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wenn sie entdeckt hätten, dass du gar kein Mexikaner bist? Du hast dich zwar recht gut zurecht gemacht und das Bräunungsmittel tat ein Übriges. Doch du weißt genau, dass die Poren deiner Gesichtshaut viel zu fein für einen Einheimischen sind. Hätten sie dich genauer betrachtet, sie hätten bemerkt, dass du kein Mexikaner sein kannst. Zumindest hätten sie Verdacht geschöpft.«

      Henry musste bei diesen mahnenden Worten breit lächeln.

      »Wer schaut schon einem stinkenden Betrunkenen genau in sein mit Kotze verschmiertes Gesicht? Nein, nein, Manuel, meine Tarnung wäre nur aufgeflogen, wenn ich eine der Augenlinsen verloren hätte. Und dafür haben sie den alten Saufkopf nicht hart genug angefasst.«

      »Und was willst du als Nächstes unternehmen? Auch wenn du dir nun sicher bist, wo du ansetzen kannst, so ist das WIE doch noch völlig offen?«

      Manuels Fragen waren berechtigt. Wie sollte Henry jemals in die so scharf bewachte Höhle des Löwen vordringen, ohne entdeckt und getötet zu werden?

      *

      Der erste Tag an der Universidade Federal do Rio de Janeiro begann für Chufu Lederer mehr als harzig. Das Einschreibe-Prozedere am frühen Morgen verlief noch ohne Probleme für ihn, doch im ersten Hörsaal, wo Professor Alessandro Purrin Aspekte der Psychoanalyse lehrte, war der Andrang an Studenten so groß, dass für Chufu bloß noch ein unbequemer Platz auf einer Treppenstufe weit oben übrigblieb. Und im nächsten Vortragsaal rund zwei Stunden später war es sogar noch voller. Es blieb ihm und weiteren rund zwanzig Studenten keine Alternative. Sie mussten sich auf den Flur vor dem Hörsaal hinsetzen. Bei offener Türe versuchten sie, möglichst viel von dem mitzubekommen, was drinnen gesagt wurde. Den Rest mussten sie sich zusammenreimen, vor allem all das, was der Professor über den Beamer als Bilder und Grafiken an die Wand warf und kommentierte.

      Frustriert saß Chufu später beim Mittagessen an einem der langen Tische, schaufelte das einfache, aber schmackhafte Einheitsmenü in sich hinein und überlegte, ob er nicht Alabima und Jules anrufen und seine Ausland-Studier-Übung heute noch abbrechen sollte.

      Normalerweise gab Chufu zwar nicht so leicht auf. Jules hatte ihn, seitdem sie zusammenlebten, eigentlich ständig auf Ausdauer getrimmt. Nicht nur das körperliche Training dreimal die Woche mit einigen Elementen des Kampfsports, sondern auch seine geistige Beweglichkeit und vor allem den absoluten Durchhaltewillen wurden von seinem Adoptivvater immer wieder auf die Probe gestellt und gefördert. Chufu hatte seine unvollständige Schulbildung in wenigen Jahren auf Vordermann gebracht, die Matura in der Schweiz in Rekordzeit geschafft und sich für das Studium der Psychologie entschieden, was Alabima und Jules vollkommen unterstützten.

      »Es kann nichts schaden, wenn du nicht nur instinktiv, sondern auch professionell hinter die aufgesetzten Fassaden anderer Menschen blicken kannst.«

      Das waren die Worte von Jules, als er vom Studienwunsch von Chufu das erste Mal hörte. Und seine Eltern widersetzten sich auch nicht seiner Bitte, sich an der Universität in Rio de Janeiro einzuschreiben, auch wenn ihnen ein halbes Jahr recht kurz erschien, um Portugiesisch zu erlernen. Doch nun schienen alle seine Träume hier in Brasilien bereits geplatzt zu sein.

      »Ist hier noch frei?«, ließ ihn eine helle, weibliche Stimme in seinem Rücken aus den dunklen Gedanken aufschrecken. Überrascht drehte er seinen Kopf und blickte in zwei schwarze Mandelaugen in einem runden, asiatischen Gesicht.

      »Na... Natürlich«, stotterte er eine Zustimmung und rückte sein Tablett zum Zeichen seines Einverständnisses ein wenig zur Seite.

      »Hallo, ich bin Mei Ling«, plapperte die junge Frau fröhlich drauflos, setzte ihr Tablett neben seinem ab und streckte ihm eine kleine, etwas fleischig runde Hand mit kurzen Fingern entgegen. Sie fühlte sich warm und weich an, drückte jedoch recht kräftig die seine.

      »Ich heiße Chufu Lederer«, murmelte er, während sie sich auf den Stuhl neben ihn setzte.

      »Bist du auch neu hier am Institudo de Psicologia?«, war ihr Anknüpfungspunkt für eine Unterhaltung.

      »Ja, heute erster Tag«, gab Chufu etwas mundfaul zurück.

      Die Chinesin besaß zwar ein freundliches, gewinnendes Wesen, doch ihr Vollmondgesicht und die etwas pummelige Figur entsprachen in keiner Weise seinem Geschmack bei Frauen. Überhaupt hatte er während dem gesamten Morgen noch kein einziges weibliches Wesen erblickt, das seiner Vorstellung von Brasilien auch nur im Geringsten nahekam. Vielleicht lagen vor allem darin seine Enttäuschung und der Grund für die so rasch aufgekommene Frustration. Denn Studieren ohne Spaß machte nirgendwo auf dieser Welt wirklich Freude.

      »Du bist doch auch in der Vorlesung von Professor Purrin gewesen, oder?«, verriet die Chinesin den Grund, warum sie sich gerade neben ihn hatte setzen wollen.

      Chufu nickte nur und stopfte sich die nächste Gabel mit Essen so vehement in den Mund, als wolle er sicher gehen, ja nicht antworten zu müssen.

      »Aber du hast dich auf die Treppe gesetzt. Hast du denn keinen Espaçores?«

      Chufu konnte zwar recht gut Portugiesisch, das Wort Espaçores hatte er jedoch noch nie gehört.

      »Was ist ein Espaçores?«, fragte er darum zurück.

      »Na, ein Platzhalter, einer, der dir den Sitzplatz freihält, bis du im Hörsaal eintriffst. Oder halten dich deine Eltern finanziell zu knapp, dass du dir keine leisten kannst?«

      Chufus Gehirnwindungen schalteten rasch.

      »Du meinst, man kann sich hier Leute mieten, die einem in den Hörsälen einen Sitzplatz freihalten?«

      »Selbstverständlich«, kam ihre Klarstellung postwendend zurück, »jeder beschäftigt hier zwei oder drei Espaçores, wenn er sie sich leisten kann.«

      »Und wie funktioniert das?«

      »Espaçores sind Studenten aus ärmeren Familien. Sie verdienen sich ihr Studium, indem sie sich für Fächer einschreiben, für die sie sich gar nicht wirklich interessieren. Sie halten ihrem Auftraggeber stets einen Sitzplatz frei und bekommen dafür 200 Real pro Vortrag und Semester.«

      »Und wie komme ich an meine eigenen Espaçores?«

      »Das ist ganz einfach. Geh im Intranet der Uni auf die Seite mit den Arbeitsangeboten. Dort findest du haufenweise Studenten, die sich mit Nebenjobs ein wenig Geld hinzuverdienen möchten. Die Espaçores schreiben natürlich nicht direkt, dass sie für dich einen Sitzplatz freihalten wollen. Das würde die Uni unterbinden. Doch alle Espaçores führen in ihren Profilen nur die Lehrgänge auf, in denen sie sich angemeldet haben, die sie jedoch nicht wirklich interessieren und wo sie auch frühzeitig im Hörsaal sitzen können, um für dich einen Platz freizuhalten. Du kontaktierst also einfach diejenigen Studenten, die in ihrem Profil deine Studienreihe erwähnen. Der Rest ergibt sich dann von selbst und ist reine Verhandlungssache.«

      Chufu blickte die Chinesin bewundernd an.

      »Woher weißt du das alles, wenn du auch neu hier bist?«

      Mei Ling lächelte verschmitzt.

      »Ich bin die dritte in meiner Familie, die hier an der Uni studiert. Meine beiden älteren Schwestern haben mir einen ganzen Haufen an Tricks verraten, vor allem, wie man sich hier am besten durchschlägt.«

      Chufu betrachtete die kontaktfreudige Mei Ling nun mit etwas anderen Augen. Ihr rundes Gesicht mit der wenig vorteilhaften Bubikopf-Kurzhaarfrisur konnte ihn weiterhin nicht begeistern. Doch Mei Ling besaß einen süßen, kleinen Mund mit frischen, rosafarbenen Lippen. Dieser Mund wies den gewissen Schwung auf, den Chufu mochte. Er versprach ein aufgewecktes Wesen mit hoher Intelligenz, aber auch einiges an Durchsetzungswillen und eine gehörige Portion an Humor und Selbstironie. Jedenfalls bildete sich Chufu all dies bei ihrem Anblick ein.

      »Und welche Vorträge belegst du sonst noch?«, fragte er nun seinerseits die Chinesin interessiert und verriet ihr damit, dass er gerne mehr mit ihr gemeinsam hätte.

      »Na, Pereira und Peres, und selbstverständlich auch Drummond, sowie Arruda.«

      »Die ersten drei habe ich

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