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ihn in Sicherheit bringen wollte, bevor ihn dasselbe Schicksal erreicht wie Ihren Bruder.«

      Ann Perrymans Lippen zitterten, aber wieder gelang es ihr, sich zu beherrschen.

      »Sie meinen, bevor er durch die Hand von Polizeibeamten umgebracht wurde?« sagte sie leise, beinahe flüsternd. »Auf diese Weise ist mein Bruder ums Leben gekommen – wollten sie mit Li Yoseph auf dieselbe Weise verfahren? Als Sie mich vorhin am Arm packten und herumrissen, als ob ich eine Ihrer Gefangenen wäre, erkannte ich, was für ein brutaler Mensch Sie sind!«

      »Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich Ihren Bruder getötet habe?«

      »Li Yoseph.«

      Auf diese Antwort war Bradley nicht gefaßt.

      »Das ist das Unglaublichste, was ich je gehört habe«, sagte er langsam. Dann war er plötzlich wieder der sachliche Beamte und sprach ganz geschäftsmäßig. »Es ist möglich, daß ich Sie, McGill und Tiser, heute Abend noch einmal sehen muß. Inzwischen können Sie nach Hause gehen. Miss Perryman, mit Ihnen werde ich morgen früh sprechen. Jetzt werde ich Sie nach Hause bringen.«

      »Ich brauche Ihre Begleitung nicht – ich gehe mit Mr. McGill.«

      »Sie gehen mit mir«, erwiderte er bestimmt. »Ich will wenigstens die Genugtuung haben, Sie einen Abend lang vor schlechter Gesellschaft bewahrt zu haben.«

      »Was soll das heißen, Bradley?« rief McGill zornig. »Was wollen Sie von mir? Ich habe nun allmählich genug von Ihren Andeutungen und dunklen Bemerkungen. Stehen Sie mir jetzt Rede und Antwort!«

      Bradley winkte einen seiner Leute heran.

      »Begleiten Sie Miss Perryman zu meinem Wagen!«

      Einen Augenblick sah sie ihn trotzig an, dann drehte sie sich um und folgte dem Detektiv die Treppe hinunter. Nachdem sie gegangen war, wandte sich Bradley an McGill.

      »Ich will Ihnen sagen, was ich gegen Sie habe. Im ganzen Land ist in letzter Zeit ein starkes Anwachsen von Gewaltverbrechen wahrzunehmen. Vorige Woche wurde in der Oxley Road ein Polizist erschossen, und als jene Bande bei den Juwelieren Isligton einbrach und auf frischer Tat überrascht wurde, haben die Leute durch eine regelrechte Schießerei ihren Rückzug gedeckt. Das ist ungewöhnlich. Sie wissen doch, daß der englische Verbrecher keine Schusswaffe bei sich trägt. Eine neue Generation von Revolverhelden ist im Land aufgetaucht – und deshalb bin ich empört über Sie.«

      »Wollen Sie damit sagen, daß ich Schießstände eingerichtet habe, wo ich den Verbrechern das Knallen beibringe?«

      Bradley nickte langsam.

      »Ja, das meine ich. Sie benützen die schlimmste Methode, um die Leute zu solchen teuflischen Taten zu treiben. Jeder, der die Geschichte der amerikanischen Verbrecherbanden kennt, weiß, was jetzt in England vorgeht. Sie haben einen neuen Weg gefunden, den Verbrechern Rauschgifte zu liefern! Aber wenn ich Sie fasse, dann werde ich Sie auch ganz zur Strecke bringen. Zwanzig Jahre werden nach Ihrer Verurteilung vergehen, bevor Sie wieder aus Dartmoor herauskommen.« Er trat näher an McGill heran. »Und ich werde Ihnen noch etwas anderes sagen. Ich weiß nicht, was Sie mit Miss Perryman im Sinn haben, aber denken Sie daran, daß ich sie bewachen werde wie eine Katze die Maus. Und wenn Sie etwas Böses im Schilde führen, dann werde ich schon Mittel und Wege finden, Sie einzusperren – auch ohne Beweise.«

      4

      Während der Fahrt zur Stadt stellte Bradley seine Fragen klug und geschickt, und Ann Perryman wußte wohl kaum, daß sie einem Kreuzverhör unterworfen war.

      Am nächsten Morgen hatte sie in ihrem Wohnzimmer im Hotel eine Unterredung mit Bradley; er hatte sich vorher telefonisch mit ihr in Verbindung gesetzt. Als er dann bei ihr erschien, war sie gesammelt und ruhig. Sie sah ihn unverwandt an, während er sprach, und in dem Blick ihrer Augen las er Haß gegen sich und seinen Beruf.

      »Wir haben noch keine Spur von Li Yoseph gefunden, aber ich hoffe, daß wir ihn noch entdecken werden, wenn er nicht beiseitegeschafft worden ist. Er besaß ein kleines Motorboot, das unten an seinem Haus befestigt war. Dieses Boot wurde von der Strompolizei leer auf der Themse gefunden.«

      Sie betrachtete ihn mit kalten Blicken. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihn wohl für einen hübschen jungen Mann gehalten; er hatte intelligente Züge und große, ausdrucksvolle Augen. Es war seine Angewohnheit, die Menschen häufig durch halbgeschlossene Augenlider zu beobachten. Er lachte häufig; aber seine Lippen zuckten schmerzlich, als er von den armen Leuten sprach, die in Li Yosephs Nachbarschaft wohnten. Er sah gepflegt aus, hatte die Gestalt eines Athleten und schöne, wohlgeformte Hände, die er auf die Tischplatte legte – sie hatte ihm keinen Platz angeboten. Ihr Haß gegen ihn wuchs mehr und mehr, als sie seine anziehenden Eigenschaften erkannte.

      »Es ist überflüssig, Theorien aufzustellen, Mr. Bradley«, sagte sie ruhig. »Li Yoseph wurde wahrscheinlich von Polizeibeamten getötet – genau wie der arme Ronnie!«

      Ihre Behauptung war so lächerlich und aus der Luft gegriffen, daß Bradley, der Mutterwitz besaß und gewöhnlich sehr schlagfertig war, keine Antwort fand.

      »Er wurde einfach mit einem Polizeiknüppel niedergeschlagen, weil er Ihnen nicht sagen wollte, was Sie gerne gewußt hätten. Warum sollte denn Li Yoseph entkommen? Er war ein Zeuge, der den Mord an Ronnie gesehen hatte.«

      Bradley sah sie scharf an.

      »Sie haben sich aufhetzen lassen. Wissen Sie eigentlich, welche Tätigkeit Ihr Bruder hatte, warum er so eng mit Li Yoseph befreundet war?«

      Sie antwortete ihm nicht.

      »Ich möchte Ihnen so gerne helfen.«

      Er lehnte sich über den Tisch; seine Stimme klang sanft und eindringlich.

      »Soviel ich weiß, sind Sie Lehrerin an einer Pariser Schule, und ich hoffe, daß Sie versuchen werden, all diese schrecklichen Ereignisse zu vergessen, wenn Sie dorthin zurückkehren. Ich habe Ihren Bruder gern gehabt, in gewissem Sinn war er sogar mein Freund. Ich war wohl einer der letzten, mit denen er vor seinem Tod sprach.«

      Er sah, wie sie die Lippen unwillig zusammenzog, und schüttelte den Kopf.

      »Das Unglück muß Sie so schwer getroffen haben, daß Sie im Augenblick nicht klar denken können. Warum sollte die Polizei ihm denn etwas getan haben? Und warum sollte denn gerade ich sein Mörder sein? Ich hätte mir die größte Mühe gegeben, wenn ich ihm hätte helfen können. Ich kenne seine ganze Vergangenheit, und ich weiß auch, wie wankelmütig er war ...«

      »Ich glaube, wir können diese Unterredung beenden. Ob ich nach Paris zurückgehe oder nicht, ist meine eigene Angelegenheit. Ich weiß, daß Sie ihn haßten – und ich glaube, daß Sie ihn getötet haben. Alle Nachbarn Li Yosephs sind davon überzeugt, daß Ronnie von Polizeibeamten getötet wurde. Ich will nicht behaupten, daß man ihn mit Vorsatz ermordete, aber er starb von Ihrer Hand.«

      Er machte eine verzweifelte Handbewegung.

      »Darf ich später einmal mit Ihnen sprechen, wenn Sie die erste Aufregung überwunden haben?«

      »Ich will Sie nie wieder sehen«, brauste sie auf. »Ich hasse Sie und Menschen Ihres Schlages! Sie sind so freundlich und können so aalglatt reden, und dabei sind Sie doch so heimtückisch und gemein. Alle Polizeibeamten sind Lügner, die ihre Schlechtigkeit durch Meineide beschönigen und ihre Fehler durch die Verfolgung unschuldiger Zeugen verbergen. Sie haben sich einen abscheulichen Beruf ausgesucht.«

      Er wollte noch etwas erwidern, hielt es aber für besser zu schweigen, nahm mit einem leichten Lächeln seinen Hut auf und verließ den Raum.

      Später bereute Ann ihre Heftigkeit, aber gleich darauf verachtete sie sich wieder selbst wegen dieser Schwäche. Dieser Mann hatte ihren Bruder ermordet ...

      Und in dieser Überzeugung stand sie nicht allein. Die Leute in der Gegend von Lady's Stairs hatten ihre eigenen Ansichten, die durch das bestärkt wurden, was sie mit ihren Augen sahen. Sie wußten, daß Ronnie Li Yoseph öfters besuchte.

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