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die zerbrochenen Fenster hineingeweht, sich im Luftzuge wiegten. Ein Bild an der einen Wand war unkenntlich schwarz geworden; dem heiligen Aegidius, der aus Holz geschnitzt, ihm gegenüber stand, fehlte Kopf und Arm, und man hätte auch ihn nicht mehr kennen können, wäre nicht noch das Reh dagewesen, das sich vertrauend an ihn schmiegte. Einige Bänke lagen wirr übereinander geworfen, eine zerfetzte Fahne lehnte in der Ecke neben dem ausgetrockneten Steinbecken, das früher das geweihte Wasser enthalten hatte; das Ganze war die schönste Staffage für eine rührende Ostereiererzählung.

      Bernhard hätte sich früher herzlich über die Entdeckung einer solchen poetischen Waldklause gefreut, jetzt überblickte er mit einer stumpfen Kälte die zerstörte Stätte. Seine Gedanken waren in eine wilde Irre davon gezogen und fühlten einen Ekel vor allem, auf dem sie früher so gern gehaftet. Wie die Sonne, die so leuchtend stolz den blauen Himmel sich entlang gewiegt und jetzt so blutend versank, schien ihm alles Sein ein wunderbares und unendlich trauriges Gemisch von Lust und Schmerz, das wie von einem Urwelthohne, von einem schöpferischen Behagen an Teufeleien zusammengeschmolzen; ein ewiges Ringen nach stolzem und frohem Aufschwung, ein ewiges Niedergeschleudert- und Zertretenwerden gleich darauf; die Natur hatte nur einen Ton, nur eine Sprache mehr für ihn, ein Nachtigallenlied, worin die fröhlichsten kecksten Wirbel von einer bis zum Sterben schwermütigen Stelle überwältigt und niedergedrückt werden; und dieses rätselhafte Gemisch von Lust und Schmerz, von Kraft, die im nächsten Augenblick ohnmächtig wird, von Jämmerlichkeit, die unversehens beim nächsten Sonnenschein einen prunkenden Pfauenschweif auseinanderschlägt, erbitterte ihn, reizte ihn zu einem unversöhnlichen Grollen jetzt – er kannte sich selbst nicht mehr. Er streckte mit geballter Faust den Arm aus, wie um zu prüfen, wie viel Kraft in ihm wohne; er ließ krampfhaft die Muskeln daran aufschwellen, als gelte es ein Gladiatorspiel mit einem nahenden Feinde zu beginnen; und das Gefühl, daß die Natur eine Stärke hineingelegt habe, mit der er zufrieden war, hatte, zum erstenmal in seinem Leben, etwas Angenehmes, Beruhigendes für ihn. Seine Augen bohrten blitzend ihre Blicke in einen Punkt der Ferne ein.

      Sein Gemüt war tief wie ein See; es war spiegelglatt gewesen wie ein See, bis vor wenig Tagen; eine klare Fläche, über der die azurblauen und hellroten duftigen Farbenstreifen lagen, welche stille Luftströmungen und die sachten Züge der Wolken darüber werfen; aber jetzt war ein Blitz hineingeschlagen, es stürmte, es wogte in ihm, und mit einem zornigen Behagen tummelte sich der Leviathan durch diese Wogen – die Leidenschaft.

      Der Abend sank immer mehr hinab; die Sonne war geschieden und an ihrer Stelle flammte über dem Bergsattel im Westen eine dunkle Glut, wie ein gewaltig loderndes Osterfeuer. In dem grauen Turm im Dorfe wurde die Abendglocke geläutet. Ein langer Nachhall noch, der durch die Ulmenwipfel über der Kapelle zu summen schien, und die Stille kehrte zurück; dafür fing der Wind stärker in den Zweigen zu rauschen an. In dem Dorfe unten, in den einzeln und zerstreut auf den Halden umher liegenden Häuschen flatterten Lichter an und Schossen zuckende kleine Strahlenpfeile durch das Grün ihrer Baumhöfe; Bernhard gerade gegenüber, auf einem jenseits schwellenden Bergabhang, lag eine Hütte, deren Tür offen stand; er sah das lodernde Herdfeuer im Hintergrunde; zuweilen bewegte sich eine dunkle Gestalt davor; dann eine Zeitlang rasch nacheinander zwei Kinder, die umher zu tanzen schienen, bis die Mutter den Milchtopf darüber hing; ein gebückt schreitender Mann kam und setzte sich in einen Lehnstuhl hart daran. Es war ein freundliches Bild, das durch die grellen Kontraste von Finsternis und Licht einen traumhaften Anstrich bekam.

      Es wurde völlige Nacht umher, aber eine milde und mondhelle; hinter Bernhard, in einem morschen Ständer der Kapelle, begann ein Holzwurm zu ticken; ein Wiesel schlich durch das Gras und hüpfte in langen Sätzen an seinen Füßen vorüber; aus dem nächsten Gebüsche tönte das leise Grunzen eines Igels. Dann wieder alles so stille rings, daß das Säuseln der welken Blätter an den Digitalenstämmen hörbar wurde, die über einen Schutthaufen an der Mauer aufgeschossen waren.

      In Bernhards Seele ward es ruhiger; die frühere Stille seines Gemütes voll Ergebung, voll Glauben und auch voll jenes vergeistigten Aberglaubens, der in allen tieferen Charakteren irgendein Fleckchen findet, wo er Wurzeln schlagen und seine seltsamen lianenhaften Ranken treiben kann, kehrte in ihm zurück. Nach und nach erfüllte ihn seine eigne unreife und kindische Philosophie, die ihm eben noch mit den zornigen Tränen, die er nicht weinen konnte, die Brust zu zersprengen gedroht hatte – mit demselben Ekel, den er vor allen früheren Gegenständen seiner liebsten Gedanken gefühlt hatte, als sie ihn beherrschte. Er saß eine Zeitlang, die Stirn in seine Hand stützend; dann schloß er die Augen, legte den Kopf auf die Lehne der hölzernen Bank zurück und seufzte kaum vernehmlich: »O Licht! O Liebe! O Licht!«

      Er mochte eine Stunde so gelegen haben, als er sich von einem warmen Atem angehaucht fühlte. Als er emporfuhr, sah er eine Gestalt einige Schritte weit von ihm sich bewegen, die jetzt näher trat: »Herr Bernhard,« sagte sie, »die Mutter schickt mich, nachzusehen, wo Ihr so lange bleibt.«

      »Lene, Mädchen, bist du da?«

      »Es ist spät, Herr,« versetzte Lene mit einiger Bewegung in ihrer Stimme: »Eu'r Essen wird kalt.«

      »Standest du eben nicht dicht neben mir?«

      »Wer, ich?« sagte sie und sprang ohne weitere Antwort den Bergpfad hinab.

      Bernhard folgte ihr schweigend. Als sie einige hundert Schritt gegangen waren, sahen sie am Eingange eines kleinen Fichtengehölzes, durch das der Fußweg führte, einen Menschen auf einem gefällten Stamme sitzen.

      »O Gott!« schrie Lene leise auf und blieb stehen.

      »Was ist dir, Lene? Fürchtest du dich?«

      »O nichts, Herr,« sagte sie und schritt zögernd hinter Bernhard her. Der Fremde blieb ruhig sitzen, als sie an ihm vorüber gingen, und murmelte ein tonloses »guten Abend«. Soviel Bernhard erkennen konnte, war es eine etwas zigeunerhafte Figur.

      »Wo bleibt ihr beide so lange draußen?« sagte Frau Margret, die in dem Gärtchen vor ihrem Hause auf einem Feuerstübchen hockte und in den mondhellen Abend hinaus schaute. »Mußtest du dich auch draußen umhertreiben in dieser Nachtstunde, Lene?«

      »Ich sollte ja gehen und nachsuchen, wo Herr Bernhard so lange bleibe,« sagte Lene und ging rasch, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Haus.

      »So? Davon weiß ich nichts!«

      »Aber, Mutter, denkt Ihr denn gar nicht an die kühle Nachtluft. Wir sind weit im Herbst, und der Mondschein hat Euch nie gut getan,« sagte Bernhard und faßte die Mutter am Arm, um ihr das Aufstehen zu erleichtern.

      »Ich wollte sehen, wo ihr bliebet,« versetzte Margret; »es wurde mir auch so wunderlich zumute allein im Hause.«

      Er nahm das Feuerstübchen auf und sie schritt, von ihm unter dem Arm gefaßt, der Haustür zu.

      »Habt ein Aug' auf Lene, Mutter,« sagte Bernhard leise: »es saß unterwegs ein Mensch unter den Fichten, der mir wie ein Scherenschleifer vorkam; sie schien ihn zu kennen.«

      »So, ist das Gesindel wieder da? Nun, ich will sie schon hüten.«

      Lene war die Tochter eines Scherenschleifers, das heißt, sie gehörte einem Volksstamme an, der sich damals vagabundierend viel in Westfalen umhertrieb und denselben Erwerb hatte wie die Zigeuner, mit welchem Volke er verwandt schien, obwohl ein weniger schmutziges, auch minder fremdartiges und orientalisches Aeußere ihn vorteilhaft von denselben unterschied. Man nannte sie Scherenschleifer, weil die Männer, wenn sie wegen eines Diebstahls oder wegen unverschämter Bettelei zur Untersuchung gezogen wurden, behaupteten, in irgendeinem Winkel der Welt einen Scherenschleiferkarren stehen zu haben, mit dem sie ihren Unterhalt suchten und auch einige wenige in der Tat ein solches Gerät mit sich führten. Sie waren, wie gesagt, reinlicher und anständiger als die Zigeuner, ihre Gesichtsfarbe, wenn auch dunkler wie die der Landeseinwohner, doch weniger kupferbraun als die jener; ihre Tracht unterschied sich von der der Bauern durch größere Nettigkeit; die Männer waren kenntlich an Jacken mit zwei Reihen dicht aneinander gesetzter kugelrunder Silber- oder häufiger Zinnknöpfe. Sie lebten unter einem, ich weiß nicht, ob gewählten oder durch Erbfolge eingesetzten Oberhaupt, das die Bauern den Heidenküster nannten und der regelmäßig der pfiffigste und verschlagenste Bursche war, der

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