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war, als die anderen. Sie stand da, betäubt, und wollte sich bewegen, doch es gelang ihr nicht. Denn das was sie heute erschüttert hatte war nicht das Tier, das wusste sie, sondern der Blick ihrer Brüder. Und sie stellte sich zum wiederholten Mal die Frage, vor der sie sich schon ihr ganzes Leben gefürchtet hatte“

      Wer war sie?

      KAPITEL DREI

      Kyra ging hinter ihren Brüdern her, als sie über die Landstraße zurück zum Fort gingen, und beobachtete sie dabei, wie sie sich mit dem Gewicht des Ebers abmühten. Aidan ging neben ihr her, und Leo, der zurückgekommen war, folgte ihnen.

      Brandon und Braxton mussten sich abmühen, das Tier zu tragen. Sie hatten es an ihre Speere gebunden, die sie nun über den Schultern trugen. Die grimmige Laune hatte sich dramatisch geändert, seit dem sie aus dem Wald gekommen und wieder unter freiem Himmel waren, besonders jetzt, wo die Festung des Vaters in Sichtweite war. Mit jedem Schritt gewannen Brandon und Braxton ihr Selbstbewusstsein zurück, und waren beinahe wieder so aufgeblasen wie zuvor, lachten und scherzten über ihren Fang.

      „Es war mein Speer, der ihn gestreift hat“, sagte Brandon zu Braxton.

      „Doch es war mein Speer, der ihn dazu gebracht hat, in Kyras Pfeil zu laufen.“

      Kyra lauschte, und ihr Gesicht rötete sich vor Wut über die Lügen der beiden; ihre verbohrten Brüder hatten sich selbst eine überzeugende Geschichte eingeredet, und schienen sie zwischenzeitlich ernsthaft zu glauben. Sie konnte sich ihre Prahlerei in der Festung schon ausmahlen – wie sie jedem von ihrem Jagderfolg erzählten.

      Es machte sie wütend. Doch es war unter ihrer Würde, sie zu korrigieren. Sie glaubte fest an die Mühlen der Gerechtigkeit, und sie wusste, dass irgendwann die Wahrheit ans Licht kommen würde.

      „Ihr seid Lügner!“, knurrte Aidan, der neben ihr herlief, immer noch erschüttert von dem, was er erlebt hatte. „Ihr wisst, dass Kyra allein den Eber getötet hat.“

      Brandon warf ihm über die Schulter einen höhnischen Blick zu.

      „Was weißt du schon?“, fragte er. „Du warst doch viel zu sehr damit beschäftigt, dir in die Hosen zu pinkeln.“

      Beide lachten, als ob ihre kleine Geschichte für sie mit jedem Schritt wahrer wurde.

      „Und ihr seid nicht wie die Hasen davongerannt?“, fragte Kyra, denn sie konnte nicht einen Moment länger ertragen, wie sie mit Aidan umgingen.

      Damit verstummten sie. Kyra hätte ihnen wirklich Saures geben können – doch sie musste nicht einmal ihre Stimme heben. Sie ging zufrieden weiter und fühlte sich wirklich gut, wissend, dass sie das Leben ihres Bruders gerettet hatte; mehr brauchte sie nicht.

      Lyra spürte eine kleine Hand auf ihrer Schulter und sah Aidans tröstenden Blick, der offensichtlich dankbar war am Leben und unverletzt zu sein. Kyra fragte sich, ob ihre älteren Brüder auch zu schätzen wussten, was sie für sie getan hatte; schließlich wären sie alle gestoben, wenn sie nicht gewesen wäre.

      Kyra sah zu, wie der Eber bei jedem ihrer Schritte hin und her schwang, und schnitt eine Grimasse; sie wünschte, dass ihre Brüder ihn auf der Lichtung gelassen hätten, wo er hingehörte. Es war ein verfluchtes Tier, das nicht aus Volis stammte, und es gehörte hier auch nicht hin. Es war ein schlechtes Omen, besonders, da es aus dem Dornenwald kam, und viel mehr noch am Vorabend des Wintermondes. Sie erinnerte sich an einen alten Spruch, den sie gelesen hatte: rühme dich nicht, nachdem du vom Tod verschont worden bist.

      Sie hatte das Gefühl, dass ihre Brüder das Schicksal herausforderten und die Finsternis mit sich in ihr Heim brachten. Sie konnte das Gefühl nicht loswerden, dass es Vorbote schlimmer Dinge war.

      Sie erklommen einen Hügel und unter ihnen tat sich ein atemberaubender Blick auf die Festungsanlage und die Landschaft drum herum auf. Trotz dem Wind und dem immer heftiger werdenden Schnee, war Kyra erleichtert, zu Hause zu sein. Rauch stieg aus den Schornsteinen auf und die Feuer des Forts strahlten ein warmes Leuchten aus. Sie schritten schneller aus und gingen eilige auf die Brücke zu. So nah an der Festung war die Straße voller Menschen, die sich trotz dem Wetter und der hereinbrechenden Nacht auf das Fest freuten.

      Kyra war kaum überrascht. Das Fest des Wintermondes war eines der wichtigsten Feste des Jahres, und alle waren mit Vorbereitungen beschäftigt. Zahllose Menschen drängten über die Zugbrücke in die Festung, während mindestens genauso viele hinausdrängten, auf dem Weg nach Hause, um mit ihren Familien zu feiern. Ochsen zogen Wägen und trugen Ware in beide Richtungen, während Maurer an einer weiteren Mauer um das Fort herum arbeiteten. Kyra fragte sich, wie sie in diesem Wetter arbeiten konnten, ohne dass ihre Hände taub wurden.

      Als sie die Brücke betraten und sich unter die Menge mischten, schnürte sich Kyras Magen zusammen, als sie einige Männer des Lords in der Nähe des Tors stehen sah, Krieger des örtlichen Lord Regenten, der von Pandesia ernannt worden war, in ihren unverkennbaren roten Kettenpanzern.

      Die Gegenwart der Männer des Lords war zu jeder Zeit erdrückend – doch ganz besonders zur Zeit des Wintermondes, wenn sie nur dazu hier sein konnten, die Nachernte von den Leuten einzufordern. Sie hielt sie für Plünderer. Plünderer und Grobiane für die verabscheuenswürdigen Adligen, die seit der pandesischen Invasion die Macht ergriffen hatten.

      Die Schwäche ihres ehemaligen Königs, der kapituliert hatte, war daran schuld – doch das half ihnen auch nicht weiter. Jetzt, zu ihrer Schande, mussten sie sich diesen Männern unterwerfen. Es füllte Kyra mit grenzenlosem Zorn. Es machte ihren Vater und seine großen Krieger – und alle ihre Leute – zu nicht mehr, als besseren Leibeigenen; sie wünschte sich so sehr, dass sie sich auflehnten, um für ihre Freiheit zu kämpfen, um in den Krieg zu ziehen, für den ihr alter König zu feige gewesen war. Doch sie wusste auch, dass sie, wenn sie sich jetzt erhoben, den Zorn der pandesischen Armee zu spüren bekommen würden. Vielleicht hätten sie sie aufhalten können, wenn sie sie nie eingelassen hätten; doch jetzt, wo sie sich erst einmal breit gemacht hatten, waren ihre Möglichkeiten beschränkt.

      Sie erreichten die Brücke und mischten sich unter die Leute, die sie anstarrten und auf den Eber deuteten, als sie vorbeigingen. Kyra zog eine gewisse Befriedigung daraus zu sehen, dass ihre Brüder unter der Last des Tiers schwitzten und keuchten. Die Leute wandten ihre Köpfe und gafften, Bürger genauso wie Krieger, alle beeindruckt von dem riesigen Tier. Sie sah auch ein paar abergläubische und fragende Blicke. Auch andere Leute schienen es für ein böses Omen zu halten.

      Doch alle sahen ihre Brüder stolz an.

      „Ein guter Fang für das Fest“, rief einer der Bauern aus, der einen Ochsen an ihnen vorbei führte.

      Braxton und Brandon strahlten stolz.

      „Das wird den halben Hof eures Vaters satt machen!“, rief ein Schlachter.

      „Wie habt ihr das geschafft?“, fragte ein Sattler.

      Die beiden Brüder tauschten Blicke aus und Brandon grinste schließlich den Mann an.

      „Mit einem feinen Wurf und ohne Furcht“, antwortete er dreist.

      „Wenn man nicht in den Wald geht“, fügte Braxton hinzu, „weiß man nicht, was man verpasst!“

      Ein paar Männer jubelten und klopften ihnen auf den Rücken. Kyra schwieg. Sie brauchte das Wohlwollen dieser Leute nicht; sie wusste, was sie getan hatte.

      „Sie haben den Eber nicht getötet!“, rief Aidan empört.

      „Halt deinen Mund“, zischte Brandon. „Noch ein Wort und ich erzähle allen, dass du dir in die Hosen gepinkelt hast, als er angegriffen hat.“

      „Aber das habe ich nicht!“, protestierte Aidan.

      „Und das werden sie dir glauben?“, fügte Braxton hinzu.

      Brandon und Braxton lachten, und Aidan warf Kyra einen Blick zu, als wollte er fragen, was er tun sollte.

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