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Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
Читать онлайн.Название Die Brüder Karamasow
Год выпуска 0
isbn 9783750209015
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Es gibt dort keine Feuerhaken«, sagte Aljoscha leise und ernst, dabei sah er seinen Vater unverwandt an.
»Richtig, richtig, nur Schatten von Feuerhaken. Ich weiß es, ich weiß. Wie hat doch ein Franzose die Hölle beschrieben: »J'ai vu l'ombre d'un cocher qui avec l'ombre d'une brosse frottait l'ombre d'une carosse.4 Woher weißt du denn, mein Bester, daß es dort keine Feuerhaken gibt? Wenn du ein Weilchen bei den Mönchen bist, wirst du anders singen. Aber geh nur hin; arbeite dich zur Wahrheit durch, und dann komm her und erzähle – es fällt einem doch leichter, ins Jenseits aufzubrechen, wenn man genau weiß, was da los ist. Und es wird auch besser für dich sein, du wohnst bei den Mönchen und nicht bei mir, bei einem alten Säufer mitsamt seinen Frauenzimmern ... obwohl dich Engel ja nichts anficht. Na, vielleicht wird dich auch dort nichts anfechten; deswegen gebe ich dir auch die Erlaubnis, eben weil ich darauf hoffe. Dir hat ja der Teufel den Geist nicht angefressen. Du wirst entflammen und wieder verlöschen, wirst dich auskurieren und wieder zurückkommen. Und ich werde auf dich warten, denn ich fühle, du bist der einzige Mensch auf der Erde, der mich nicht verdammt hat. Du bist mein lieber Junge, das fühle ich, wie sollte ich das nicht fühlen?«
Er fing sogar an zu schluchzen. Er war sentimental. Schlecht und sentimental.
1 Aljoscha: Diminutiv von Alexej
2 Starez – »der Alte«, in der russ.-orthodoxen Kirche ein Mönch in der höchsten asketischen Stufe
3 Il faudrait les inventer: Man müßte sie erfinden
4 Ich habe den Schatten des Kutschers gesehen, welcher mit dem Schatten einer Bürste den Schatten einer Kutsche reibt.
5. Die Starzen
Mancher Leser mag vielleicht denken, mein Held war eine kränkliche, ekstatische, unterentwickelte Natur, ein blasser Träumer, ein blutarmes, sieches Menschlein. Im Gegenteil: Aljoscha war zu jener Zeit ein stattlicher junger Mann, rotbackig, neunzehnjährig, mit wachem Blick und strotzend von Gesundheit. Er war damals sogar sehr hübsch, gut gebaut, mittelgroß, dunkelblond, mit regelmäßigem, obzwar etwas länglichem, Gesicht, mit leuchtenden, dunkelgrauen, weit offenen Augen, sehr nachdenklich und scheinbar ganz ruhig. Man wird vielleicht sagen, rote Backen seien noch kein Beweis gegen Fanatismus oder Mystizismus; mir scheint jedoch, Aljoscha war mehr als jeder andere Realist. Gewiß, im Kloster glaubte er wirklich an Wunder; aber nach meiner Ansicht können Wunder einen Realisten nicht beirren. Nicht Wunder machen einen Realisten gläubig. Der echte Realist, sofern er nicht gläubig ist, wird immer die Kraft und die Fähigkeit finden, nicht an Wunder zu glauben. Und wenn ein Wunder unbestreitbar vor ihm steht, wird er eher seinen Sinnen mißtrauen als die Tatsache zugeben. Gibt er sie aber doch einmal zu, so höchstens als eine natürliche Tatsache, die ihm bisher nur unbekannt war. Bei einem Realisten erwächst nicht der Glaube aus dem Wunder, sondern das Wunder aus dem Glauben. Fängt der Realist einmal an zu glauben, muß er unbedingt auch das Wunder zugeben: gerade wegen seines Realismus. Der Apostel Thomas erklärte, er werde nicht glauben, bevor er sehe; und als er gesehen hatte, sagte er: »Mein Herr und Gott!« Hatte ihn etwa das Wunder zum Glauben gebracht? Doch wohl nicht. Er begann vielmehr nur deshalb zu glauben, weil er glauben wollte; und er glaubte wahrscheinlich bereits im Innersten seines Wesens ganz fest, als er sagte: »Ich werde nicht glauben, bevor ich sehe.«
Man wird vielleicht sagen, Aljoscha war stumpfsinnig und unentwickelt, er hat das Gymnasium nicht beendet – und so weiter, und so weiter. Daß er das Gymnasium nicht beendet hatte, war die Wahrheit; doch ihn stumpfsinnig oder dumm zu nennen, wäre höchst ungerecht. Ich wiederhole: er wählte diesen Weg allein deswegen, weil nur er ihn zu jener Zeit beeindruckte und seiner Seele auf einen Schlag das ideale Hilfsmittel bot, aus dem Dunkel zum Licht vorzudringen. Hinzu kommt, daß er ein wenig schon ein junger Mann unserer neueren Zeit war, das heißt: von Natur aus ehrlich, begierig nach Wahrheit, sie suchend und an sie glaubend und deshalb mit aller Kraft der Seele danach trachtend, ihrer sofort teilhaftig zu werden und baldigst etwas Großes zu tun, bereit, dafür alles zu opfern, notfalls sogar das Leben. Leider begreifen diese jungen Leute nicht, daß es in den meisten Fällen leichter sein mag, das Leben zu opfern, als von der schäumenden Jugend fünf, sechs Jahre auf ein schweres, mühsames wissenschaftliches Studium zu verwenden, sei es auch nur, um die eigenen Kräfte für den Dienst an jener Wahrheit, für jene große Tat zu mehren, der man sich einmal verschrieben hat. Doch ein solches Opfer übersteigt fast stets die Kräfte vieler junger Leute. Aljoscha hatte ganz einfach den entgegengesetzten Weg gewählt, allerdings mit der gleichen Ungeduld nach einer großen Tat. Kaum war er bei ernstem Nachdenken zur Überzeugung gelangt, daß es eine Unsterblichkeit und einen Gott gibt, sagte er sich wie selbstverständlich: »Ich will für die Unsterblichkeit leben; einen Kompromiß nehme ich nicht an.« Hätte er sich entschieden, es existiere keine Unsterblichkeit und kein Gott, wäre er ebenso schnell unter die Atheisten und Sozialisten gegangen. (Der Sozialismus ist nämlich nicht nur ein Problem, das den Arbeiter, den sogenannten vierten Stand berührt; er ist vor allem ein atheistisches Problem: Es geht um die moderne Verkörperung des Atheismus, um einen babylonischen Turm, der ausdrücklich ohne Gott gebaut wird, nicht um den Himmel von der Erde aus zu erreichen, sondern um den Himmel zur Erde herabzuholen.) Aljoscha schien es sogar seltsam und unmöglich, so weiterzuleben wie bisher. Es steht geschrieben: »Verteile alles, was du hast, und folge mir nach, wenn du vollkommen sein willst.« Und da sagte sich Aljoscha: »Ich kann nicht statt meines Besitzes nur zwei Rubel geben, statt ihm nachzufolgen nur zur Messe gehen.« Unter seinen Kindheitserinnerungen hatte sich vielleicht auch die eine oder andere an das vor der Stadt gelegene Kloster gehalten, in das ihn seine Mutter zur Messe mitgenommen haben mochte. Vielleicht wirkten auch die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne vor dem Heiligenbild, zu dem ihn seine Mutter, die Schreierin, emporhielt, nach.