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Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Год выпуска 0
isbn 9788027204113
Автор произведения Джозеф Конрад
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Damals war ich schon ganz wach. Da ich aber sehr bequem lag, so verhielt ich mich ruhig, denn ich sah keinen Anlaß, meine Stellung zu ändern. ›Wie kam denn das Elfenbein den ganzen Weg herunter?‹ knurrte der alte Mann, der recht verärgert schien. Der andere erklärte, daß es mit einer Kanuflotte unter dem Befehl eines englischen Mischlings heruntergekommen sei, den Kurtz bei sich gehabt hatte; daß Kurtz augenscheinlich die Absicht gehabt habe, selbst zurückzukehren, da seine Station eben ohne Waren und Vorräte gewesen sei, daß er sich aber nach dreihundert Meilen plötzlich entschlossen habe, zurückzugehen; das habe er dann auch durchgeführt, sei in einem kleinen Einbaum mit vier Ruderern stromaufwärts gefahren und habe es dem Mischling überlassen, die Reise stromabwärts mit dem Elfenbein fortzusetzen. Die beiden Burschen dort unten schienen verblüfft, daß irgend jemand so etwas gewagt haben sollte. Sie waren in Verlegenheit, einen Beweggrund dafür zu finden. Mir aber schien es, als sähe ich Kurtz zum ersten Male. Es war ein deutliches Bild: der Einbaum, vier paddelnde Wilde – der einsame weiße Mann, der plötzlich dem Hauptquartier den Rücken kehrte und damit auch der Ablösung und allen Gedanken an die Heimat – vielleicht; das Gesicht den Tiefen der Wildnis zugewandt, seiner leeren und trostlosen Station. Ich kannte den Beweggrund nicht. Vielleicht war er einfach nur ein schneidiger Mann, der um seiner selbst willen an seiner Arbeit hing. Sein Name, müßt ihr übrigens wissen, war kein einziges Mal ausgesprochen worden. Er war ›der Mann‹. Der Mischling, der, soviel ich sehen konnte, eine schwierige Reise mit großer Vorsicht und Entschlossenheit durchgeführt hatte, wurde beständig unter der Bezeichnung ›der Schuft‹ erwähnt. ›Der Schuft‹ hatte gemeldet, daß ›der Mann‹ recht krank sei – sich ungenügend erholt hatte … Die beiden unter mir gingen ein paar Schritte weiter und schlenderten in kleinem Abstand auf und ab. Ich hörte: ›Militärposten – Doktor – zweihundert Meilen – jetzt ganz allein – unvermeidliche Verzögerung – neun Monate – keine Nachrichten – merkwürdige Gerüchte.‹ Sie näherten sich wieder, gerade als der Direktor sagte: ›Niemand, soviel ich weiß. Nur eine Art von herumziehendem Händler – ein ekelhafter Kerl, der den Eingeborenen Elfenbein herauslockt.‹ Von wem sprachen sie jetzt? Aus Bruchstücken entnahm ich, es müsse ein Mann sein, von dem es hieß, daß er sich im Distrikt aufhalte, und mit dem der Direktor nicht einverstanden war. ›Wir werden die unsaubere Konkurrenz nicht los sein, bis nicht einer der Burschen zum warnenden Beispiel gehängt ist‹, sagte er. ›Gewiß‹, knurrte der andere. ›Laß ihn hängen! Warum nicht? Alles – alles kann man in diesem Land tun. Das sage ich ja; niemand hier, du verstehst, hier, kann deiner Stellung gefährlich werden. Und warum? Du hältst das Klima aus, du überdauerst sie alle. Die Gefahr ist in Europa; aber dort habe ich vor meiner Abreise Vorkehrungen getroffen …‹ Sie gingen von mir weg und flüsterten, dann wurden die Stimmen wieder laut. ›Die ungewöhnliche Reihe von Verzögerungen ist nicht meine Schuld. Ich tat mein möglichstes.‹ Der Dicke seufzte: ›Sehr betrübliche.‹ – ›Und sein gottverlassenes dummes Geschwätze‹, fuhr der andere fort. ›Er hat mich genug damit geärgert, als er hier war. Jede Station sollte ein Leuchtturm auf dem Wege zu einer besseren Zukunft sein. Ein Mittelpunkt für den Handel, natürlich aber auch aller Bestrebungen, die auf Belehrung, Verbesserung, Verbrüderung abzielen.‹ Begreifst du – der Esel! Und der möchte Direktor sein! Nein, es ist … ›Hier schien ihn das Übermaß an Entrüstung zu ersticken, und ich hob meinen Kopf ein wenig. Ich war überrascht, zu sehen, wie nahe sie waren – gerade unter mir. Ich hätte ihnen auf die Hüte spucken können. Sie sahen gedankenvoll vor sich auf den Boden. Der Direktor klatschte sich mit einer dünnen Rute ans Bein. Sein weltkluger Verwandter hob den Kopf. ›Du hast dich die ganze Zeit, seit du zum letzten Male hierherkamst, wohl gefühlt?‹ fragte er. Der andere fuhr auf. ›Wer? Ich? Oh! wundervoll – ganz wundervoll. Aber die andern – du mein Gott! Alle krank!‹ – ›Hm, ja, ja‹, grunzte der Onkel. ›Oh, mein Junge, verlaß dich darauf – ich sage dir, verlaß dich darauf!‹ Ich sah ihn seine kurze Flosse von Arm in einer Gebärde ausstrecken, die den Wald, den Flußarm, den Schlamm und den Strom umfaßte und angesichts des sonnenüberglänzten Landes verräterisch das Böse, den Tod herbeizuwinken schien, der tief im Innern lauerte. Der Eindruck war so zwingend, daß ich auf meine Füße sprang und nach der Waldkante zurücksah, als hätte ich erwartet, daß von dorther irgendeine Antwort auf das geheime Zeichen erfolgen würde. Ihr wißt ja, was für närrische Gedanken einem mitunter kommen. Das große Schweigen zeigte sich geduldig mit den beiden Gestalten und wartete wohl, daß der verrückte Einbruch sein Ende finden möge.
Die beiden fluchten laut – aus blanker Furcht, glaube ich – , gingen dann auf die Station zu und gaben vor, meine Anwesenheit nicht bemerkt zu haben. Die Sonne stand niedrig; und wie sie so nebeneinander vorgebeugt hinschritten, schienen sie mühsam ihre beiden lächerlichen Schatten von ungleicher Länge, die langsam hinter ihnen über das hohe Gras glitten, ohne einen Halm zu beugen, den Hügel hinaufzuschleppen.
Wenige Tage darauf ging die Eldorado-Expedition in die geduldige Wildnis, die sich darüber schloß, wie die See über einem Taucher. Lange nachher kam die Nachricht, daß alle Esel tot waren. Über das Schicksal der weniger wertvollen Tiere weiß ich nichts. Sie alle haben wohl, wie wir anderen auch, das Schicksal gefunden, das sie verdienten. Ich forschte nicht nach. Ich war gerade damals ziemlich erregt über die Aussicht, Kurtz bald zu begegnen. Wenn ich bald sage, so meine ich das verhältnismäßig. Es waren genau zwei Monate seit dem Tage vergangen, an dem wir den Flußarm verlassen hatten, als wir am Ufer unterhalb der Station von Kurtz anlegten.
Die Reise den Strom hinauf war wie eine zu den frühesten Anfängen der Welt, als der Pflanzenwuchs noch auf der Erde wucherte und die großen Bäume Könige waren. Ein leerer Strom, ein großes Schweigen, ein undurchdringlicher Wald. Die Luft war warm, dick, schwer und drückend. Der Glanz des Sonnenscheins brachte keine Freude. Das Fahrwasser erstreckte sich weithin, in überschattete Ferne. Auf silbrigen Sandbänken sonnten sich Flußpferde und Alligatoren nebeneinander, an breiteren Stellen strömten die Wasser zwischen unzähligen bewaldeten Inseln dahin; man verlor auf dem Strom seinen Weg, wie man es in einer Wüste tun kann, plagte sich den ganzen Tag lang mit Untiefen herum, versuchte, das Fahrwasser zu finden und hielt sich schließlich für behext und für immer von allem, was man je gekannt, abgeschnitten, weit weg, vielleicht in ein anderes Land versetzt. Es gab Augenblicke, da einem die Vergangenheit vor Augen stand, wie es manchmal geschieht, wenn man gerade keinen Augenblick Zeit für sich selbst übrig hat; doch die Vergangenheit kam in der Gestalt eines unruhigen, lauten Traumes und weckte Verwunderung, im Vergleich zu der überwältigenden Wirklichkeit dieser fremden Welt aus Pflanzen, Wasser und Schweigen. Die Stille dieses Lebens hatte mit Frieden nicht das geringste zu tun. Es war die Ruhe einer unversöhnlichen Kraft, die über unerforschlichen Ratschlüssen brütete. Sie blickte einem rachedurstig entgegen.