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Heimkehr

      Stella war enttäuscht.

      Nur die Tante stand auf dem Bahnhof, weder ihre Halbschwester Rebekka noch ihr Onkel.

      Am wenigstens war es die Tante, auf deren Wiederbegegnung sie sich freute.

      Trotzdem: Die Tante drückte sie herzlich an sich. Sie erklärte, Rebekka und der Onkel würden in einer Stunde nachkommen.

      Dann griff sie die schwere Reisetasche, während sie Stella den Koffer mit den Bodenrollen überließ und winkte sie in das kleine Bahnhofsrestaurant.

      Sie hatte es so arrangiert. Sie wollte Stella zunächst unter vier Augen sprechen.

      „Stella – ich wünsche mir so sehr, dass wir uns endgültig aussöhnen. Ich gehe sogar so weit, mich bei dir zu entschuldigen.

      Wenn auch du manche unfeinen Dinge damals gesagt hast.

      Es war nicht fair von mir, dir anzulasten, was mit Lenny geschehen ist. Sicher, ihr beide, du und Rebekka, solltet sie wachsam im Auge behalten an diesem Abend. Sie war ja erst zwölf. - Doch was dann folgte, jenes Verbrechen, das hat keiner von euch vorausahnen können.“

      Sie atmete tief.

      „Ich habe dir auch vorgeworfen, was später geschah. Den Tod eurer Eltern, der mir meine jüngere geliebte Schwester wegnahm. Dabei warst du es, die gewiss am meisten gelitten hat.

      Du hattest keinen Einfluss darauf, dass dein Vater nach dem grausamen Verlust von Lenny zu trinken begann. Er verwand es nie, dass sie so spurlos verschwunden blieb. Manchmal dachte ich: Dass er sich in diesem Zustand von Betrunkenheit mit deiner Mutter ans Steuer setzte – die beiden wollten es so. Sie hatten keinen Lebensmut mehr.“

      Ihre Stimme versiegte. Sie hatte damals die Leichen in dem ausgebrannten Wagen identifizieren müssen. Wahrscheinlich sah sie es wieder Bild für Bild vor sich.

      Sie griff vorsichtig nach Stellas Hand.

      „Wir machen einen neuen Beginn.

      Unsere größte Freude wäre es, und das will ich dir auch von meinem Mann sagen, wenn du wieder in Freiburg leben würdest, wenigstens in Deutschland, damit wir uns ab und zu sehen. Und die allergrößte Freude wäre dies für deine Halbschwester Rebekka.“

      Sie drückte noch einmal Stellas Hand und zog ihre eigene dann wieder zurück.

      „Rebekka: Das ist noch ein weiteres Thema.

      Ich muss dir sagen, sie ist noch immer äußerst labil.

      Ich weiß, dass ihr regelmäßig telefoniert.

      Doch Rebekka spricht wenig über das, was tatsächlich vorgeht in ihr. Sie flüchtet sich lieber in Äußerlichkeiten. Sie möchte niemanden zur Last fallen.

      Sie möchte nicht, dass ihre Sorgen und Ängste auch die Sorgen der anderen werden.

      Sie ist eine so feine Seele.

      Sie hat die Anstalt jetzt seit zweieinhalb Jahren verlassen. Doch noch immer braucht sie ihre regelmäßige therapeutische Betreuung.“

      „Hört sie noch Stimmen? Macht sie noch manchmal von ihrem Pendel Gebrauch?“

      „Das, Gott Lob, ist alles vorbei. Aber weiterhin hat sie diese bipolare Störung, wie man es nennt, sie ist manisch-depressiv.

      Lass dich nicht täuschen, wenn sie dich anstrahlt und sie dir wie das blühende Leben erscheint. Es ist nur das eine Blatt. Es hat eine Kehrseite und es wendet sich rasch. Dann sitzt sie wieder starr und in Depressionen gefangen an ihrem Dachbodenfenster. Sie verweigert in diesem Zustand jede Kommunikation.

      Ich will es dir nur sagen. Du musst es wissen.“

      Stella nickte.

      Die Tante griff wieder nach ihrer Hand, drückte sie sanft.

      Stella fühlte für einen Moment, dass sie diesen Druck erwidern wollte. Doch noch war der Zeitpunkt nicht reif. Die Bitternis und die Vorwürfe der Tante, die nach dem Unfalltod der Eltern noch zunahmen, verhärteten sie in ihrem Entschluss, Freiburg für Jahre fern zu bleiben. Und das wieder hatte die Tante ihr zum Vorwurf gemacht: ihre Halbschwester im Stich zu lassen, die seit jener Nacht der Schrecken in einem tiefen Trauma gefangen blieb.

      Alle hatten sie über Jahre schrecklich gelitten. Und das Leiden, das unerträgliche, hatte sie noch entzweit. Es hätte sie, als gemeinsames Leiden, auch enger zusammenschweißen können. Vielleicht war dieser Zeitpunkt endlich gekommen.

      x x x x

      Rebekka und der Onkel trafen ein.

      Der füllige Onkel begrüßte sie mit einer stürmischen Umarmung, nicht ohne zuvor seine unverzichtbare Zigarre an seinem Schuh auszudrücken.

      Die Umarmung mit Rebekka war zart, doch lange und innig. Die Halbschwester trug ein ärmelloses sommerliches Kleid mit grüner Samtweste, ihre Haare waren nicht mehr zu einem Knoten gebunden und offen, sie hatte ihre Lippen geschminkt und sogar Lidschatten über die Augen gemalt.

      Der Onkel wollte während der Fahrt alle Einzelheiten von Stellas Flug wissen, Strecke Toronto München, obwohl es außer Banalitäten da nichts zu berichten gab, die Fahrt in den Außenbezirk verlängerte sich durch einen Stau auf fast eine Stunde, dann erkannte Stellas das Haus.

      Sie staunte etwas, wie wenig sich in all den vergangenen Jahren geändert hatte. Auf dem weitläufigen Gartengelände gackerten noch immer die Hühner, drei Ziegen grasten hinter dem Haus, am Gartenteich schnatterten Gänse und Enten und auch die Kaninchenställe waren wie immer voll.

      Es war Rebekkas Aufgabe, sich um diese Tiere zu kümmern. Das tat sie, seit sie aus der Anstalt entlassen war, zuverlässig, erzählte die Tante.

      Rebekka zeigte Stella auf dem Dachboden ihren neuen Arbeitsplatz: mit Nähmaschine, Zwirnen, Nadeln und Scheren und vielen Stoffmustern, die sich auf einem Teewagen stapelten und einem breiten Zuschneidetisch. Stella wusste bereits, dass Rebekka sich hier eine Änderungsschneiderei eingerichtet hatte, der Zulauf von Kunden war noch spärlich, doch immerhin waren zwei von ihnen schon etwas wie Stammkunden und einer zahlte auch gut.

      Der große Dachbodenraum war wie früher durch ein Tuch in zwei gleich große Teile geteilt, die eine Hälfte war wieder als Quartier für Stella vorgesehen. Die Tante hatte es liebevoll eingerichtet mit alten gedrechselten Möbelstücken und allem Komfort einer kleinen Wohnstube. Und die frischen weißen Bettbezüge und das weiße Laken rochen wieder einmal so rein wie ein frisch gefallener Schnee.

      Für den morgigen Freitag hatte die Tante einen ganzen Katalog von Ausflugsvorschlägen. Sollte es wie heute ein sonniger Tag werden, dann bot sich eine Seilbahnfahrt an im „Schauinsland“, eine Fahrt zum Schluchsee, zum Feldberg oder zum Titisee, vielleicht auch alles zusammen. Und auch Freiburg selbst hatte seine Sehenswürdigkeiten: das Haus zum Walfisch, das Münster, die alte Wache, das Martinstor und das Schwabentor, das alte Rathaus und schließlich der Stadtgarten.

      Stella spürte nur diesen Wunsch: einige Tage durch den Schwarzwald zu wandern, allein. Das auszusprechen konnte sie freilich der Tante in diesem Moment nicht antun. Und der Schwarzwald stand zuverlässig an seinem Platz. Er würde warten – auch in die kommenden Tage hinein, das war gewiss.

      Der Film der Schrecken

      Am Abend des übernächsten Tages einigten sich Stella und Rebekka darauf, in eine Diskothek zu fahren. Der Onkel hatte ihnen dafür sein Auto zugesagt.

      Rebekka hatte seit elf Jahren keine Diskothek mehr besucht. Zu Stellas Erstaunen kam der Vorschlag von ihr selbst, schon tags zuvor, nur locker und nebenbei, und Stella wusste nicht, ob es ernst gemeint war. Rebekka machte klar, dass sie mit ihrer Halbschwester ausgehen wollte. Ihre Zeit als „Trauerkloß“, wie sie es selbst sagte, war endgültig vorbei, das war ihr fester Entschluss.

      Sie stand vor dem Kleiderschrank und drehte sich vor dem Schrankspiegel, sie toupierte sich leicht die

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