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Handbuch des Strafrechts. Jörg Eisele
Читать онлайн.Название Handbuch des Strafrechts
Год выпуска 0
isbn 9783811449664
Автор произведения Jörg Eisele
Издательство Bookwire
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Liegt keine Patientenverfügung vor, muss gemäss § 1901a Abs. 2 BGB auf den mutmasslichen Willen des entscheidungsunfähigen Patienten abgestellt werden.[138] Neben der Berücksichtigung der ethischen und religiösen Überzeugungen des Betreuten sowie dessen persönlichen Wertvorstellungen (§ 1901a Abs. 2 S. 3 BGB) besteht eine zusätzliche Möglichkeit für die Ermittlung von Anhaltspunkten in der Anhörung naher Angehöriger und sonstiger Vertrauenspersonen (§ 1901b Abs. 1 S. 2 BGB).[139] An die Annahme des mutmasslichen Willens sind insbesondere dann, wenn der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat, erhöhte Anforderungen zu stellen.[140] Ein nur mündlich geäusserter Wunsch auf Behandlungsbegrenzung bei anschliessend eintretender Einwilligungsunfähigkeit kann den Betreuer nicht unmittelbar binden, bildet aber gemäss § 1901a Abs. 2 BGB ein Indiz für einen entsprechenden individuell-mutmasslichen Willen zur Tatzeit.[141]
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Problematisch erscheint auf den ersten Blick die Empfehlung des BGH[142], bei nicht feststellbarem tatsächlichen oder mutmasslichen Willen auf allgemeine Wertvorstellungen zurückzugreifen, zumal damit der individuelle Entscheidungsrahmen verlassen wird.[143] Es ist jedoch nach wie vor rechtlich statthaft, in unklaren Fällen allgemeine Kriterien bei der Entscheidung über einen Behandlungsverzicht zu berücksichtigen, zumal diese auch bei der Ermittlung des mutmasslichen Willens in anderen Zusammenhängen herangezogen werden.[144] Die Vorschrift des § 1901a Abs. 2 S. 2 und 3 BGB ist offen formuliert und kann durchaus so verstanden werden, dass die dort aufgeführten Indizien zur Willensermittlung lediglich beispielhaft und nicht etwa abschliessend sind.[145] Der Grundsatz „in dubio pro vita“ kann ebenfalls nicht in jedem Fall als mutmasslicher Wille unterstellt werden, sondern allenfalls in unklaren Fällen Geltung beanspruchen, in denen bei Berücksichtigung sowohl der konkreten Indizien als auch der „allgemeinen Wertvorstellungen“ ein mutmasslicher Wille nicht zu ermitteln ist.[146] Im Einzelfall wird ein Behandlungsabbruch umso eher vertretbar sein, je weniger die Wiederherstellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht.[147]
b) Technischer Behandlungsabbruch als Unterlassen
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Die Frage, ob bei aktivem Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung, etwa durch Abschalten des Reanimators, von einem Unterlassen oder einem positiven Tun auszugehen ist, ist umstritten.[148] Nach der h.M. wird der sog. technische Behandlungsabbruch ebenfalls als Unterlassen beurteilt (Unterlassen durch Tun), wobei dies mit der Verwendung eines „normativen Begriffs des Unterlassens“, welcher auf den sozialen Sinngehalt als Unterlassen der Weiterbehandlung abstellt, begründet wird.[149] Diese Auffassung gründet auf der von der ständigen Rechtsprechung angewandten Schwerpunkttheorie.[150] Die Handlung des Abschaltens wird damit in den Kontext des Gesamtgeschehens eingeordnet, womit der Behandlungsabbruch insgesamt als Nichtfortsetzung unerwünschter Rettungsbemühungen betrachtet wird.[151] Im Ergebnis muss – unabhängig von der Einordnung des technischen Behandlungsabbruchs in ein Tun oder Unterlassen – richtigerweise dort, wo ein medikamentös-therapeutischer Behandlungsabbruch zulässig wäre, auch der technische Behandlungsabbruch legitimiert werden.[152] Sofern die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, kann es zudem keinen Unterschied machen, ob der Behandlungsabbruch durch einen Arzt, eine Krankenschwester oder einen sonstigen Dritten herbeigeführt wird.[153] Zumindest hindert auch die Beurteilung der Beendigung einer lebensverlängernden Behandlung durch einen Dritten auf Wunsch des Patienten als aktiven Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf und damit als Tun die Straflosigkeit nach herrschender Ansicht nicht, indem die Fortsetzung einer intensivmedizinischen Behandlung gegen den Willen des Kranken eine gegenwärtige Gefahr für dessen Selbstbestimmung darstellt, weshalb eine Rechtfertigung nach § 34 StGB besteht.[154]
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Zu Recht beurteilen Teile des Schrifttums den technischen Behandlungsabbruch durch Abschalten von Geräten als aktives Tun und das „Unterlassen durch Tun“ als dogmatischen Kunstgriff, um die Straflosigkeit auch aktiven Tötungshandelns zu erreichen.[155] Der dogmatische Kunstgriff wird besonders deutlich, wenn man in die Strafprozessordnung blickt. Bei der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen geht es um die Einordnung eines sozialen Sachverhalts (beweisbare Tatsache) und nicht um eine normative Reduktion des Tatbestandes. Gemäß § 244 Abs. 2 StPO gilt der Ermittlungsgrundsatz, nach welchem das wirkliche Geschehen, d.h. die materielle Wahrheit, zu erforschen ist. Die Staatsanwaltschaft wird kaum Beweise dafür vorlegen, dass nichts getan wurde. Der BGH stimmt mit seinem Grundsatzurteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09 dieser Sichtweise zu, indem er festhält, dass eine solche normativ wertende Umdeutung aktiven Tuns in ein Unterlassen den auftretenden Problemen nicht gerecht werden könne.[156] Sowohl aktive als auch passive Formen der Beendigung medizinischer Massnahmen fasst er unter dem Begriff des „Behandlungsabbruchs“ zusammen, wobei eine Rechtfertigung durch die Einwilligung des Patienten erfolgt.[157] Diese Lösung ist insofern zutreffend, als die Straflosigkeit des technischen Behandlungsabbruchs auf Erbeten des Kranken nicht von der Einordnung von Zufälligkeiten des Behandlungsablaufs abhängen kann, sondern dass materielle Faktoren wie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten dafür massgebend sein müssen.[158]
1. Der normativ-wertende Oberbegriff des Behandlungsabbruchs
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Durch den Grundsatzentscheid des BGH im Jahr 2010 wurde die traditionelle Differenzierung in aktive und passive Sterbehilfe durch den normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs ersetzt, welcher sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden kann.[159] Der Sachverhalt dieses sog. „Fuldaer Falls“ oder auch „Fall Putz“ lässt sich folgendermassen zusammenfassen[160]: Die nach einer Hirnblutung im Wachkoma liegende Patientin befand sich in einem Pflegeheim und wurde durch eine Sonde künstlich ernährt. Sie war nicht ansprechbar und eine Besserung ihres Gesundheitszustandes nicht zu erwarten. Aufgrund früherer Äusserungen gegenüber ihren Angehörigen bezüglich der Einstellung lebensverlängernder Massnahmen im Falle ihrer Einwilligungsunfähigkeit bemühte sich die als Betreuerin bestellte Tochter um eine Einstellung der künstlichen Ernährung und wurde dabei vom behandelnden Arzt unterstützt. Dieser verneinte eine medizinische Indikation zur Fortsetzung der künstlichen Ernährung. Nachdem die Heimleitung erst ihre Zustimmung erteilte, setzte sie jedoch auf Weisung der Geschäftsleitung die künstliche Ernährung fort und drohte der Tochter mit Hausverbot. Auf Anraten des sie in dieser Sache beratenden Rechtsanwaltes schnitt die Tochter daraufhin die Magensonde durch. Das Heimpersonal bemerkte den Eingriff und veranlasste kurzfristig die Anbringung einer neuen Sonde, worauf die Patientin wenig später aufgrund anderer Ursache verstarb. Die als Betreuerin bestellte Tochter wurde vom Landgericht Fulda vom Vorwurf des Totschlags aufgrund unvermeidbaren Verbotsirrtums basierend auf dem als vertrauenswürdig einzustufenden Ratschlag des Rechtsanwalts freigesprochen.[161] Der vom Landgericht wegen mittäterschaftlich begangenen versuchten Totschlags in einem minder schweren Fall zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilte Rechtsanwalt wurde vom BGH freigesprochen.[162]
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Das Grundsatzurteil bestätigt einerseits, dass es nicht sachgerecht ist, in Fällen des Behandlungsabbruchs an einer „naturalistischen“ Unterscheidung von aktivem Tun und Unterlassen festzuhalten und diese dann normativ umzudeuten, sondern dass für den Abbruch einer medizinischen Massnahme in der Regel eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungen erforderlich sind, welche nicht klar den Kategorien des aktiven Tuns oder des Unterlassens zugeordnet werden können.[163] Ein Behandlungsabbruch, definiert als Sterbehilfe durch Unterlassen,