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Energie“, sagte sie. „Die Wahrheit setzt sich immer durch.“

      Die Menschenmassen wurden dichter, als sie die Brücke überquerten, und bald waren sie im dichten Gedränge über dem Burggraben. Kyra spürte die Aufregung in der Luft, als es dunkel wurde; Fackeln erleuchteten die Brücke und der Schnee fiel ununterbrochen weiter. Als sie das Tor vor sich sah, das von einem Dutzend der Männer ihres Vaters bewacht wurde, schlug ihr Herz schneller. Aus dem Bogen ragten die Spitzen eines eisernen Fallgitters hervor, dessen Gitterstäbe stark genug waren, jeden Feind abzuhalten, bereit beim Klang eines Horns geschlossen zu werden. Das Tor war 10 Meter hoch, und darüber befand sich eine breite Plattform, die sich um das ganze Fort erstreckte, mit breiten steinernen Zinnen, die mit Wächtern bemannt waren, die immer ein wachsames Auge auf die Landschaft hatten. Volis war eine feine Festung, davon war Kyra immer überzeugt gewesen, und war stolz darauf. Doch was sie noch stolzer machte, waren die Männer im Inneren, die Männer ihres Vaters, die besten Krieger von Escalon, die sich langsam in Volis sammelten, nachdem sie nach der Kapitulation des Königs in alle Winde verstreut waren. Ihr Vater zog sie wie ein Magnet an. Mehr als einmal hatte sie ihren Vater gedrängt, sich zum neuen König auszurufen – doch er hatte immer nur den Kopf geschüttelt und gesagt, dass das nicht seine Art war.

      Als sie sich dem Tor näherten, kamen ein Dutzend der Männer ihres Vaters zu Pferde hindurch, und die Menschen machten ihnen Platz. Sie ritten zum Trainingsgelände außerhalb des Forts, ihrem liebsten Ort in der ganzen Umgebung.

      Sie ging dorthin und sah ihnen stundenlang beim Training zu, studierte jede einzelne ihrer Bewegungen, wie sie ihre Pferde ritten, und wie sie ihre Schwerter zogen, die Speere warfen und die Flegel schwangen.

      Diese Männer ritten trotz des Wetters und der bevorstehenden Festlichkeiten hinaus um zu trainieren, weil sie es wollten. Sie wollte lieber draußen auf einem Schlachtfeld sein als drinnen eingesperrt zu sein – genau wie sie. Sie spürte, dass sie in Wirklichkeit eine von ihnen war.

      Eine weitere Gruppe von Männern ihres Vaters kam durchs Tor, diesmal zu Fuß und als Kyra sich ihnen näherte, traten sie beiseite, um Brandon und Braxton mit dem Eber durchzulassen. Sie pfiffen bewundernd und sammelten sich um sie herum, große, muskelbepackte Männer, die mindestens eine Elle größer waren als ihre nicht gerade kleinen Brüder. Die meisten von ihnen hatten von Grau durchzogene Bärte, alles hartgesottene Krieger zwischen 30 und 40, die zu viele Schlachten gesehen hatten und dem König gedient hatten, als sie die Schmach seiner Kapitulation hinnehmen mussten. Diese Männer hätten nie aus eigenem Antrieb kapituliert. Diese Männer hatten alles gesehen und waren nicht so leicht zu beeindrucken – doch der Eber schien es ihnen angetan zu haben.

      „Den habt ihr ganz alleine getötet?“, fragte einer von ihnen Brandon, als er das Tier betrachtete.

      Die Menge war so dicht, dass Brandon und Braxton stehen bleiben mussten. Sie badeten sich im Lob und der Bewunderung dieser großen Männer, und versuchten nicht zu zeigen, wie schwer ihnen die Last des Tiers war.

      „Das haben wir“, rief Braxton stolz.

      „Ein schwarz gehörnter Eber!“, rief ein anderer Krieger, der mit seiner Hand über das Fell des Tiers strich. „Hab keinen mehr gesehen seit ich ein Junge war. Hab einmal selbst dabei geholfen, einen zu töten, doch das war eine ganze Gruppe von Männern gewesen, und einige von ihnen haben dabei ein paar Finger verloren.“

      „Wir haben nichts verloren“, rief Braxton prahlerisch. „Nur eine Speerspitze.“

      Kyra brannte innerlich, als die Männer lachten. Sie bewunderten den Jagderfolg, während ein anderer Krieger, Anvin, ihr Anführer, vortrat und das Tier genauer untersuchte. Die Männer machten ihm respektvoll Platz.

      Anvin, den Kommandanten der Männer ihres Vaters, mochte Kyra von allen am meisten; er war immer wie ein zweiter Vater für sie gewesen, und sie kannte ihn schon solange sie denken konnte. Er liebte sie innig, das wusste sie, und er passte auf sie auf. Doch was noch viel wichtiger war – er nahm sich immer Zeit für sie, zeigte ihr Kampftechniken und den Gebrauch der Waffen, wenn andere abwinkten. Er hatte sie sogar schon öfter mit den Männern trainieren lassen und sie hatte jede dieser Gelegenheiten genossen. Er war der Härteste von allen, doch er hatte auch das sanfteste Herz – denen gegenüber, die er mochte. Doch die, die er nicht mochte, mussten sich vor ihm fürchten.

      Anvin tolerierte keine Lügen; er war ein Mann, der den Dingen immer auf den Grund gehen musste, egal wie schmutzig die Antwort war. Er hatte einen unbestechlichen Blick, und als er den Eber untersuchte, sah Kyra, wie er die beiden Pfeilwunden betrachtete. Er hatte ein Auge für Details und wenn irgendjemand die Wahrheit sehen konnte, dann er.

      Anvin untersuchte die beiden Wunden, und musterte die kleinen Pfeilspitzen, die noch immer in den Löchern steckten, zusammen mit den Holzsplittern ihrer Pfeile, die die Brüder abgebrochen hatten. Sie hatten sie dicht an der Spitze abgebrochen, damit niemand sehen konnte, wer das Tier wirklich getötet hatte. Doch Anvin war nicht irgendwer.

      Kyra sah wie Anvin die Wunden studierte, wie er die Augen zusammenkniff und sie wusste, dass er die Wahrheit erkannt hatte. Er zog einen Handschuh aus und zog die Pfeilspitze heraus. Er hielt das bluttriefende Metall hoch, dann wandte er sich den Brüdern mit skeptischem Blick zu.

      „Eine Speerspitze sagt ihr?“, fragte er mit missbilligendem Ton.

      Eine angespannte Stille breitete sich über die Gruppe aus, und Brandon und Braxton sahen plötzlich nervös aus und traten von einem Fuß auf den anderen.

      Anvin wandte sich Kyra zu.

      „Oder war es eine Pfeilspitze?“, fügte er hinzu und Kyra konnte sehen, wie er nachdachte, sehen, dass er seine eigenen Schlüsse zog.

      Anvin ging zu Kyra hinüber, zog einen Pfeil aus ihrem Köcher und hielt ihn neben die Pfeilspitze. Sie glichen sich wie ein Haar dem anderen, und alle konnten es sehen. Er warf Kyra einen stolzen, bedeutungsvollen Blick zu, und Kyra spürte, wie alle Blicke zu ihr wanderten.

      „Du hast es erlegt, nicht wahr?“, fragte er. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

      Sie nickte.

      „Ja“, antwortete sie schlicht, und liebte Anvin dafür, dass er ihr die Anerkennung gab, die sie verdiente.

      „Ein meisterlicher Schuss, der das Tier zu Fall gebracht hat“, schloss er. Auch das war eine Feststellung und keine Frage. Seine Worte waren hart und endgültig, während er den Eber betrachtete.

      „Außer den beiden Pfeilwunden sehe ich keine anderen“, fügte er hinzu, und strich mit der Hand über das Fell des Tiers. Als er am Ohr innehielt, untersuchte er es. Dann wandte er sich Brandon und Braxton zu, und sah sie verachtungsvoll an. „Es sei denn, man bezeichnet diese Schramme von einem Speer hier als Wunde.“

      Er hielt das Ohr de Ebers hoch und Brandon und Braxton erröteten, als die Krieger lachten.

      Ein anderer bekannter Krieger ihres Vaters trat vor – Vidar, ein enger Freund Anvins, ein dünner, kleiner Mann Mitte 30, mit hagerem Gesicht und einer Narbe über der Nase. So zierlich wie er war, sah er nicht wie ein Krieger aus, doch Kyra wusste es besser: Vidar war hart wie Stein, und bekannt für seine Nahkampf-Fähigkeiten. Er war einer der tapfersten Männer, denen Kyra je begegnet war und er konnte Männer überwältigen die doppelt so groß waren wie er. Zu viele Männer machten den Fehler, ihn zu provozieren, denn sie unterschätzten ihn – nur um auf schmerzliche Art eines Besseren belehrt zu werden. Auch er hatte Kyra unter seine Fittiche genommen und passte auf sie auf.

      „Sieht aus, als hätten unsere beiden Helden hier das Ziel verfehlt“, schlussfolgerte Vidar, „und das Mädchen musste sie retten. Wer hat euch beiden das Werfen beigebracht?“

      Brandon und Braxton sahen zunehmend nervös aus. Offensichtlich hatte man ihre Lüge durchschaut, und keiner von beiden wagte, etwas zu sagen.

      „Es ist eine schwerwiegende Angelegenheit, über einen Jagderfolg zu lügen“, sagte Anvin finster an die Brüder gewandt. „Heraus damit. Euer Vater würde wollen, dass ihr die Wahrheit sagt.“

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