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wollte er stets um sich haben.

      Erst nach dem Abendessen, als er sicher war, dass seine Mutter nun nicht mehr in sein Zimmer kommen würde, begann er damit, Fotos auszusuchen und spann bis tief in die Nacht schöne Geschichten um sein Leben herum, in denen er mutig, klug, geachtet und begehrt war.

      Als Thor am nächsten Morgen aufwachte, sah er verträumt auf die wechselnden Bilder des Rahmens; die vielen Fotos von Rollenspielen, Conventions und Network-Partys. Sein Kopf lag schwer auf seinem Unterarm, während er die Abende in sein Gedächtnis zurückrief, wie bei einer Hommage, die auf ihn anlässlich der Auszeichnung für sein Lebenswerk gehalten wurde. Als der Rahmen schließlich eine Serie von Bildern der letzten Spielemesse zeigte, die er unsortiert eingefügt hatte, erhob er sich und ging in die Küche. Ein Zettel seiner Mutter lag auf dem Tisch. Er beugte sich neugierig darüber und stellte fest, dass es sich um eine Einkaufsliste handelte. Zu seinem Unmut hatte seine Mutter wieder ‚Wurst‘ mit aufgeschrieben. Ganz unten war außerdem der Satz notiert: „Thor einen Zettel schreiben“, und er bekam für einen kurzen Moment ein schlechtes Gewissen, weil sie sich doch solche Mühe gab. Dann erinnerte sich Thor wieder daran, was er in der Küche wollte, nahm eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und ging wieder in sein Zimmer. Schon im Türrahmen hielt er inne. Etwas fehlte auf seinem Schreibtisch. Dort, wo er gestern die Wurstbrote hingelegt hatte, stierte ihn nur noch Darth Vader von seinem Mousepad entgegen, als wollte er sagen: Auch wenn Du es Dir noch so wünschst, ich bin nicht Dein Vater. Ja, dachte Thor, dabei hätte ich von Darth Vader als Vater wenigstens noch etwas lernen können, statt nur, wie man seine Mutter von ihrer gescheiterten Ehe ablenkt. Er nahm einen Schluck Cola und wollte fast würgen. Sie schmeckte abgestanden und bitter.

      Während er noch überlegte, wie er seiner Mutter erklären sollte, warum er die Brote nicht gegessen hatte, wechselte der Rahmen auf seiner Kommode wieder das Bild. Thor erstarrte, als er es sah. Das Foto, das nun nach den Spielemesse-Bildern angezeigt wurde, war keines aus seiner Sammlung. Unverkennbar war er selbst die Person auf dem Bild, doch saß er in einer mittelalterlichen Kriegsmontur auf einem sich aufbäumenden Pferd. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von Kampfeslust und Siegeswillen, sein Schwert schien – vielmehr als eine Waffe – ein Werkzeug der Gerechtigkeit und des Anstands zu sein. Es war eine Szenerie, die in der realen Welt so niemals stattgefunden hatte, höchstens in seinen Träumen. Er und sein Pferd waren eins, gleich einem Zentauren, und jeder musste wissen, dass, sobald er das Schlachtfeld betreten würde, die Schlacht unwiederbringlich entschieden war.

      Je länger er das Bild ansah, desto unwirklicher kam es ihm vor, bis er zuletzt selbst vor den Spiegel in seinem Zimmer trat, um ganz sicher zu gehen, dass er und der Mensch auf dem Pferd tatsächlich wesensgleich waren. Es bestand kein Zweifel.

      Als seine Mutter vom Einkaufen nach Hause kam, überfiel sie ihn wie üblich mit etlichen Erzählungen; dass sie sich Sorgen um seinen Appetit mache, dass der neue Bilderrahmen ihr gefiele, obwohl sie nichts von diesem ganzen Elektronikkram verstünde und dass ihr neuer Nachbar geklingelt und mit ihr einen Kaffee getrunken habe. Thor hörte diese Geschichten und es war, als erlebe er sie durch ein Fenster aus einer anderen Welt, als säße er als Herr auf seinem Schloss und lenke sich nur ein wenig ab, bis er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten widmen musste.

      Dieses Gefühl begleitete ihn noch immer, als er schließlich zur Universitätsbibliothek kam, wo er neben seinem Germanistikstudium mit Schwerpunkt Mittelalterliche Literatur als EDV-Berater arbeitete. An seinem Arbeitsplatz angekommen, fand er seine Kollegen Hendrik und Vanessa in Aufruhr vor. Das zentrale System war abgestürzt. Während Hendrik sich um die zahlreichen Beschwerden kümmerte, versuchte Vanessa sich an einer ersten Diagnose. Die Schlange der Studenten, die wegen ihres VPN-Clients oder ihrer Mailquota um Rat fragen wollten, wurde immer länger. Von hinten riefen die Ersten, wann es denn endlich einmal weiterginge. Einige schimpften, wieder andere machten sich über die Unfähigkeit der Angestellten lustig. Als Thor Vanessas Gesicht sah, hatte sie Tränen in den Augen. Direkt vor ihr stand ihr Ex-Freund, mit dem sie erst vor ein paar Tagen Schluss gemacht hatte, zeterte laut und sah Vanessa dabei mit vor Wut verzerrtem Gesicht an. Da ging Thor hinter dem Beratungstisch hervor, stellte sich vor die versammelte Meute und rief:

      „So, Leute, wir haben hier Probleme mit dem Server, falls es jemand noch nicht mitbekommen hat. Wir wissen noch nicht, woran es liegt oder was genau kaputt ist. Im Moment können wir eure Anfragen nicht bearbeiten. Also macht irgendetwas anderes, geht in die Cafete oder in die Lesesäle, ihr müsst eben einen Nachmittag mal ohne Internet auskommen.“

      In der Menge tuschelte es und einige riefen immer noch Beschwerden. Doch Thor wich nicht von der Stelle und nach und nach verschwanden die Studenten, bis schließlich der Platz vor dem Beratungstisch leer war. Hendrik sah verwundert aus und Vanessa lächelte Thor an.

      „Hendrik, lass das Telefon erst einmal klingeln“, sagte Thor, „versuch, jemanden von der Serverfirma zu erreichen. Vanessa, du überprüfst mit dem Diagnosetool, ob ein Software-Fehler vorliegt und ich gehe in den Serverraum und schaue, ob dort alles in Ordnung ist.“

      Im Serverraum fand Thor sofort die Ursache für die Störung. Eine Ratte hatte sich dort eingenistet und einige Kabel angenagt. Nachdem er die Kabel ersetzt und die Ratte in die Freiheit entlassen hatte, ging er über den Campus zurück zur Bibliothek. Er spürte einen Anflug von der Energie, die ihn häufiger beim Schreiben eines Forumsbeitrags befiel; ein unzweifelhaftes Gefühl, dass die Dinge nur so sein konnten, wie er sie sah, und nicht anders, als müsse man sie nicht mehr überdenken.

      Mitten in diesem Moment der Klarheit begann sein Herz plötzlich kräftiger zu schlagen. Von weitem sah er Fiona Gratmüller auf sich zukommen. Sie war die schönste Frau auf dem Campus und seit Monaten heimlich Thors heftiger Schwarm. Er senkte den Kopf und schaute aus dem Augenwinkel auf ihr blondes Haar und den eleganten Schwung, mit dem sie ihre mit den Buchstaben „LV“ bedruckte Tasche am Ende ihres Armes baumeln ließ. Einen einzigen Wortwechsel hatte es bisher zwischen ihnen gegeben, als sie ihre Unterlagen mit den Worten „Kannst du da mal eben drauf aufpassen?“ auf Thors Arbeitstisch gelegt hatte und sofort weitergegangen war. Auf dem obersten Papier hatte er ihren Namen gelesen. Das Blut war ihm in den Kopf geschossen, als sie ein paar Minuten später alles wieder abholte und ihm bezaubernd lächelnd ein „Danke“ zuhauchte. Seitdem sah er sie fast jeden Tag am Kopierer stehen, und von seinem Schreibtisch aus musste Thor sie einfach anschauen, so oft es möglich war. Nun begegneten sie sich außerhalb der Bibliothek und da sonst kein Mensch zu sehen war, mussten sie sich unweigerlich beachten. Er konnte sehen, dass sie den Kopf gesenkt hielt, während sie auf ihn zukam. Bloß nicht hinschauen, aber es auch bloß nicht verpassen, falls sie schaut, schoss ihm immer wieder durch den Kopf. Er wollte es und wollte es nicht, kam sich klein und unbedeutend vor angesichts dieser Frau, die ihn eigentlich gar nicht ansehen konnte, ansehen sollte, weil … nun, der Grund lag wohl im Aufbau dieses Universums selbst, das so viel weniger magisch war, als all die anderen, die Thor kannte. Wieso nur war ausgerechnet er im unmagischsten aller existierenden Universen gelandet? Fiona hatte sich bis auf wenige Meter genähert, da schaute sie plötzlich hoch und lächelte. Thors Herz schien stehen zu bleiben und er quetschte ein heiseres „Hallo“ aus seiner Kehle. Als er daraufhin auf ihren Lippen eine leichte Bewegung sah, die ein „Hallo“ zu formen schien, strömte ein wohliger Schauer durch seinen ganzen Körper. Er sah ihr noch einmal hinterher und war sich sicher, dass auch sie sich kurz zuvor nach ihm umgedreht hatte.

      „Jetzt, da mein Ex endlich weg ist, können wir uns wieder häufiger treffen“, sagte Vanessa, als sie später nebeneinander an ihren Arbeitstischen saßen und Ruhe eingekehrt war, „das war ja fürchterlich mit seiner Eifersucht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich nur zuhause gesessen.“

      „Wir haben uns ja immerhin noch auf der Arbeit gesehen.“

      „Ja, aber das wird jetzt wieder anders. Lass uns wieder DVD-Abende machen, so wie früher. Du warst der einzige, mit

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