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Schon aufgestanden?« rief er, als er in die Kinderstube trat, »Nun, Wärterin, wie geht es ihr denn eigentlich?«

      Bessie entgegnete, daß es mir außerordentlich gut gehe. »Dann sollte sie aber fröhlicher aussehen. Kommen Sie her, Miß Jane. Sie heißen Jane, nicht wahr?«

      »Ja, mein Herr, Jane Eyre!«

      »Nun, Sie haben geweint, Miß Jane Eyre, wollen Sie mir nicht sagen, weshalb? Haben Sie Schmerzen?«

      »Nein, Herr.«

      »Ah, ich vermute, daß sie weint, weil sie nicht mit Mrs. Reed spazieren fahren durfte,« warf Bessie hier ein.

      »O nein, gewiß nicht, für solche Albernheit ist sie denn doch zu alt.«

      Das dachte ich auch; und da meine Selbstachtung durch die falsche Beschuldigung verletzt war, antwortete ich schnell: »In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Tränen um solche Dinge vergossen. Ich hasse die Spazierfahrten. Ich weine, weil ich so unglücklich bin,«

      »Schämen Sie sich, Miß!« rief Bessie,

      Der gute Apotheker schien ein wenig verwirrt. Ich stand vor ihm; er heftete seine Augen fest auf mich. Diese Augen waren klein und grau, nicht sehr leuchtend, aber ich glaube, daß ich sie jetzt sehr klug finden würde. Trotz der harten Züge hatte er ein gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich lange mit Muße betrachtet hatte, sagte er: »Was hat Sie gestern krank gemacht?«

      »Sie ist gefallen,« sagte Bessie wieder einfallend.

      »Gefallen! Nun, das ist gerade wieder wie ein Kind! Kann sie bei ihrem Alter denn noch nicht allein gehen? Sie muß doch acht oder neun Jahre alt sein?«

      »Jemand hat mich zu Boden geschlagen,« lautete die derbe Erklärung, welche der Schmerz gekränkten Stolzes mir wiederum entriß, »aber das hat mich nicht krank gemacht,« fügte ich hinzu, während Mr. Lloyd bedächtig eine Prise Tabak nahm.

      Als er die Tabaksdose wieder in seine Westentasche schob, rief der laute Klang einer Glocke die Dienstboten zum Mittagessen; er wußte, was es bedeutete: »Das gilt Ihnen, Wärterin,« sagte er, »Sie können hinunter gehen; ich werde Miß Jane einige Lehren geben, bis Sie zurücklehren.«

      Bessie wäre lieber geblieben, aber sie war gezwungen zu gehen, weil die Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten eine Sache war, auf welche in Gateshead-Hall strenge gehalten wurde.

      »Der Fall hat Sie nicht krank gemacht? Nun, was war es denn?« fragte Mr. Lloyd weiter, nachdem Bessie gegangen war.

      »Ich war in einem Zimmer eingesperrt, wo ein Geist umgeht – und es war schon lange dunkel.«

      Ich sah, wie Mr. Lloyd lächelte und zugleich die Stirn runzelte. »Ein Geist! Was! Sie sind am Ende doch nichts anderes, als ein kleines Kind! Sie fürchten sich vor Geistern?«

      »Ja, vor Mr. Reeds Geist fürchte ich mich. Er starb in jenem Zimmer und lag dort auf der Bahre. Weder Bessie noch sonst jemand geht am Abend hinein, wenn es nicht dringend notwendig ist; und es war so furchtbar grausam, mich dort allein, ohne Licht, einzuschließen – so grausam, daß ich glaube, ich werde es niemals vergessen können.«

      »Unsinn! Und macht das Sie so elend? Fürchten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«

      »Nein. Aber es dauert nicht lange und dann wird es wieder Nacht. Und außerdem, ich bin unglücklich, sehr unglücklich um anderer Dinge willen.«

      »Was für Dinge denn? Können Sie mir die nicht nennen?«

      Wie sehr wünschte ich, offen und ehrlich auf diese Frage zu antworten! Wie schwer war es aber, Worte für eine solche Antwort zu finden! Kinder können wohl empfinden, aber sie können ihr Empfinden nicht zergliedern; und wenn ihnen die Zergliederung zum Teil auch in Gedanken gelingt, so wissen sie nicht, wie sie das Resultat dieses Vorganges in Worte kleiden sollen. Da ich aber fürchtete, daß ich diese erste und einzige Gelegenheit, meinen Kummer durch Mitteilung zu erleichtern, ungenützt vorübergehen lassen könnte, gelang es mir nach einer unruhigen Pause, eine unzulängliche, aber wahre Antwort hervorzubringen.

      »Erstens habe ich keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder, keine Schwester.«

      »Aber Sie haben eine gütige Tante und liebe Vettern und Cousinen.«

      Wiederum hielt ich inne, dann rief ich kindisch aus:

      »Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen und meine Tante hat mich im roten Zimmer eingesperrt.«

      Zum zweitenmal holte Mr. Lloyd seine Schnupftabaksdose hervor.

      »Finden Sie denn nicht, daß Gateshead-Hall ein wunderschönes Haus ist?« fragte er. »Sind Sie nicht dankbar, an einem so schönen Orte leben zu können?«

      »Es ist nicht mein eigenes Haus, Sir; und Abbot sagt, daß ich weniger Recht habe, hier zu sein, als ein Dienstbote.«

      »Dummes Zeug! Sie können doch nicht so dumm sein, zu wünschen, daß Sie einen so herrlichen Ort wie diesen verlassen dürften?«

      »Wenn ich nur wüßte, wohin ich gehen sollte, ich wäre wahrhaftig froh zu gehen; aber ich darf Gateshead erst verlassen, wenn ich erwachsen bin.«

      »Vielleicht doch früher – wer weiß? Haben Sie außer Mrs. Reed keine Verwandte?«

      »Ich glaube nicht, Sir.«

      »Niemanden, der mit Ihrem Vater verwandt war?«

      »Ich weiß es nicht. Einmal fragte ich Tante Reed, und da sagte sie, daß ich möglicherweise irgend welche arme, heruntergekommene Verwandte, namens Eyre, haben könne, daß sie aber nichts über sie wisse.«

      »Möchten Sie denn zu ihnen gehen, wenn Sie solche Angehörige hätten?«

      Ich besann mich. Armut hat etwas abschreckendes für erwachsene Menschen; für Kinder aber noch mehr; sie haben nicht viel Sinn für fleißige, arbeitsame, ehrenhafte Armut; dies Wort erweckt in ihnen nur den Gedanken an zerlumpte Kleider, kärgliche Nahrung, einen kalten Ofen, rohe Manieren und entwürdigende Laster: auch für mich war Armut gleichbedeutend mit Entehrung.

      »Nein. Ich möchte nicht bei armen Leuten leben,« war meine Antwort.

      »Auch nicht, wenn sie gütig gegen Sie wären?«

      Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht begreifen, wie arme Leute überhaupt die Mittel haben, gütig zu sein. Und dann – sprechen lernen wie sie – ihre Manieren annehmen – schlecht erzogen werden – aufwachsen wie eins jener armen Weiber, die ich zuweilen vor den Türen der Hütten ihre Kinder warten und ihre Kleider waschen sah? – nein, ich war nicht heroisch genug, meine Freiheit um den Preis meiner Kaste zu erkaufen.

      »Aber sind Ihre Verwandten denn so arm? Gehören sie zur arbeitenden Klasse?«

      »Das weiß ich nicht; Tante Reed sagt, wenn ich überhaupt Angehörige habe, so müssen sie Bettlergesindel sein. Nein, nein, ich möchte nicht betteln gehen.«

      »Möchten Sie nicht in die Schule gehen?«

      Wiederum dachte ich nach; kaum wußte ich, was eine Schule denn eigentlich sei; Bessie sprach zuweilen davon wie von einem Orte, an dem man von jungen Damen erwartet, daß sie außerordentlich manierlich und geziert sind; John Reed haßte seine Schule und schmähte seinen Lehrer, aber John Reeds Ansichten und Geschmack waren keine Regel für die meinen, und wenn Bessies Berichte über Schuldisziplin (diese stammten von den Töchtern einer Familie, in welcher sie gedient hatte, bevor sie nach Gateshead kam) etwas abschreckend lauteten, so waren ihre Erzählungen von verschiedenen Talenten und Kenntnissen, welche diese selben jungen Damen sich angeeignet hatten, andererseits höchst verlockend. Sie prahlte von wunderschönen Gemälden, von Landschaften und Blumen, welche sie vollendet, von Liedern, die sie singen und Klavierpiecen, die sie spielen, von Geldbörsen, die sie häkeln, von französischen Büchern, die sie übersetzen konnten, bis mein Gemüt, während ich ihr lauschte, zur Nachahmung aufgestachelt wurde. Außerdem wäre die Schule doch eine gründliche Abwechslung: damit war eine lange Reise verknüpft, eine gänzliche Trennung von Gateshead, ein Eintritt in ein

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