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Das Dorf am Grunde des Sees. Gabriele Behrend
Читать онлайн.Название Das Dorf am Grunde des Sees
Год выпуска 0
isbn 9783957658197
Автор произведения Gabriele Behrend
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Tee«, erklärte er. »Kräutertee. Damit du dich wieder aufwärmst.«
Claire musterte die Tasse kurz misstrauisch, warf dann aber ihre Bedenken über Bord und nippte von dem Tee. »Oh, der ist echt gut!« Sie schob den Humpen auf den Tisch zurück. »Erfrischend und warm gleichzeitig. Minze?«
»Jede Menge. Und über lange Stunden eingekocht.« Vladimir grinste und sein Schnurrbart schien sich dabei mehr zu kringeln denn ohnehin.
Claire schob den Becher auf der Tischplatte herum. Sie überlegte.
Sie war heute Morgen aufgestanden, mit dem Wunsch, ein verwunschenes Dorf zu finden, mitten im See. Sie schwamm, sie tauchte immer wieder hinab ins Dunkel. Und dann schwanden ihre Kräfte. Einen einzigen weiteren Tauchgang nur hatte sie sich vorgenommen. Sie war abgetaucht und merkte bald, dass die Flasche zu schwer wurde und sie in die Tiefe drückte. Sie hatte einen letzte Zug Atemluft genommen, hatte ihn in ihre Lungen gepresst und sich dann von dem Sauerstofftank befreit. Das entwickelte sich zu einem Kampf, den Claire verlor. Sie stürzte weiter in die Tiefe, warf eine Blendgranate unter sich und schloss die Augen.
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war der Sturz durch die Tannen hindurch und dann das Treffen mit diesem wunderlichen Rokoko-Schnösel. Der sich unerwartet väterlich verhielt.
»Wieso ist das Dorf nicht überflutet?«
»Überflutet? Sollte es das denn sein?« Kukuschkin wurde hellhörig. Hatte seine Fantasterei etwa eine Berechtigung?
»Über euch befindet sich ein See.« Claire nahm einen Schluck Tee.
»Das sag bitte nicht in Gegenwart der Dorfbewohner. Die wissen das nämlich nicht. Die glauben, dass das alles so sein muss. Das grüne Zwielicht. Der fehlende Sonnenschein. Die mickrige Landwirtschaft.« Vladimir seufzte. »Ich habe es mir ja all die lange Zeit immer wieder gedacht. Aber die Dörfler! Wir dürfen ihnen die Illusion nicht nehmen.
Claire schob den Humpen von sich. »Und was hat es mit den Besuchern auf sich?«
»Willst du das nicht selbst herausfinden? Was ist das denn für eine Unsitte, alle Fragen beantwortet bekommen zu wollen. Bist du ein Vogelküken, das mit dem Wissen seiner Mutter gefüttert werden will?«
Claire sah ihn verständnislos an. »Ich. Ich dachte immer, dass es gut sei, Fragen zu stellen«, stotterte sie. »Ich wusste nicht, dass das hier nicht gern gesehen ist.«
»Grundsätzlich ist es nicht verkehrt«, gab Vladimir zu. »Aber mir ist jetzt nicht mehr danach zu reden. Ich habe mein Quantum an Worten für diesen Moment aufgebraucht. Ich ziehe mich zurück und du kannst machen, was du willst. Wenn du das Dorf sehen willst, dann halte dich rechterhand. Du kannst es nicht verfehlen.« Vladimir grunzte. »Das kann niemand verfehlen.«
Claire sprang von der Bank auf, auf der sie bis eben wie festgenagelt gesessen hatte.
Kukuschkin, der sich der Treppe in die oberen Etagen zugewandt hatte, räusperte sich. »Im Zweifelsfall am besten einfach den Mund halten. Nur ein gut gemeinter Tipp von mir.« Dann strich er sich über seine gepuderte Perücke und verschwand im Turm.
Claire umrundete die Tischplatte, bemerkte dabei, dass sie noch immer barfuß umherlief, und wandte sich erneut dem Schrank zu. Nach einem Kampf mit der textilen Wanderdüne, die im Kleiderkasten mäanderte, tauchte sie triumphierend aus dem Sammelsurium der Absonderlichkeiten auf, ein Paar Sneakers aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts in der rechten Hand schwenkend. Schnell schlüpfte sie hinein, spreizte die Zehen und ruckelte sich in die ausgelatschten Treter, die rasch die Wärme ihrer Füße annahmen. Dann tänzelte sie zur Tür, öffnete sie und sprang die drei Stufen in den Garten hinunter.
Sie nahm sich nicht die Zeit, die verwilderten Beete zu mustern, von größerem Interesse war das Gartentor und der Weg in das Dorf hinein. Sie begrüßte das Quietschen des kleinen eisernen Tores, das sie in die Freiheit entließ. Dann stand sie auf der weißen, schimmernden Straße, die ein Fuhrwerk breit war und von Grasstreifen links und rechts gesäumt wurde. Der Weg verlief in sanft geschwungenen Kurven, die sich im grünlichen Dunst verloren.
Wenn sie etwas entdecken wollte, musste sie sich schon auf die Wanderschaft machen. Und endlich verstand sie das Gleichnis mit dem hungrigen Vögelchen. Hier würde man ihr das Wissen nicht häppchenweise vorkauen und einverleiben, sie musste schon selbst ihre Erfahrungen sammeln. Und während sie einerseits wild darauf aus war, all das zu erleben, hielt sie auf der anderen Seite ihr Verständnis von Logik davon ab, sich auf das einzulassen, was sie hier erlebte. Ihr Verstand gebot ihr, sie müsse tot sein, es dürfte diesen Ort nicht geben. Es widerstrebe allen Gesetzen der Physik und könne nur ein Hirngespinst sein.
»Aber ich bin nun mal hier«, sagte Claire in die Stille hinein, die sie umgab. Dann zwickte sie sich in den rechten Oberarm. »Au!«, entfuhr es ihr. »Es tut weh, also bin ich.« Sie runzelte die Stirn und begab sich auf den Weg.
Nach wenigen Schritten erreichte sie die erste Kreuzung. Als sie sich links herum wandte, sah sie Häuser, die sich in einem weiten Bogen eng aneinanderschmiegten. Es waren Katen mit begrünten Dächern, und sie erinnerten Claire an eine Mischung aus Reihenhäusern und Hobbitshausen. Sie schmunzelte.
Zu ihrer Rechten öffnete sich der Blick auf ein weites Weizenfeld. Direkt vor ihrer Nase erhob sich ein einzelnes Haus, mit prachtvollen Schnitzereien geschmückt und ein Stockwerk höher als die anderen Katen. Es atmete Wichtigkeit aus, etwas Offizielles, und Claire nahm Haltung ein.
Ihr war die Ruhe nicht geheuer. Das Dorf wirkte in diesem Teil wie ausgestorben. Sie wippte unentschlossen auf und ab. War ihr diese Stille recht oder nicht?
Dann aber gewann ihre Neugier Oberhand und sie folgte der Straße zwischen dem Wichtighaus und dem Weizenfeld. Dort, wo sich der Weizen mit einem Acker voll verschiedener Gemüsesorten abwechselte, gelangte sie unvermittelt in ein buntes Treiben hinein. Kein Wunder, dass die Straßen in den Randbezirken wie leer gefegt waren – es schien, als habe sich das ganze Dorf hier versammelt. Auf dem Marktplatz, aus dessen Mitte eine kleine Kirche mit Zwiebeltürmchen herausragte.
An der ihr zugewandten Ecke sah Claire einen auffällig bunten Stand, zwei Zelte groß und voll überquellender Kisten, Fässern und Schrankkoffer. Wie von Magie angezogen näherte sie sich vorsichtig dem Flohmarkt, der trotz seines übergroßen Angebotes in diesem Moment in friedlicher Ruhe versunken zu sein schien.
»Sei gegrüßt, Mädchen. Woher kommst du?«
»Deutschland«, antwortete Claire, überrumpelt.
»Davor oder danach?«
»Wonach?«
»Nach der großen Flut, Dummerchen.«
Schon das zweite Mal, dass man sie so nannte. Das passte Claire nicht und so fiel ihre Erwiderung schärfer aus, als es angebracht war.
»Woher soll ich das denn wissen?«, schnappte sie daher. »Dass es diesen Ort gibt, widerstrebt jeder Logik und dann soll ich auch noch die örtlichen Gepflogenheiten kennen?«
Die Marketenderin lachte mit ihrer unvergleichlichen, dunklen Reibeisenstimme, was Claire nicht friedlicher stimmte.
Dann verstummte das Lachen und die Händlerin funkelte das Mädchen an: »Jetzt hör mal zu, Madame, du bist nicht die erste Besucherin hier und sicher auch nicht die letzte, also mach mal nicht so ein Fass auf. Bis jetzt hat sich noch jeder hier einpassen können. Das Davor-Danach wird dir hier noch öfter begegnen. Und ich kann dir nur raten, höflich und freundlich zu den Dorfbewohnern zu sein, denn nur so können wir verhindern, dass sie den Zugang dicht machen.«
»Den Zugang? Besucher?« Claire kroch die Röte ins Gesicht. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Ahnung von diesem Mikrokosmos hatte, in den sie geraten war.
Die fliegende Händlerin hob eine Braue und fasste die junge Frau vor sich näher ins Auge. Dann besah sie sich das Oberteil, das Claire trug, und pfiff leise durch die Zähne.
»Ein wahrlich schönes Stück. Norius 7?«