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vorher war Frau Tiedemann aus der Ohnmacht erwacht. Sie sprang auf, stieß gutturale Laute aus, die wohl ihre unsägliche Freude über die Rettung ihres totgeglaubten Sohnes ausdrücken sollten und schloss ihn schluchzend in die Arme. Schließlich hing die ganze Familie an dem wiedergekehrten Fünfzehnjährigen, betätschelte ihn und küsste ihn von allen Seiten.

      Mathilde wandte sich als Erste dem immer noch am Boden liegenden Bergführer zu, dessen keuchender Atem sich langsam beruhigte. Sie kniete neben ihm nieder und strahlte ihn an. Ludl richtete den Oberkörper auf und stützte sich auf die Ellbogen. Er schnitt eine Grimasse.

      »Das ist grad noch mal gut gegangen«, kam es heiser von seinen Lippen. »Wenn so was öfter passieren tät, könnt ich meinen Beruf glatt an den Nagel hängen.«

      »Sie sind ein Held, Herr Neudecker«, flüsterte das Mädchen schwärmerisch. »Nur ein sehr mutiger Mann wagt eine solche Tat.«

      Geschmeichelt verzog Ludl den Mund zu einem Lächeln und legte seine Hand ungeniert auf das Knie des Mädchens. »Unsereiner weiß sich im Gebirge halt zu helfen«, sagte er selbstgefällig. »Und net bloß auf dem Berg«, fügte er vieldeutig hinzu und drückte das Mädchenknie.

      Inzwischen hatten die übrigen Familienmitglieder den Sohn, der nur ein paar Schürfwunden erlitten hatte, losgelassen und eilten zu Ludl hin. Dieser stand auf, schüttelte mehrere Hände und musste sogar einen schmatzenden Kuss der Mutter über sich ergehen lassen, wobei er einen sehnsüchtigen Blick zur Tochter hinschickte. Er fürchtete schon, auch von Vater Tiedemann eine Zärtlichkeit hinnehmen zu müssen, doch dieser zückte seine Brieftasche und entnahm dieser ein paar Geldscheine. Ludl sträubte sich nicht und ließ die Geldscheine nach einem markigen Händedruck in seiner Joppentasche verschwinden.

      Der Abstieg wurde fortgesetzt, und die Tiedemanns gaben erleichterte Ausrufe von sich, als der Felssteig hinter ihnen lag und sie hinaustreten konnten auf den nicht sehr steilen Latschenhang. Die Tochter hielt sich wieder in der Nähe des Bergführers und haschte bei jeder kleinen Unebenheit des Bodens Hilfe suchend nach dessen Hand.

      »Jetzt kann nichts mehr schiefgehen«, hauchte sie mit einem gekünstelten Augenaufschlag.

      »Das will ich hoffen«, brummte der breitschultrige Bergführer. »Eigentlich hätt ich Ihrem Bruder eine gehörige Ohrfeige herunterhauen sollen. Aber der Angstbeutel hat mir schließlich leidgetan. Doch leicht hätt es zwei Bergtote geben können.«

      »Wie schrecklich«, hauchte die Mollige. »Hat Sie mein Vater wenigstens entsprechend belohnt?«

      »Er schon«, grinste Ludl, »aber von Ihnen, blitzsauberes Dirndl, hab ich bloß ein Händeschütteln geerntet. Ist das net ein bissel wenig?«

      Eine sanfte Röte stieg in das rundliche Mädchengesicht. »Ich besitze nicht viel Geld«, gestand sie. »Aber zwanzig Euro …«

      »Dummes Hascherl«, fiel er ihr rasch ins Wort. »Bei Ihnen denk ich doch net ans Geld. Aber ein paar herzhafte Busserl hätt ich mir schon gewünscht.«

      Das rundliche Gesicht rötete sich noch mehr. »Ich kann Sie doch nicht vor den Augen der Eltern küssen«, flüsterte sie verschämt.

      Zusammen mit ihr übersprang er eine ziemlich flache Felsrinne, wobei seine Hand helfend um ihre Hüfte gelegt war. Wie unabsichtlich glitten seine Finger etwas tiefer. Er lachte sie an. »Die Eltern soll man beim Busseln freilich net zuschauen lassen«, gab er vergnügt zu. »Aber ihr seid doch im ›Federerbräu‹ einquartiert. Wenn’s erlaubt ist, komm ich heut nach Einbruch der Dunkelheit in Ihr Kammerl, Mathilde.« In bittendem Ton fügte er hinzu: »Bloß auf ein Viertelstünderl. Wegen der Busserl.«

      Erschrocken schüttelte sie den Kopf. »Das ist unmöglich. Wenn das mein Vater merken würde …« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

      »Der merkt garantiert nix«, beruhigte sie der Bergführer. »Wie man verstohlen in eine Dirndlkammer kommt, das weiß ich ziemlich gut.«

      Damit hatte er nicht übertrieben. Gar mancher weibliche Feriengast war von ihm schon zu nächtlicher Stunde betreut worden. Da die meisten Urlauber im »Federerbräu« wohnten, war ihm das Haus vertraut.

      Mathilde fand keine Gelegenheit mehr, darauf zu antworten, denn ein großer, hagerer Mann näherte sich der kleinen Gruppe. Der Mann trug eine abgewetzte graue Lodenjoppe, kurze Lederhose, wollene Kniestrümpfe und derbe Nagelschuhe. Das verwitterte Hütl zierte eine zerzauste Spielhahnfeder. Auf dem Rücken hing ein kurzläufiges Gewehr. »Das muss ein Jäger sein«, rief Frau Tiedemann und beäugte den Ankommenden mit großer Neugier.

      »Richtig«, sagte Ludl und schmunzelte. Dann wandte er sich an den Weidmann. »Grüß dich, Ebenhecht! Machst grad dein Reviergang?«

      Der Gefragte lüftete höflich das Hütl vor der Familie Tiedemann und antwortete dem Bergführer: »So ist es, Ludl. Und du hast wohl den Herrschaften gezeigt, wie schön unsere Bergwelt ist, gelt?«

      »Das hat er«, mischte sich Vater Tiedemann ein. »Er ist ein großartiger Bergführer und nicht nur das.« Eifrig schilderte er dem Jäger die mutige Rettung seines Sohnes. »Ihm haben wir es zu verdanken, dass unser Lothar heil und wohlauf neben mir steht.«

      Aufmerksam hatte Ebenhecht zugehört und seinen graumelierten Kinnbart gestreichelt. Der Blick aus den scharfen grauen Augen richtete sich auf den Belobigten, der scheinbar verlegen mit der Stiefelspitze über ein Moospolster scharrte.

      »Das war wirklich eine schneidige Leistung, Ludl«, sagte er anerkennend. »Die Martha wird sich freuen, das zu hören.«

      »Bitt schön kein Wörtl mehr darüber verlieren«, bat er voller Bescheidenheit und sah aus den Augenwinkeln zu Mathilde hinüber. Ihm kam es darauf an, dass der Name der Jägerstochter nicht noch öfter genannt wurde. Das hätte seine Pläne für die kommende Nacht leicht über den Haufen werfen können. »Ich hab bloß meine Pflicht getan.«

      »Dem Bürgermeister sag ich’s trotzdem«, kündigte Ebenhecht an. »Ein Präsent vom Fremdenverkehrsverein ist dir gewiss.«

      Dagegen hatte Ludl nichts einzuwenden. Beiläufig fragte er: »Wie steht das Wild im Revier, Ebenhecht?«

      »Es hat sich seit dem vorigen Jahr vermehrt.« Die Augen des Forstmannes leuchteten kurz auf. »Ein Sechzehnender ist mir heut über den Weg gelaufen. Was Schöneres hab ich meiner Lebtag net gesehen.«

      »Hm!« Ludls Zähne gruben sich in die Unterlippe. »Das freut mich für dich. Wo ist dir der Prachtkerl denn begegnet?«

      »Beim großen Wildwechsel neben der Waldblöße. Wo er gern steht, muss ich erst herausfinden. Er ist ja schließlich ein Neuzugang vom Kleebuckel herüber. Hoffentlich bleibt er und wechselt net wieder zurück ins Nachbarrevier.«

      »Ich drück dir die Daumen, Ebenhecht«, rief Ludl. »Aber jetzt muss ich meine Leut heimführen. Grüß mir die …« Er hustete. »Sag einen Gruß zu Haus.«

      Der Jäger lüftete wieder den Hut, wünschte den Feriengästen noch erholsame Urlaubstage und stapfte weiter.

      Mit bleiernen Füßen kamen die Tiedemanns in Farngries an, schüttelten Ludl noch einmal dankbar die Hand und wankten über die Schwelle des »Federerbräus«. Mathilde fasste den Bergführer bei der Hand und eilte mit ihm zur Hinterseite des Bräus. Dort zeigte sie hinauf zum Obergeschoss.

      »Hinter dem zweiten Fenster von links ist mein Zimmerchen.« Sie griff sich ängstlich an die wogende Brust. »Nein, es ist zu gefährlich. Bitte kommen Sie nicht, Herr Neudecker.«

      »Keine Sorg, Dirndl, goldiges.« Ludl kicherte. »Niemand hört und sieht etwas. Net vergessen, das Fenster nur anlehnen! Sobald der Mond aufgegangen ist, klopf ich an.« Prüfend schaute er in die Runde. Weil aber die alte Hausmagd des Bräus gerade aus der Haustür trat, begnügte er sich mit einem Wangentätscheln und schritt davon.

      Im Häuschen seiner Mutter wusch er sich, verzehrte einen Nudelauflauf, den die Mutter besonders schmackhaft zubereitete und schlief drei Stunden. Als er aufwachte, stand die Mondsichel mattglänzend am nächtlichen Firmament. Hurtig sprang er aus dem Bett, tauchte

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