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      »Ein wenig, Madame.«

      »Und auch hungrig, ohne Zweifel. Sorgen Sie dafür, Miß Miller, daß sie etwas zu essen bekommt, bevor sie sich schlafen legt. Ist es das erste Mal, daß du deine Eltern verlassen hast, mein kleines Mädchen, um hier in die Anstalt zu kommen?« Ich erklärte ihr, daß ich keine Eltern habe. Sie fragte mich, wie lange sie schon tot seien; dann wie alt ich sei, wie ich heiße, ob ich lesen könne und auch schreiben und ein wenig nähen. Endlich berührte sie meine Wange sanft mit ihrem Zeigefinger und sagte, »sie hoffe, daß ich ein gutes Kind sein würde,« und dann schickte sie mich mit Miß Miller fort.

      Die Dame, die ich soeben verlassen, mochte ungefähr neunundzwanzig Jahre alt sein. Die, welche mit mir ging, konnte um einige Jahre weniger zählen; die erstgenannte machte durch ihre Mienen, ihren Blick und ihre Stimme einen großen Eindruck auf mich. Miß Miller war von gewöhnlicherem Schlage, ihr Teint war gesund, obgleich ihre Züge die Spuren von Kummer und Sorgen trugen; sie war hastig in Gang und Bewegungen wie jemand, der fortwährend eine Menge der verschiedensten Dinge zu besorgen hat; in der Tat, man sah auf den ersten Blick, daß sie war, was ich späterhin erfuhr – eine Unterlehrerin. Von ihr geführt, ging ich von Zimmer zu Zimmer, von Korridor zu Korridor durch ein großes, unregelmäßiges Gebäude. Endlich hörte die vollständige und trübselige Stille des von uns durchschrittenen Teiles des Hauses auf, und bald schlug ein Gewirr von Stimmen an unser Ohr. Wir traten in ein großes, langes Zimmer, in welchem an jedem Ende zwei große, hölzerne Tische standen; auf diesen brannten zwei Kerzen und rund um dieselben saßen auf Bänken eine Menge von Mädchen jeden Alters, von neun, zehn bis zu zwanzig Jahren. In dem trüben Schein der Talgkerzen schien ihre Unzahl mir Legion, obgleich ihrer in Wirklichkeit nicht mehr als achtzig waren. Sie trugen sämtlich eine Uniform von braunen wollenen Kleidern nach ganz altmodischem Schnitt und lange, baumwollene Schürzen. Es war die Stunde, in welcher sie ihre Aufgaben für den morgenden Tag lernten und das Gesumme von Stimmen, welches ich zuerst vernommen, war das vereinigte Resultat ihrer geflüsterten Repetitionen. Miß Miller machte mir ein Zeichen, mich auf eine Bank nahe der Tür zu setzen; dann ging sie an das obere Ende des großen Zimmers und rief mit sehr lauter Stimme:

      »Aufseherinnen, sammelt die Schulbücher zusammen und legt sie an ihren Platz!«

      Augenblicklich erhoben sich vier große Mädchen von verschiedenen Tischen, nahmen die Bücher zusammen und legten sie fort. Von neuem ertönte Miß Millers tönendes Kommandowort:

      »Aufseherinnen, holt die Bretter mit dem Abendessen!«

      Die großen Mädchen gingen hinaus und kehrten augenblicklich zurück. Jede trug ein großes Präsentierbrett mit Portionen von irgend welchem Essen – ich konnte nicht unterscheiden, was es war – und in der Mitte eines jeden solchen Brettes stand ein Krug mit Wasser und ein Becher. Die Portionen wurden umher gereicht, wer wollte, konnte auch einen Schluck Wasser trinken, der Becher war für alle gemeinsam bestimmt. Als die Reihe an mich kam, trank ich, denn ich war durstig; die konsistentere Nahrung ließ ich unberührt. Aufregung und Ermüdung machten es mir unmöglich zu essen, indessen sah ich jetzt, daß es ein dünner Kuchen von Hafermehl war, der in Stücke geschnitten worden.

      Als die Mahlzeit vorüber war, las Miß Miller das Abendgebet vor, und die Klassen gingen in Reihen von zwei und zwei nach oben. Jetzt hatte die Müdigkeit mich vollständig überwältigt, ich bemerkte kaum, welche Art von Aufenthaltsort das Schlafzimmer eigentlich war; ich sah nur, daß es ebenso lang war wie das Schulzimmer. Diese Nacht mußte ich das Bett mit Miß Miller teilen, sie half mir beim entkleiden. Als ich mich niederlegte, blickte ich auf die lange Reihe von Betten, von denen jedes schnell mit zwei Teilhabern sich füllte, nach zehn Minuten wurde das einzige Licht ausgelöscht. Stille und vollständige Dunkelheit herrschten; ich schlief ein.

      Die Nacht verstrich schnell. Ich war sogar zu müde und abgespannt, um träumen zu können. Nur einmal erwachte ich und vernahm, wie der Wind in wütenden Stößen durch die Bäume brauste. Der Regen fiel in Strömen. Jetzt gewahrte ich auch, daß Miß Miller ihren Platz an meiner Seite eingenommen hatte. Als ich die Augen wieder öffnete, schlug der laute Ton einer Glocke an mein Ohr. Die Mädchen waren bereits aufgestanden und kleideten sich an; der Tag war noch nicht angebrochen, und ein oder zwei Lichter brannten im Zimmer. Widerwillig erhob auch ich mich, es war bitter kalt, und ich kleidete mich an so gut wie ich es vor Kälte bebend vermochte. Als eine Waschschüssel frei geworden war, wusch ich mich. Allerdings mußte ich lange auf diese glückliche Fügung warten, denn auf den Waschtischen, welche durch die Mitte des Zimmers entlang standen, befand sich nur immer eine Schüssel für je sechs Mädchen. Wieder ertönte die Glocke. Alle traten wie am vorigen Abend zwei und zwei in die Kolonne, und in dieser Ordnung gingen sie die Treppe hinunter. Sie traten in das trübe erhellte und kalte Schulzimmer; hier las Miß Miller das Morgengebet vor; dann rief sie laut:

      »Bildet die Klassen!«

      Hierauf folgte ein großer Tumult, der einige Minuten anhielt. Inzwischen rief Miß Miller zu wiederholten Malen: »Ruhe!« und »Ordnung!« Als diese endlich eingetreten, sah ich, daß alle sich in vier Halbkreisen vor vier Stühlen aufgestellt hatten, welche vor vier Tischen standen. Alle hielten Bücher in den Händen und ein großes Buch, einer Bibel ähnlich, lag auf jedem Tisch vor dem leeren Stuhl. Nun entstand eine minutenlange Pause, während welcher man nichts vernahm, als das leise Gemurmel von Zahlen. Miß Miller ging von Klasse zu Klasse und machte diese unbestimmten Laute verstummen.

      Aus der Ferne ertönte eine Glocke. Gleich darauf traten drei Damen ins Zimmer. Jede derselben ging an einen der Tische und nahm ihren Platz ein. Miß Miller nahm den vierten Stuhl, welcher der Tür am nächsten stand und um den die kleinsten Kinder sich versammelt hatten; dieser letzten Klasse wurde auch ich zugewiesen und zwar als letzte in derselben.

      Jetzt begann die Arbeit. Die Kollekte des Tages wurde wiederholt, dann wurden mehre Texte aus der heiligen Schrift hergesagt, und endlich folgte das Lesen von Kapiteln aus der Bibel, welches eine ganze Stunde dauerte. Als wir mit dieser Übung zu Ende gelangt, war der Tag vollständig angebrochen. Die unermüdliche Glocke ertönte jetzt zum viertenmal. Die Klassen sammelten sich und marschierten in ein anderes Zimmer, wo das Frühstück eingenommen wurde. Wie froh war ich bei der Aussicht, jetzt endlich etwas zu essen zu bekommen. Der Hunger hatte mich beinahe schon krank gemacht, denn Tags zuvor hatte ich fast gar keine Nahrung zu mir genommen.

      Das Refektorium war ein großes, niedriges, düsteres Gemach. Auf zwei langen Tischen dampfte etwas Heißes in kleinen Näpfen, das indessen zu meiner größten Enttäuschung einen Geruch ausströmte, der nichts weniger als einladend war. Als der Dampf dieser Mahlzeit in die Geruchsorgane derjenigen drang, welche bestimmt waren, selbige zu vertilgen, bemerkte ich eine allgemeine Kundgebung der Unzufriedenheit. Aus dem Nachtrab der Prozession, den die großen Mädchen der ersten Klasse bildeten, hörte man die geflüsterten Worte:

      »Ekelhaft! Der Haferbrei ist schon wieder angebrannt!«

      »Ruhe!« gebot eine Stimme. Es war nicht diejenige Miß Millers, sondern sie gehörte einer der Oberlehrerinnen, einer kleinen dunklen Person, die hübsch gekleidet war, hingegen sehr mürrisch und unangenehm aussah. Diese nahm an dem oberen Ende an einem der Tische Platz, während eine behäbigere Dame an dem anderen präsidierte. Umsonst hielt ich Umschau nach der Gestalt, welche ich am ersten Abend gesehen hatte, sie war nicht sichtbar. Miß Miller hatte am unteren Ende des Tisches Platz genommen, an welchem ich saß und eine seltsam fremdartig aussehende, ältliche Dame – die französische Lehrerin – wie ich später erfuhr – nahm denselben Platz am nächsten Tische ein. Ein langes Gebet wurde gesprochen, eine Hymne gesungen, dann brachte eine Dienerin den Tee für die Lehrerinnen herein und die Mahlzeit nahm ihren Anfang.

      Vollständig ausgehungert und ermattet verschlang ich mehrere Löffel voll von meiner Portion, ohne an den Geschmack zu denken; als aber der erste, quälende Hunger gestillt war, bemerkte ich, daß ein übelriechendes Gemisch vor mir stand. Angebrannter Haferbrei ist beinahe ebenso abscheulich wie verfaulte Kartoffeln; selbst die Hungersnot schreckt davor zurück. Die Löffel wurden ganz langsam in Bewegung gesetzt, ich sah, wie jedes Mädchen die ihr vorgesetzte Nahrung kostete und versuchte, sie hinunterzuschlucken, aber in den meisten Fällen wurden diese Bemühungen aufgegeben. Das Frühstück war vorüber und niemand hatte gefrühstückt. Wir sprachen

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