sind, wie das in dem Kreislauf der Dinge liegt, der sich seit den Tagen Noahs nicht geändert hat. Die Erde hat seitdem einige Male ihre gewiesene Bahn um die Sonne gemacht, und es liegt jetzt der Winter über der nördlich gemäßigten Zone.

      **

       *

      Unter der Tür von seines Vaters Haus stand ein Bub von zehn Jahren. Er hatte einen kurzen, steil aufstrebenden Haarschopf, blaurote Ohren und ein vergnügtes Gesicht. Die Hände hatte er in den Taschen vergraben. Er sah nicht aus, als ob er sie an diesem sicheren Zufluchtsort zu Fäusten geballt hielte.

      Auf der Straße lag ein frischer Schnee, der über Nacht gefallen war. Am Himmel hing weißes, zerrissenes Gewölk und dazwischen sah ein kräftiges, reines Blau heraus. Es fuhr ein scharfer, lustiger Wind durch die Straßen.

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