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sich nochmals die Zahlen der letzten drei Monate ab, begann ihre Hochrechnung, bei der sie auch den Sommer berücksichtigte. Wenn es heiß würde, würden die Leute nicht zu hochprozentigen Spirituosen greifen …

      Sie arbeitete intensiv und konzentriert, doch dann war sie mit dem Ergebnis ihrer Berechnungen zufrieden. Für Bellert würde auf jeden Fall eine Umsatzsteigerung herauskommen, dessen war sie sich sicher, und das würde ihn glücklich machen.

      Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie noch eine Aufstellung machen konnte, und da fuschte sie ein wenig und nahm nicht die Mappe zur Hand, die als nächstes drankommen wäre, sondern sie fischte sich aus dem Stapel die Mappe Brodersen heraus.

      Brodersen war ihr von allen Geschäftspartnern der liebste, er war unkompliziert, mit allem, was sie ihm einreichte, zufrieden, und sie würde ihm niemals vergessen, dass er ihr vertraut hatte, als sie keine Ahnung gehabt hatte, wohin der Weg sie führen würde.

      Er hatte ihr den Vertrieb seiner Produkte übergeben, nicht nur das. Unermüdlich hatte er Kollegen davon überzeugt, dass sie – eine echte Fahrenbach, wie ihr verstorbener Vater – die richtige Partnerin für sie war. Und Brodersen war es auch gewesen, der den ersten Kontakt zu Marjorie Ferguson hergestellt hatte, der Cheffin des edlen schottischen Malt-Whiskys Finnmore eleven. Freilich, das Konzept, um die kritische Marjorie zu überzeugen, hatte sie machen müssen, aber von sich aus wäre sie doch niemals an Marjorie herangetreten. Die hatte für den deutschen Vertrieb ihres Whiskys nicht einmal das Weinkontor in Betracht gezogen, dass zu diesem Zeitpunkt immerhin noch führend gewesen war.

      Ach, der gute Herr Brodersen, er hatte sogar ihre Schwägerin Doris eingestellt, nachdem sie sich von Markus getrennt hatte, weil ihr in Fahrenbach die Decke auf den Kopf gefallen war, und Doris hatte in seinem Betrieb sogar eine recht ordentliche Karriere gemacht. Wer hätte das gedacht, anderswo hätte sie nicht die Chance bekommen, sich zu profilieren.

      Sie musste Doris anrufen, unbedingt, aber nicht jetzt, jetzt durfte sie sich nicht durch private Dinge ablenken lassen, und deswegen würde auch Grit warten müssen.

      Die Aufstellung für Brodersen hatte Inge gemacht, und die musste Bettina nicht überprüfen, sondern nur einen Blick darauf werfen, um informiert zu sein. Das erwartete Herr Brodersen, dass man exakte Auskünfte geben konnte, und das war auch sein Recht.

      Er würde sich freuen, der Gute, denn sowohl für das Küstenfeuer mit einem Alkoholanteil von 45 % als auch das Dünenlicht mit 30 % gab es wieder Umsatzsteigerungen, dabei waren beides keine spektakulären Alkoholika, aber solide und seit Jahrzehnten in unveränderter Qualität auf dem Markt, so etwas schätzte der Endverbraucher, und der gute Monsieur Humblet bearbeitete den französischen Markt ganz erstaunlich. Wer hätte das gedacht, dass zwei so typisch deutsche Spirituosen einen solchen Siegeszug durch Frankreich antreten würden. Aber Monsieur Humblet war ein agiler, emsiger Spirituosenhändler, der auch ganz andere Sachen für sie verkaufte … Sie konnte im Grunde genommen von Glück reden, dass sie sich irgendwann einmal zufällig im Flieger auf dem Flug von Paris nach Bordeaux kennengelernt hatten. Es hatte sich eine wirklich mehr als angenehme Geschäftsverbindung daraus entwickelt, und nun war Monsieur Humblet ganz heiß darauf, das gute alte Fahrenbach-Kräutergold zu seiner No. one zu machen. Bettina sollte es nur recht sein.

      Den Vorgang Brodersen konnte sie beiseitelegen, alles war bestens.

      Sie zögerte, wollte nach der nächs­ten Mappe greifen, aber dann sah sie auf ihre Uhr. Anfangen konnte sie noch, aber nicht beenden. Nein, das brachte nichts, sie stand auf. Sie würde schon jetzt nach Steinfeld fahren und sich vor dem Treffen mit Herrn Fischer ein wenig in dem neueröffneten Buchladen umsehen. Sie kaufte für ihr Leben gern Bücher, nicht nur das, sie las sie auch gern.

      Und danach, nach ihrer Rückkehr, würde sie Herrn Perlinger mitteilen, wie gut sich sein Marillenbrand verkaufte, und auch Madow sollte erfahren, wie es um sein ›Fire‹, den hochprozentigen Wodka stand, und danach, Zug um Zug würden die weiteren Geschäftspartner folgen, aber eines war sicher, das würde sie nicht an einem Tag schaffen, denn irgendwann rauschte einem der Kopf, und man konnte keine Zahlen mehr so richtig erfassen und machte Fehler.

      Sie würde tun, was sie tun konnte.

      Bettina griff nach ihrer Tasche, rief draußen auf dem Flur laut: »Ich bin dann mal weg«, ehe sie die Treppe hinunterpolterte und dann den Weg hinablief, der auf den Hof führte. Sie war mit dem dem, was sie geschafft hatte, durchaus zufrieden, ganz besonders glücklich machte es sie, dass sie Bellert von der Backe hatte.

      Auf dem Hof war niemand zu sehen. Bestimmt war Leni in ihrer Küche damit beschäftigt, um für ihre Yvonne etwas besonders Leckeres zu kochen. Die Arme würde aber dann erst einmal den Schock ihres Lebens bekommen.

      Irgendwo bellten die Hunde, doch Bettina beeilte sich, wegzukommen, ehe die beiden auf sie zuschossen und nicht nur ihre Streicheleinheiten haben wollten, sondern auch vor allem Leckerli erwarteten.

      Max und Goldie waren ganz liebe Tiere, die aber doch nicht an ihren geliebten Hektor, den zu seinen Lebzeiten noch ihr Vater gekauft hatte, und an die kleine Lady herankamen. Noch jetzt war ihr ganz weh zumute, wenn sie daran dachte, dass dieser grässliche Herr Koller, einer der Bewohner aus dem Neubaugebiet, sie heimtückisch vergiftet hatte. Er hatte die armen Tiere umgebracht, um ihr eines auszuwischen, weil sie ihm keinen Liegeplatz für seine Yacht und kein Jagdrevier verpachtet hatte. Auch wenn sie dafür gesorgt hatte, dass er einen hohen Geldbetrag an das Tierheim hatte zahlen müssen, hatte sie das niemals mit Befriedigung erfüllt. Der Verlust ihrer Tiere war durch keinen Geldbetrag der Welt aufzuwiegen.

      Bettina stieg in ihr Auto und fuhr langsam den Berg hinunter. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass außer den Hofbewohnern nur noch die Feriengäste diese Privatstraße benutzen durften.

      Ganz besonders für die berühmte Schauspielerin Isabella Wood war das ausschlaggebend gewesen, als sie sich für einige Zeit auf dem Hof eingemietet hatte, um über einen schweren Schicksalsschlag hinwegzukommen.

      Ob Isabella schon wieder von ihrem Dreh in Hollywood zurück war? Sie hatten lange nichts voneinander gehört.

      Bettina reihte sich in den Straßenverkehr ein und machte ihr Radio an. Gleich der erste Sender brachte Musik, die ihr gefiel, sie drehte etwas lauter auf, dann fuhr sie in Richtung Steinfeld.

      *

      Bettina war wirklich viel zu früh in Steinfeld, aber das machte nichts, so konnte sie seelenruhig noch ein wenig im Buchladen herumstöbern.

      In einer Buchhandlung, allerdings in Bad Helmbach, hatte sie auch Jan kennengelernt, damals, als sie noch mit Thomas zusammen gewesen war. Sie erinnerte sich noch so an dieses Zusammentreffen als habe es erst gestern stattgefunden. Zum damaligen Zeitpunkt hätte sie gelacht, wenn jemand ihr gesagt hätte, aus ihr und Jan würde mal ein Paar. Für sie hatte nur Thomas gezählt, und wenn Jan sie nicht ausfindig gemacht hätte, was für ihn als Journalist ein Leichtes gewesen war, wären sie sich niemals mehr begegnet. Sie war nicht interessiert gewesen. Wenn sie in einer Bindung war, dann zählte für sie nur dieser eine Mann, und es käme ihr niemals in den Sinn, zu flirten, um ihren Marktwert zu testen.

      Die Buchhandlung war gut besucht, als Erstes trat Bettina an den Tisch mit den Neuerscheinungen, nahm das eine oder andere Buch in die Hand, blätterte darin, doch es sprang kein Funke auf sie über. Nein, hier war nichts für sie dabei. Sie würde niemals Bücher kaufen, nur weil sie auf irgendwelche Bestsellerlisten standen oder weil sie noch ein paar Meter Bücherwand zu füllen hatte. Schon allein der Gedanke verursachte ihr Unbehagen.

      Sie ging weiter, schlenderte an den Regalen entlang, dann blieb ihr Blick auf einem kleinen Bändchen haften. Es war nicht der ausnehmend ansprechende Einband, der sie faszinierte. Auch danach traf sie keine Auswahl, sondern der Name der Schriftstellerin, über die sie grade zufällig gelesen hatte – Irene Némirovsky, eine russisch-französische Schriftstellerin, die von 1903 bis 1942 gelebt hatte, die also keine dreißig Jahre alt geworden war und demzufolge kein reichhaltiges literarisches Erbe hinterlassen hatte. In diesem Büchlein, anders konnte man es nicht nennen, beschreibt sie unter dem Titel Herbstfliegen das berührende Schicksal einer Emigrantenfamilie zur Zeit der Russischen Revolution.

      Bettina

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