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Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Год выпуска 0
isbn 9788027204113
Автор произведения Джозеф Конрад
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Dies machte mich stutzig. Was meinte er? Das unstete Schreckgespenst hinter seinen glasigen Augen schien stillzustehen und begierig in die meinen zu blicken. »Sie warfen mich während der Hundewache aus meiner Koje, um sie untergehen zu sehen«, fuhr er nachdenklich fort. Seine Stimme klang mit einmal beängstigend stark. Ich bereute meine Torheit. Die weiße Flügelhaube einer Krankenschwester war in dem Saal nirgends zu erblicken; doch in der Mitte einer langen Reihe eiserner Bettstellen setzte sich braun und hager, einen weißen Verband flott über die Stirn, das Opfer eines Schiffsunglücks in der Reede auf. Plötzlich streckte mein interessanter Kranker einen spinnendürren Arm aus und packte meine Schulter. »Nur ich konnte alles sehen. Ich bin nämlich berühmt wegen meiner Augen. Darum riefen sie mich wahrscheinlich. Kein einziger war flink genug, sie untergehen zu sehen; sie sahen nur, daß sie weg war, und dann schrien sie alle zusammen auf… – so!« Ein Wolfsgeheul ging mir durch Mark und Bein. »Oh! Sagen Sie ihm, daß er still sein soll«, wimmerte der Verunglückte. »Sie glauben mir wohl nicht«, fuhr der andere fort, unsagbaren Dünkel im Gesicht. »Ich sage Ihnen, solche Augen hat kein zweiter auf dieser ganzen Seite des Persischen Meerbusens. Sehen Sie unter das Bett.«
Natürlich bückte ich mich sofort. Ich bin überzeugt, jeder hätte es getan. »Was können Sie sehen?« fragte er. »Nichts«, sagte ich und schämte mich fürchterlich. Er maß mich mit wildem, vernichtendem Hohn. »Das kann ich mir denken«, sagte er. »Aber wenn ich nachsehen wollte, ich könnte sehen – es gibt keine solchen Augen mehr wie meine, sage ich Ihnen.« Wieder packte er mich und zerrte mich nieder, in seinem Eifer, sich durch eine vertrauliche Mitteilung zu erleichtern. »Millionen rosa Kröten. Es gibt keine Augen wie meine. Millionen rosa Kröten. Es ist schlimmer, als ein Schiff sinken zu sehn. Ich könnte den ganzen Tag lang sinkenden Schiffen zusehen und dabei meine Pfeife rauchen. Warum gibt man mir meine Pfeife nicht wieder? Ich möchte eine rauchen, während ich hier auf diese Kröten aufpasse. Das Schiff war voll davon. Man muß auf sie aufpassen, wissen Sie.« Er zwinkerte spaßhaft. Von meinem Kopf troff der Schweiß auf ihn, meine Drillichjacke klebte an meinem nassen Rücken fest, die Nachmittagsbrise fegte ungestüm über die Reihe der Bettstellen, die steifen Falten der Vorhänge knisterten und rasselten an den Messingstangen, die Decken wurden geräuschlos von den leeren Betten auf den Fußboden geweht, und ich schauderte bis ins innerste Mark. Der weiche tropische Wind gebärdete sich so rauh und wild in diesem kahlen Raum wie der Wintersturm der Heimat in einer alten Scheune. »Lassen Sie ihn nicht wieder sein Geschrei anheben, Herr«, rief von weitem der Verunglückte mit verzweifelter, ärgerlicher Stimme, die wie der schmetternde Ruf in einem Tunnel durch den Raum gellte. Die Klaue zerrte an meiner Schulter, er schielte mich pfiffig an. »Das Schiff war voll davon, und wir mußten uns in aller Heimlichkeit davonmachen«, flüsterte er in fieberiger Hast. »Ganz rosa. Ganz rosa – und groß wie Bulldoggen, mit einem Auge oben auf dem Kopf und Krallen rings um ihre häßlichen Mäuler. Au! Au!« Jähe Zuckungen wie von galvanischen Stößen ließen unter der flachen Bettdecke die Umrisse seiner knochigen, unruhigen Beine erkennen; er ließ meine Schulter los und langte nach etwas in der Luft; sein Körper zitterte heftig, wie eine entspannte Harfensaite; und während ich niederblickte, brach das gespenstige Grauen durch seine glasigen Augen. Augenblicklich wurde sein altes Soldatengesicht mit seinen edlen, ruhigen Linien vor meinen Augen entstellt von einer heimlichen Verschlagenheit, einer scheußlichen Vorsicht und verzweifelten Angst. Er unterdrückte einen Schrei – »Ssss; was tun sie jetzt da unten?« fragte er und deutete auf den Fußboden, indem er Stimme und Gebärde in äußerster Behutsamkeit dämpfte, so daß mir sofort der Sinn seines Gehabens aufging. – »Sie schlafen alle«, antwortete ich und beobachtete ihn scharf. Das war es. Das wollte er hören; das waren gerade die Worte, die ihn beruhigen konnten. Er tat einen langen Atemzug. »Ssss! Ruhig, langsam. Ich bin ein alter Praktikus hier draußen. Ich kenne das Geziefer. Schlagt der ersten, die sich rührt, den Kopf ein. Es sind ihrer zu viele, und sie schwimmt nicht länger als zehn Minuten.« Er rang wieder nach Atem. »Eilt euch«, kreischte er plötzlich und fuhr mit anhaltendem Schreien fort: »Sie sind alle wach – Millionen! Sie trampeln auf mir herum! Warten Sie! Oh, warten Sie! Ich will sie in Haufen, wie die Fliegen zerquetschen. Hilfe! Hilfe!« Ein endlos hingehaltenes Geheul besiegelte meine Niederlage. Ich sah in der Ferne den Verunglückten sich verzweifelt mit beiden Händen an den bandagierten Kopf greifen; ein Gehilfe, bis zum Kinn in seine Schürze gehüllt, erschien auf der Bildfläche, wie durch ein umgekehrtes Teleskop gesehen. Ich gab mich geschlagen, sprang ohne weiteres Besinnen aus einem der langen Fenster und entkam in die äußere Galerie. Das Geheul verfolgte mich wie ein Rachegeschrei. Ich bog in einen leeren Flur ein, und plötzlich wurde alles um mich herum ganz still und einsam, und während ich die kahle blanke Treppe hinunterstieg, konnte ich meine zerfahrenen Gedanken wieder sammeln. Unten traf ich einen der Anstaltsärzte, der über den Hof kam und mich ansprach. »Haben Sie sich nach Ihrem Mann umgesehen, Kapitän? Ich denke, wir können ihn morgen entlassen. Diese Tölpel können sich absolut nicht in acht nehmen, übrigens, wir haben hier den Obermaschinisten des Pilgerschiffs. Kurioser Fall. Delirium tremens schlimmster Art. Er hat sich drei Tage lang in der Schnapskneipe des Griechen oder Italieners vollgesoffen. Was wollen Sie? Vier Flaschen Branntwein pro Tag, hat man mir gesagt. Erstaunlich, wenn’s wahr ist. Er muß inwendig mit Eisen ausgeschlagen sein. Natürlich ist der Kerl verrückt geworden, aber das Merkwürdige ist, es ist Methode in seinem Wahnsinn. Ich will dahinterkommen. Höchst seltsam – der logische Faden in solchem Delirium. Der Tradition nach sollte er Schlangen sehen, aber er tut’s nicht. Die gute alte Tradition ist heutzutage im Niedergang begriffen. Wie? Seine Visionen – äh – drehen sich um Kröten. Ha! Ha! Nein, ganz im Ernst, ich erinnere mich nicht, je solches Interesse an einem Fall von Säuferwahnsinn gehabt zu haben. Eigentlich sollte er nach solchem ergiebigen Experiment tot sein. Aber der Kerl ist zäh. Vierundzwanzig Jahre in den Tropen noch dazu. Wahrhaftig, Sie sollten sich ihn einmal ansehn. Gut aussehender alter Zechkumpan. Der ungewöhnlichste Mann, den ich je gesehen habe – medizinisch natürlich. Haben Sie keine Lust?«
Ich hatte während der ganzen Zeit mein Interesse durch die üblichen Zeichen der Höflichkeit kundgegeben, nun aber entschuldigte ich mich mit einer Miene des Bedauerns wegen Zeitmangels und verabschiedete mich in Eile, »übrigens«, rief er mir noch nach, »er kann der Gerichtsverhandlung nicht beiwohnen. Wird seine Aussage von Belang sein?«
»Nicht im mindesten«, gab ich ihm vom Gartenzaune aus zur Antwort.
Sechstes Kapitel