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Eberhard Scholz zu sprechen. »Ich habe eine Patientin, die ich schon lange kenne. Sie ist jetzt achtundzwanzig, und ich habe sie zum ersten Mal in meiner Sprechstunde gehabt, da muß sie ungefähr zwölf oder dreizehn gewesen sein. Jetzt ist bei ihr ein Hirntumor festgestellt worden – ein Hämangiom, schwer operabel, wenn ich das richtig einschätze.«

      Er machte eine Pause, und wieder wartete Adrian geduldig, bis der andere fortfuhr: »Ich habe sie gebeten, zu einem Neurochirurgen zu gehen – sie hat bisher nur meine Ansicht und die der Röntgenologen gehört. Aber sie will nicht. Sie ist fest entschlossen, sich nicht operieren zu lassen und zu riskieren, daß die Operation fehlschlägt. Ich glaube, ihre Haltung hat viel mit ihrer kleinen Tochter zu tun, die sie bisher allein erzogen hat.«

      »Sie meinen, sie hat Angst, nach der Operation nicht mehr für das Kind da sein zu können?«

      »Ja, das glaube ich. Und jetzt hat sie völlig überraschend geheiratet. Die Gründe dafür kann ich nur erahnen.« Er sah Adrian an. »Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Ihnen das alles erzähle.«

      »Ich nehme an, weil Sie davon gehört haben, daß Dr. Bacharach uns einen Besuch abstatten wird.«

      »Richtig, Herr Winter. Vielleicht interessiert ihn ein solcher Fall – und er ist bereit, eine Prognose zu erstellen.«

      »Und Sie meinen, davon würde sich Ihre Patientin umstimmen lassen?« fragte Adrian.

      »Ich weiß es nicht«, sagte Dr. Scholz müde. »Ich weiß es wirklich nicht. Mir fällt nur nichts mehr ein, was ich tun könnte, um der jungen Frau zu helfen. Mir scheint es falsch zu sein, einfach abzuwarten und gar nichts zu tun. Hämangiome sind tückisch, wie wir wissen. Vielleicht hätte ich ihr nicht so deutlich sagen sollen, daß ich die Aussichten für eine Operation in ihrem Falle nicht für allzu gut halte. Aber was hätte ich tun sollen? Es ist die Wahrheit.«

      »Dr. Bacharach trifft heute in Berlin ein, so viel ich weiß«, sagte Adrian nachdenklich. »In der kommenden Woche wird er bei uns in der Klinik sein. Wenn Sie mir die nötigen Informationen geben, trage ich den Fall bei unserer Diskussion gerne vor.«

      Als habe er nur auf diese Worte gewartet, legte Eberhard Scholz einen großen Umschlag auf den Tisch. »Das sind die Röntgenaufnahmen und sämtliche medizinischen Berichte«, sagte er.

      »Ich werde natürlich alles anonym vortragen«, versprach Adrian. »Aber sollte sich Dr. Bacharach für den Fall interessieren – wird Ihre Patientin einwilligen, sich von ihm untersuchen zu lassen? Werden wir ihre Anonymität dann aufdecken dürfen?«

      »Ich bezweifle das, Herr Winter, aber hoffentlich irre ich mich! Ich bin Ihnen auf jeden Fall zu großem Dank verpflichtet.«

      »Nein, das sind Sie nicht – das würde jeder an meiner Stelle tun. Es ist ein interessanter Fall, und vielleicht lernen wir außerdem noch alle etwas dabei.« Adrian legte den Umschlag beiseite und fragte ernst: »Aber wie helfen wir Ihrer Patientin? Es ist ja nicht damit getan, daß ein paar Spezialisten ihren Fall diskutieren, sondern sie muß bereit sein, sich helfen zu lassen.«

      »Wenn sie Hoffnung hätte, würde sie sich sicher helfen lassen, sie hängt am Leben. Aber ihr ist das Risiko zu groß.«

      »Aber wenn sie ohne Operation ein Leben in ständiger Angst führen muß«, rief Adrian, »das kann doch keine Lösung sein! Ein Hämangiom kann jederzeit platzen, das weiß sie doch sicher. Und wenn es geplatzt ist, kann sie auch nicht mehr für ihre kleine Tochter da sein.«

      »Ich kann mich natürlich täuschen«, meinte Dr. Scholz nachdenklich, »aber mir scheint, sie hat einen ganz bestimmten Grund, sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht operieren zu lassen. Und wieder glaube ich, daß das Kind die Antwort ist.«

      »Was meinen Sie damit?« fragte Adrian aufmerksam.

      »Wie gesagt, es ist nur eine Vermutung, aber mir kommt es so vor, als warte sie auf etwas. Eine Entscheidung, eine Nachricht – eine Diagnose vielleicht auch. Die Kleine war in den ersten Jahren oft kränklich.«

      »Mhm. Aber nehmen wir einmal an, Sie haben Recht, Herr Scholz – dann hätte ihre Patientin vielleicht einen guten Grund, sich jetzt keiner Operation zu unterziehen und wäre noch schwerer vom Gegenteil zu überzeugen.«

      »Möglich«, gab der andere zu, »aber das sind ja nur meine Theorien. Es ist denkbar, daß nichts davon zutrifft.«

      »Und wie schätzen Sie den augenblicklichen Zustand Ihrer Patientin ein?«

      Der andere senkte den Kopf. »Sie war schon lange nicht mehr bei mir. Ich weiß nicht, ob sie das Vertrauen zu mir verloren hat – oder ob sie einfach denkt, es lohnt sich jetzt sowieso nicht mehr. Ich habe sie allerdings angerufen und ihr eine Nachricht hinterlassen, daß ich mit ihr sprechen möchte. Ich will es wenigstens noch einmal versuchen, sie zu einem Besuch bei einem Spezialisten zu überreden.«

      »Ich rede mit Dr. Bacharach, sobald ich kann«, versprach Adrian.

      Ihr Gespräch wandte sich kurzfristig anderen Themen zu, doch immer wieder kehrten sie zu Dr. Scholz’ Patientin zurück. Als Sie schließlich auseinander gingen, drückte der Ältere dem Jüngeren lange und fest die Hand. »Danke«, sagte er, drehte sich um und entfernte sich eilig.

      Adrian ging sehr langsam nach Hause, während er sich alles, was er über diesen Fall erfahren hatte, noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Was würde ich in einer solchen Situation tun? fragte er sich. Würde ich in eine riskante Operation einwilligen – oder würde ich darauf hoffen, daß ich noch ein paar gute Jahre haben würde, in denen der Tumor sich nicht rührt und mich in Ruhe läßt?

      Er kam zu dem Ergebnis, daß er diese Frage nicht beantworten konnte. Man mußte wohl selbst in einer solchen Situation sein, um sich eine aufrichtige Antwort geben zu können.

      *

      »Frau Wagner? Könnten Sie bitte kommen? Herr Dr. Bacharach ist eingetroffen.«

      »Ich bin sofort unten«, sagte Stefanie Wagner und sprang auf. Nach einem raschen Blick in den Spiegel, bei dem sie sich davon überzeugte, daß ihr dezentes

      Make-up tadellos war und ihre blonden Locken keinen Kamm brauchten, verließ sie ihr Büro und eilte zum Aufzug, um in die Lobby des Hotels King’s Palace hinunter zu fahren. Stefanie war die Assistentin des Hoteldirektors Andreas Wingensiefen, der es sich normalerweise nicht nehmen ließ, wichtige Gäste selbst zu begrüßen. Doch in dieser Woche war er erkrankt, und so mußte Stefanie für ihn einspringen.

      Im Haus sah ohnehin jeder in ihr die Chefin und nicht in Andreas Wingensiefen – denn Stefanie war es, die hart arbeitete und bei Schwierigkeiten immer zur Stelle war, während der Direktor gern repräsentierte, die unangenehmen Kleinigkeiten aber lieber seiner Assistentin überließ. Stefanie übernahm solche Arbeiten klaglos, und gerade deshalb war sie bei sämtlichen Hotelangestellten äußerst beliebt. Wenn »jemand den Laden schmiß«, wie es kürzlich ein Lehrmädchen ausgedrückt hatte, dann war es Stefanie.

      Sie eilte durch die großzügige Halle, direkt auf Michael Bacharach zu. Zu ihrer Vorbereitung auf den berühmten Mediziner hatte es gehört, sich Fotos von ihm anzusehen und sich wenigstens einen oberflächlichen Überblick über seine Arbeit zu verschaffen. Sie wußte also, daß er Neurochirurg war und ein neues Verfahren zur Operation von bestimmten Hirntumoren entwickelt hatte.

      Vor ihr stand ein imposanter Mann von mindestens einem Meter neunzig. Er war jünger, als sie angenommen hatte, vielleicht fünfundvierzig Jahre alt – und er war bedeutend attraktiver. Insgeheim hatte sie sich einen verknöcherten Wissenschaftler vorgestellt, aber davon hatte dieser Mann wirklich überhaupt nichts. Er war groß, breit, gut aussehend, und er hatte ein breites, wie sie fand typisch amerikanisches Lächeln, bei dem er seine blitzend weißen Zähne zeigte.

      »Dr. Bacharach? Herzlich willkommen in Berlin«, sagte sie in fließendem Englisch.

      Er sah freundlich und angenehm überrascht auf sie herunter. Sie war aber auch wirklich ein hinreißender Anblick in ihrem eleganten taubenblauen Kostüm, das ihre gute Figur perfekt zur Geltung brachte, mit der blonden Lockenpracht und ihren schönen Augen, deren

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