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Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Jakob Wassermann
Читать онлайн.Название Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens
Год выпуска 0
isbn 9783753196749
Автор произведения Jakob Wassermann
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Mit einem Wort, das Programm wurde ein wenig einförmig, höchstens Neulinge konnten ihm noch Geschmack abgewinnen. Die andern erblickten in Daumer etwas wie einen Zirkusdirektor oder einen Literaten, der seine Freunde mit der beständig wiederholten Vorlesung eines mittelmäßigen Poems langweilt, während über Caspar sich zu amüsieren sie immerhin noch genug Gelegenheit fanden.
Oder war es nicht amüsant, wenn er zum Beispiel einen hohen Offizier tadelte, daß sein Rockkragen bestäubt war, wenn er mit dem Finger das Haupt eines ehrwürdigen Kammerdirektors berührte und mitleidig-verwundert sagte: »Weiße Haare, weiße Haare?« Wenn er während der Anwesenheit einer vornehmen Standesperson nur darauf achtete, wie diese den Stock zwischen den Fingern baumeln ließ und es auch so machen wollte, wenn er seinen Ekel gegen den schwarzen Bart des Magistratsrats Behold äußerte oder sich weigerte, einer Dame die Hand zu küssen, indem er sagte, man müsse ja nicht hineinbeißen?
Durch solche kleine Zwischenfälle hielten sie sich für belohnt. Wenn man lachen konnte, war alles gut. Hingegen Daumer ärgerte sich darüber und suchte ihm die Pflichten der Höflichkeit begreiflich zu machen. »Du vergißt stets, die Ankömmlinge zu begrüßen,« sagte Daumer. In der Tat blickte Caspar, in ein Buch oder Spiel versenkt, erst empor, wenn man ihn anrief, bisweilen, wenn er ein bekanntes oder liebgewordenes Gesicht sah, mit einem berückend schelmischen Lächeln, und fing dann ohne Einleitung an zu fragen und zu plaudern. Mochten noch so wichtige Personen zugegen sein, er verließ nie seinen Platz, ohne alle Dinge, mit denen er beschäftigt gewesen, sorgfältig in Ordnung zu bringen und mit einem kleinen Besen den Tisch von Papierschnitzeln oder Brotkrumen zu reinigen. Man mußte warten, bis er fertig war.
Er war ohne Schüchternheit. Alle Menschen schienen ihm gut, fast alle hielt er für schön. Er fand es selbstverständlich, wenn sich irgendein Herr vor ihn hinstellte und ihm aus einem bereitgehaltenen Zettel endlos viele Namen oder endlos viele Zahlen vorlas. Sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich, er konnte in der gleichen Reihenfolge Namen für Namen, Zahl für Zahl, und waren es hundert, wiederholen. Am Erstaunen der Leute merkte er wohl, daß er Staunenswertes geleistet, aber kein Schimmer von Eitelkeit zog über sein Gesicht, nur ein wenig traurig wurde es, wenn immer dasselbe kam, wenn sie nie zufrieden schienen.
Er konnte es nicht verstehen, daß ihnen wunderbar war, was ihm so natürlich war. Aber was ihm wunderbar war, darum kümmerte sich keiner. Er vermochte es nicht zu sagen, es wurzelte im verborgensten Gefühl. Es war eine kaum gespürte Frage, am Morgen, beim Erwachen etwa, ein hastiges, stummes, verzweifeltes Suchen, wofür es keine Bezeichnung gab. Es lag weit zurück; es war mit ihm verknüpft und er besaß es doch nicht. Es war etwas mit ihm vorgegangen, irgendwo, irgendwann, und er wußte es nicht. Er tastete an sich herum, er fand sich selber kaum. Er sagte ›Caspar‹ zu sich selbst, aber das dort in der Ferne hörte nicht auf diesen Namen. So band sich die Erwartung an ein Äußeres; wenn die Uhr im andern Zimmer tönte, welch sonderbare Erwartung von Schlag zu Schlag! Als ob eine Mauer sich auflösen, zu Luft vergehen müßte. Die eben vergangene Nacht war voll ungreifbarer Vorgänge gewesen. Hatte es am Fenster gepocht? Nein. War jemand dagewesen, hatte gesprochen, gerufen, gedroht? Nein. Es war etwas geschehen, doch Caspar hatte nichts damit zu tun.
Unergründliche Sorge. Man mußte lernen, vielleicht wurde es dann klar. Lernen, wie alles bestand, lernen, was in der Nacht verborgen war, wenn man nicht lebte und dennoch spürte, das Unbekannte lernen, erhaschen, was so fern, wissen, was so dunkel war, die Menschen fragen lernen. Sein Eifer bei den Büchern wurde glühend. Er begann Ungeduld zu zeigen, wenn er von den fremden Besuchern sich immer wieder empfindlich gestört fand, denn jetzt kamen die Leute schon von auswärts, weil allenthalben im Land über Caspar Hauser geredet und geschrieben wurde. Auch Daumer konnte sich der Ansprüche, die an ihn gestellt wurden, kaum erwehren. Er war oft mißgelaunt und matt, und es gab Stunden, wo er bereute, Caspar der Welt preisgegeben zu haben.
Es gab Stunden, wo er, allein mit dem Jüngling, sich seiner besseren Würde erinnerte und diesem seltsam Leibeigenen, Seeleneigenen sich tiefer anschloß, als der anfängliche Zweck gewollt. Es gab eine Stunde, wo Daumer eines paradiesischen Bildes gewahr wurde: Caspar im Garten, auf der Bank sitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreise um ihn, Tauben picken vor seinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf seiner Schulter, die Hauskatze schnurrt an seinem Arm. In ihm ist die Menschheit frei von Sünde, sagte sich Daumer bei diesem Anblick, und was wäre sonst zu leisten, als einen solchen Zustand zu erhalten? Was wäre hier noch zu enträtseln, was zu verkünden?
Eines andern Tages erhob sich im Nachbargarten großer Lärm. Ein bissiger Hund hatte seine Kette zerrissen und raste, Schaum vor dem Maul, in wilden Sprüngen umher, überrannte ein Kind, schlug einem Knecht, der ihn verfolgte, die Zähne ins Fleisch und stürzte gegen den Zaun des Daumerschen Gartens. Eine Latte krachte unter dem Anprall, das Tier schlüpfte herüber und richtete die blutunterlaufenen Augen wild auf die kleine Gesellschaft, die unter der Linde saß: Daumer selbst, dessen Mutter, der Bürgermeister Binder und Caspar. Alle standen ängstlich auf, Binder erhob den Stock, das Tier machte einige Sätze, blieb aber auf einmal stehen, schnupperte, trabte auf Caspar zu, der bleich und stille saß, wedelte mit dem Schweif und leckte die herabhängende Hand des Jünglings. Mit einem lodernden ungewissen Blick sah es ihn an, voll Ergebenheit fast, eine Zärtlichkeit erwartend, und es war, als erbitte es Verzeihung. Denselben ungewissen und ergebenen Ausdruck hatte auch Caspar im Auge; ihn jammerte der Hund, er wußte nicht warum.
Man erzählte sich, daß Daumer nach diesem Auftritt geweint habe.
Zwei Tage später, an einem regnerischen Oktoberabend, war es, daß sich Daumer mit seiner Mutter und Caspar im Wohnzimmer befand. Anna war zu einer Unterhaltung in die Reunion gegangen, die alte Dame saß strickend im Lehnstuhl am offenen Fenster, denn trotz der vorgerückten Jahreszeit war die Luft warm und voll des feuchten Geruchs verwelkender Pflanzen. Da wurde an die Türe geklopft, und der Glasermeister brachte einen großen Wandspiegel, den die Magd in der vergangenen Woche zerbrochen hatte. Frau Daumer hieß ihn den Spiegel gegen die Mauer lehnen, das tat der Mann und entfernte sich wieder.
Kaum war er draußen, so fragte Daumer verwundert, warum sie den Spiegel nicht gleich an seinen Platz habe hängen lassen, man hätte dann doch die Arbeit für morgen erspart. Die alte Dame erwiderte mit verlegenem Lächeln, am Abend dürfe man keinen Spiegel aufhängen, das bedeute Unheil. Daumer besaß nicht genug Humor für derlei halbernste Grillen; er machte der Mutter Vorwürfe wegen ihres Aberglaubens, sie widersprach, und da geriet er in Zorn, das heißt er sprach mit seiner sanftesten Stimme zwischen die geschlossenen Zähne hindurch.
Caspar, der es nicht sehen konnte, wenn Daumers Gesicht unfreundlich wurde, legte den Arm um dessen Schulter und suchte ihn mit kindlicher Schmeichelei zu begütigen. Daumer schlug die Augen nieder, schwieg eine Weile und sagte dann, völlig beschämt: »Geh hin zur Mutter, Caspar, und sag ihr, daß ich im Unrecht bin.«
Caspar nickte; ohne recht zu überlegen, trat er vor die Frau hin und sagte: »Ich bin im Unrecht.«
Da lachte Daumer. »Nicht du, Caspar! Ich!« rief er und deutete auf seine Brust. »Wenn Caspar im Unrecht ist, darf er sagen: ich. Ich sage zu dir: du, aber du sagst doch zu dir: ich. Verstanden?«
Caspars Augen wurden groß und nachdenklich. Das Wörtchen Ich durchrann ihn plötzlich wie ein fremdartig schmeckender Trank. Es nahten sich ihm viele Hunderte von Gestalten, es nahte sich eine ganze Stadt voll Menschen, Männer, Frauen und Kinder, es nahten sich die Tiere auf dem Boden, die Vögel in der Luft, die Blumen, die Wolken, die Steine, ja die Sonne selbst, und alle miteinander sagten zu ihm: Du. Er aber antwortete mit zaghafter Stimme: Ich.
Er faßte sich mit flachen Händen an die Brust und ließ die Hände heruntergleiten bis über die Hüften: sein Leib, eine Wand zwischen Innen und Außen, eine Mauer zwischen Ich und Du!
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