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selbst noch ein Mädchen aus der vorvorigen, der »romantischen« Generation, das sich nach mehreren Jahren einer rätselhaften Liebe zu einem Mann, den sie jeden Augenblick ganz bequem hätte heiraten können, selbst unüberwindliche Hindernisse ausdachte und sich in einer stürmischen Nacht von einem felsigen Steilufer in einen ziemlich tiefen, reißenden Fluß stürzte und darin umkam, einzig und allein, um Shakespeares Ophelia zu gleichen. Und wäre der lange ins Auge gefaßte, ja liebgewonnene Felsen nicht malerisch gewesen, wäre an seiner Stelle prosaisches flaches Ufer gewesen, der Selbstmord hätte vielleicht überhaupt nicht stattgefunden. Das ist eine Tatsache, und man darf annehmen, daß in unserem russischen Leben der zwei oder drei letzten Generationen nicht wenige Taten dieser oder ähnlicher Art vorkamen. Dementsprechend war denn auch der Schritt Adelaida Iwanowna Miussowas ohne Zweifel auf fremde Einflüsse und auf ihre vom Affekt gefesselten Gedanken zurückzuführen. Vielleicht wollte sie weibliche Selbständigkeit an den Tag legen, sich gegen die gesellschaftlichen Zustände, gegen den Despotismus ihrer Verwandtschaft und ihrer Familie auflehnen, und ihre willige Phantasie überzeugte sie, wenn auch vielleicht nur für den Augenblick, in Fjodor Pawlowitsch trotz seiner Schmarotzerstellung einen der kühnsten, spottlustigsten Männer jener auf alles orientierten Übergangsepoche zu sehen, während er in Wirklichkeit nichts als ein übler Possenreißer war. Das Pikante bestand auch darin, daß die Sache mittels einer Entführung vor sich ging, was für Adelaida Iwanowna einen besonderen Reiz hatte. Und Fjodor Pawlowitsch war damals schon wegen seiner sozialen Stellung zu allen derartigen Streichen bereit; er wünschte leidenschaftlich, Karriere zu machen, ganz gleich mit welchen Mitteln; und sich in eine gute Familie zu drängen und eine Mitgift einzustreichen, das hatte etwas sehr Verlockendes. Gegenseitige Liebe war, wie es scheint, nicht vorhanden, weder auf seiten der Braut noch auf seiner Seite, sogar trotz Adelaida Iwanownas Schönheit. So stand dieser Fall vielleicht einzig da im Leben Fjodor Pawlowitschs, dieses überaus sinnlichen Menschen, der jeden Augenblick bereit war, sich an jeden erstbesten Weiberrock zu hängen, wo immer ihn einer lockte. Trotzdem weckte nur diese eine Frau seine Leidenschaft nicht im geringsten.

      Adelaida Iwanowna hatte gleich nach der Entführung erkannt, daß sie für ihren Mann nichts anderes als Verachtung empfinden konnte. So traten die Folgen dieser Heirat außerordentlich rasch zutage. Obwohl sich die Familie ziemlich bald mit dem Geschehenen aussöhnte und der Entflohenen ihre Mitgift auszahlte, begannen die Ehegatten ein ungeordnetes Leben mit ewigen Szenen. Man erzählte sich, die junge Frau habe unvergleichlich mehr Edelmut und Hochherzigkeit bekundet als Fjodor Pawlowitsch, der ihr, wie jetzt bekannt ist, ihr ganzes Geld, etwa fünfundzwanzigtausend Rubel, abnahm, sobald sie es bekommen hatte, so daß die Tausende für sie gleich ins Wasser gefallen waren. Lange Zeit bemühte er sich mit aller Kraft, ein kleines Gut und ein ziemlich gutes Stadthaus, die sie ebenfalls mitbekommen hatte, durch eine entsprechende Urkunde auf seinen Namen übertragen zu lassen. Wahrscheinlich hätte er es auch erreicht, und zwar allein dank der Verachtung und dem Ekel, die seine schamlosen Erpressungen und Betteleien bei seiner Gattin hervorriefen, dank ihrer seelischen Ermüdung und ihrem Wunsch, ihn loszuwerden; zum Glück jedoch schritt die Familie Adelaida Iwanownas ein und setzte der Räuberei eine Grenze. Es war zuverlässig bekannt, daß sich die Eheleute nicht selten schlugen, doch wollte man wissen, daß der aktive Teil nicht Fjodor Pawlowitsch war, sondern Adelaida Iwanowna, eine heißblütige, mutige, ungeduldige, brünette Frau mit bemerkenswerter Kraft. Schließlich verließ sie das Haus und floh mit einem bettelarmen Seminaristen, dem Lehrer Fjodor Pawlowitschs; den dreijährigen Mitja2 ließ sie zurück.

      Fjodor Pawlowitsch richtete im Hause sofort einen ganzen Harem ein und ergab sich zügellos der Trunksucht; zwischendurch fuhr er im Gouvernement umher, beklagte sich weinend bei allen und jedem, Adelaida Iwanowna habe ihn verlassen, und erzählte dabei Einzelheiten aus seinem Eheleben, deren er sich als Ehemann eigentlich hätte schämen müssen. Besonders gefiel und schmeichelte es ihm, allen Leuten die lächerliche Rolle des gekränkten Ehemannes vorzuspielen und sogar die Einzelheiten der ihm angetanen Kränkung ausführlich zu schildern. »Man sollte meinen, Ihnen wäre eine Rangerhöhung zuteil geworden, Fjodor Pawlowitsch, so zufrieden sind Sie trotz Ihres Kummers«, sagten Spötter zu ihm. Viele fügten gar hinzu, er spiele gern wieder von neuem die Rolle des Possenreißers und tue, um noch mehr Gelächter zu erregen, absichtlich so, als merke er seine komische Lage gar nicht. Wer weiß, vielleicht war das bei ihm Naivität. Endlich gelang es ihm, die Spur seiner geflohenen Frau zu finden. Die Ärmste war mit ihrem Lehrer nach Petersburg gegangen, wo sie sich schrankenloser Emanzipation hingab. Fjodor Pawlowitsch entwickelte sofort eine geschäftige Tätigkeit und schickte sich an, nach Petersburg zu fahren; wozu, wußte er selbst nicht. Vielleicht wäre er auch wirklich gefahren; doch nachdem er den Entschluß gefaßt hatte, sah er es zunächst als sein gutes Recht an, zur Ermutigung vor der Reise erneut maßlos zu trinken. Und eben um diese Zeit erhielt die Familie seiner Gattin die Nachricht, daß sie in Petersburg ganz plötzlich gestorben war, in irgendeiner Dachkammer, dem einen Gerücht zufolge an Typhus, nach einem anderen einfach vor Hunger. Fjodor Pawlowitsch war betrunken, als er vom Tod seiner Gattin erfuhr; er soll auf die Straße gelaufen sein und mit zum Himmel erhobenen Armen voll Freude ausgerufen haben: »Nun lässest du mich in Frieden fahren.« Nach anderen Berichten soll er geweint und geschluchzt haben wie ein Kind, so daß man trotz allen Widerwillens angeblich sogar Mitleid für ihn empfand. Durchaus möglich, daß beides zutraf: daß er sich über seine Befreiung freute und dabei auch seine Befreierin beweinte – alles zugleich. Meistens sind die Menschen, sogar die schlechten, viel naiver und offenherziger, als wir gemeinhin annehmen. Und wir selber auch.

      1 Namensgebung für das Verständnis deutsche Leser: Karamasow ist der Familien- und Alexej der Vorname, wie bei uns. Fjodorowitsch ist der Vatersname (Sohn des Fjodor). Die Anrede erfolgt meist in der Form Alexej Fjodorowitsch. Bei Frauen erfolgt die Bildung des Vatersnamen analog; wenn sie heiraten, nehmen sie den Namen des Mannes an. Die zweite Frau Fjodor Pawlowitschs heißt also Sofja Iwanowna Karamasowna

      2 Mitja: Diminutiv von Dmitri

      2. Der erste Sohn wird aus dem Haus geschaff

      Man kann sich natürlich vorstellen, was für ein Erzieher und Vater so ein Mensch sein mußte. Er tat denn auch als Vater, was zu erwarten war, das heißt, er vernachlässigte das Kind vollkommen, nicht aus Haß, auch nicht aus dem Gefühl gekränkten Gattenstolzes, sondern einfach, weil er den Kleinen vergessen hatte. Während er alle Leute mit seinen Tränen und Klagen belästigte und sein Haus in eine Lasterhöhle verwandelte, nahm ein treuer Diener des Hauses namens Grigori den dreijährigen Mitja in seine Obhut, und hätte er nicht für ihn gesorgt, es wäre vielleicht niemandem eingefallen, dem Kind auch nur einmal das Hemd zu wechseln. Außerdem hatte auch die Verwandtschaft mütterlicherseits das Kind in der ersten Zeit fast völlig vergessen. Sein Großvater, Herr Miussow selbst, Adelaida Iwanownas Vater, war damals nicht mehr am Leben; seine verwitwete Gattin, Mitjas Großmutter, war nach Moskau verzogen und sehr krank; Adelaida Iwanownas Schwestern hatten sich verheiratet; infolgedessen mußte Mitja fast ein ganzes Jahr bei dem Diener Grigori zubringen und bei ihm im Gesindehaus wohnen. Selbst wenn sich der Papa seiner erinnert hätte (seine Existenz konnte ihm ja nicht unbekannt sein), er hätte ihn wieder ins Gesindehaus geschickt, da ihn das Kind bei seinen Ausschweifungen störte. Aber da kehrte ein Vetter der verstorbenen Adelaida Iwanowna, Pjotr Alexandrowitsch Miussow, aus Paris zurück, er lebte später viele Jahre ununterbrochen im Ausland, damals aber war er noch sehr jung. Von den übrigen Miussows unterschied er sich erheblich: Er war aufgeklärt, ein Freund der Großstadt und des Auslandes, dazu zeit seines Lebens ein Anhänger westeuropäischer Ideen und gegen Ende seines Lebens ein Liberaler unserer vierziger und fünfziger Jahre. Während seiner Laufbahn stand er mit vielen Liberalen in Rußland und im Ausland in Verbindung; er kannte Proudhon1 und Bakunin2 persönlich und erzählte am Ende seiner Wanderungen besonders gern von den drei Tagen der Pariser Februarrevolution von 1848, wobei er andeutete, daß er sich beinahe selbst auf den Barrikaden an ihr beteiligt habe. Das war für ihn eine der angenehmsten Erinnerungen aus seiner Jugendzeit. Er besaß ein beträchtliches eigenes Vermögen, nach der früheren Zählweise an die tausend Seelen. Sein schönes Gut lag nahe bei unserem Städtchen und grenzte an den Landbesitz unseres berühmten Klosters, mit dem Pjotr Alexandrowitsch schon in sehr jungen Jahren, gleich nachdem er sein Gut geerbt hatte, einen endlosen Prozeß begann, um das Recht

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