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      Molly war immer noch schrecklich enttäuscht und wütend, als sie zu Hause ankam. Sie war mit dem Bus gefahren. Zornig warf sie die Tür zu, und jetzt erst erlaubte sie sich zu weinen.

      Wie konnte Harry nur an ihren Worten zweifeln? Sie war doch immer ehrlich zu ihm gewesen. Nie im Leben wäre es ihr in den Sinn gekommen, ihm auch nur die kleinste Unwahrheit zu erzählen.

      Warum auch? Wo sie doch selbst Lügner nicht ausstehen konnte. Es verletzte sie sehr, dass er an ihrer Aufrichtigkeit zweifelte.

      Ihre Eltern hatten sie zu absoluter Aufrichtigkeit erzogen, und das war so tief in ihr verwurzelt, dass sie selbst dann bei der Wahrheit blieb, wenn es für sie unangenehme Folgen hatte, schmerzhaft war oder sie sich sogar damit schadete.

      Zugegeben, manchmal war eine Lüge bequemer, doch weitaus mehr Qualität und Bestand hatte die Ehrlichkeit. Deshalb tat es ihr besonders weh, wenn ihr jemand nicht glaubte. Und noch mehr, wenn dieser Jemand Harry Baxter war, der Mann, den sie über alles liebte.

      Es dauerte geraume Zeit, bis Molly sich beruhigt und gefasst hatte. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, erinnerte sich an ihren Kater und hoffte, dass er inzwischen heimgefunden hatte und durch die Katzenklappe in der Küchentür ins Haus gelangt war.

      »Johnny?«

      Sie ging ins Wohnzimmer.

      »Miez-Miez-Miez!«

      Sie öffnete die Kellertür.

      »Johnny, wo bist du?«

      Sie suchte ihren schwarzen Freund im Obergeschoss.

      »Komm her! Komm zu Frauchen! Du musst doch Hunger haben.«

      War der Kleine noch immer böse auf sie, weil sie ihn heute Morgen zu füttern vergessen hatte? Können Katzen überhaupt so nachtragend sein?, überlegte Molly. Elefanten ja. Angeblich. Aber Katzen? Sie kehrte ins Erdgeschoss zurück und stutzte plötzlich.

      »Was ist denn das?«, entfuhr es ihr.

      Neben der Haustür lehnte … ein Spaten!

      *

      Ein Spaten! Ein schmutziger Spaten! Mit frischen, dunklen, feuchten Erdkrümeln dran. Jemand schien ihn kürzlich benutzt und dann hier an die Wand gelehnt zu haben.

      Im Haus!

      »Ein Spaten gehört nicht ins Haus«, murmelte Molly. »Gartengeräte bewahren wir in der Gartenhütte auf.«

      Wer mochte den Spaten verwendet haben? Und wofür? Wo hatte er damit gegraben? Und wie war es ihm möglich gewesen, ins Haus zu gelangen?

      Okay, das Türschloss stammte nicht gerade von einem Einstein seiner Zunft, aber … Molly fiel die große blau marmorierte Keramik-Obstschüssel ein, die sie ihrer Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte und die auf einmal nicht mehr an ihrem gewohnten Platz gestanden hatte … Den bordeauxroten Lederhocker hatte jemand in den Flur getragen … Und die Pendeluhr hatte eine falsche Zeit angezeigt … Wieso gab es in ihrem bisher eher ereignisarmen Leben auf einmal so viele verrückte Ungereimtheiten und unerklärliche Vorfälle? Wer brachte ihren meist relativ gewöhnlichen Alltag so sehr durcheinander? Und warum? Steckte dieser mysteriöse Unbekannte, der am nächtlichen Weiher um Harrys Auto geschlichen war, dahinter? Wer war das? Hatte er Harrys Windschutzscheibe mit Farbe besprüht? War er schuld daran, dass Johnny nicht mehr nach Hause kam – nicht mehr nach Hause kommen konnte? Hatte er Hank Braddock, den Chef von »Eldoo«, angerufen, sich als Harry Baxter ausgegeben und sich nach einem Job für seine Freundin, die bei »Modol« beschäftigt war, erkundigt?

      Fragen über Fragen.

      Und keine Antworten.

      Ich verstehe das alles nicht, dachte Molly völlig durcheinander, während sie den Spaten nahm und damit aus dem Haus trat.

      Sie sah sich die Tür an. Es gab keinerlei Spuren von Gewaltanwendung. Das Schloss musste mit einem Schlüssel oder einem Dietrich geöffnet worden sein.

      Es war inzwischen dunkel geworden. Molly fröstelte leicht. Sie schaute sich aufmerksam um, konnte aber niemanden sehen.

      Die Straße wirkte wie ausgestorben. Alle Nachbarn befanden sich in ihren Häusern, aßen, wie gewohnt, zu Abend, sahen fern, hatten keine Ahnung von Mollys unbegreiflichen Turbulenzen.

      Sie fühlte sich nicht wohl hier draußen, deshalb beeilte sie sich, so rasch wie möglich ins Haus zurückzukehren. Sie trug nur ganz schnell den Spaten in die Gartenhütte, lehnte ihn rechts neben der Tür an die Wand und kehrte gleich wieder um.

      Sobald sie im Haus war, empfand sie eine gewisse Erleichterung. Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und griff nach einem Becher griechischen Jogurts mit null Prozent Fett.

      Sie hielt sehr viel davon, sich gesund, ausgeglichen und kalorienbewusst zu ernähren, konnte nicht verstehen, wie manche Menschen völlig bedenkenlos alles, was sie in die Finger beziehungsweise auf den Teller bekamen, in ihren Körper hineinstopften, als gehörte er nicht ihnen, sondern jemand anderem, und als ginge sie seine Gesundheit überhaupt nichts an.

      Und dann leiden diese Selbstmörder mit Messer und Gabel an Diabetes, Bluthochdruck, Bandscheibenvorfällen und so weiter, ging es Molly durch den Sinn. Das ist doch unbegreiflich.

      Sie schloss die Kühlschranktür …

      … und ließ im nächsten Moment entsetzt den Jogurtbecher fallen.

      *

      Der Becher platzte auf und schneeweißer Jogurt verteilte sich über mehrere glänzende Bodenfliesen, doch das war Molly im Moment völlig egal.

      Sie starrte fassungslos aus dem Küchenfenster, und ihre Kopfhaut zog sich schmerzhaft zusammen. »Nein«, kam es flüsternd über ihre zuckenden Lippen. »O Gott, nein …« Ein Schatten aus Angst und Sorge legte sich über ihr hübsches Gesicht.

      Sie trat näher an das Fenster heran und starrte, zitternd am ganzen Körper, hinaus. Im Küchengarten hatte jemand gegraben.

      Möglicherweise mit dem Spaten, den ich vorhin in die Gartenhütte getragen habe, dachte Molly. Möglicherweise? Nein. Bestimmt sogar. Aber warum hat er dort gegraben?, fragte sie sich mit heftig klopfendem Herz. Was hat er dort begraben? Ihr rieselte es eiskalt über den Rücken. »Lieber Gott, lass das bitte nicht sein«, flehte sie.

      Der Hügel im Gemüsebeet war klein. Er hatte etwa die Größe einer … Katze. Bei diesem Gedanken wurde Molly schlecht.

      Lag darunter etwa Johnny? Molly schluckte aufgeregt, und obwohl sie das Haus lieber nicht verlassen hätte, hastete sie zum zweiten Mal in die Dunkelheit hinaus, holte den Spaten und eilte damit zum Küchengarten.

      Aber dann hatte sie nicht den Mut, das Spatenblatt ins lockere Erdreich zu drücken, weil sie Angst davor hatte, auf ihren – toten – vierbeinigen Liebling zu stoßen. Ganz kurz verdächtigte sie Harry, ihr diesen verabscheuungswürdigen Streich gespielt zu haben. Mit dem Motorrad konnte er früher als sie hier gewesen sein. Aber dass er ihrem Johnny … Nein, das hielt sie dann doch für ausgeschlossen. Dazu wäre Harry nicht fähig gewesen. Selbst dann nicht, wenn er sich über sie maßlos geärgert hätte.

      Wie in Trance begann Molly zu graben. Ihre Augen schwammen dabei in Tränen. Sie sah alles verschwommen, und in ihrem Kopf fuhren die scheußlichsten Gedanken Karussell. Johnny! Johnny! Johnny!, pochte es immerzu zwischen ihren Schläfen. Sie wusste noch genau, wie sie ihn bekommen hatte. Sie war damals zwölf Jahre alt gewesen. Mr. Henderson, der Nachbar, hatte ihn in seinem Garten gefunden. Ein kleines schwarzes Fellknäuel. Nicht mehr als eine Handvoll Leben. Total verängstigt. Riesige Augen. Mit dünnem Stimmchen kläglich miauend.

      Mr. Henderson sagte, er wäre beinahe mit dem Rasenmäher über das süße kleine Kerlchen gefahren. »Ich würde ihn ja behalten«, sagte er, »aber meine Frau hat bedauerlicherweise eine Katzenallergie, und deshalb …«

      Molly hatte sich sofort in den schwarzen Winzling verliebt, und ihre Eltern hatten nichts dagegen gehabt, ihn aufzunehmen. Molly hatte ihm den Namen Johnny gegeben.

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