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hatte. Auch von meinen traurigen Erlebnissen in den wenigen Tagen nach seinem Tode erzählte ich, die ich allein und verlassen in den Straßen San Franciscos verbracht hatte. Die gute Frau briet Speck und kochte noch mehr Eier, und ich aß alles, was sie mir vorsetzte, und dabei verbreitete ich mich mit immer größerer Beredsamkeit über den armen elternlosen Jungen. Immer mehr Einzelheiten erzählte ich. Ich wurde wirklich dieser arme Junge. Ich hätte selbst über mich weinen können. Ich weiß, daß meine Stimme zuweilen von Tränen erstickt war. Es war sehr wirkungsvoll.

      Tatsächlich: bei jedem neuen Zuge, mit dem ich das Bild ausstattete, gab mir die gute Seele mehr. Sie packte mir etwas zum Mitnehmen ein, darunter viele gekochte Eier und Pfeffer und einen großen Apfel. Sie versah mich mit drei Paar dicken rotwollenen Socken. Sie schenkte mir reine Taschentücher und andere Sachen, die ich vergessen habe Und unterdessen gab sie immer mehr zu essen, und ich stopfte immer mehr in mich hinein. Ich fraß wie ein Wilder, aber es war auch eine weite Strecke in einem blinden Güterwagen über die Sierra, die vor mir lag, und ich wußte nicht, wann und wo ich das nächste Mal etwas zu essen bekommen würde. Und die ganze Zeit über saß ihr eigener unglücklicher Junge, wie ein Totenkopf beim Feste, stumm und unbeweglich da und starrte mich von der andern Seite des Tisches an. Für ihn stellte ich wohl die Mystik, die Romantik, das Abenteuer dar – alles, was ihm bei seiner schwach zuckenden Lebensflamme versagt war. Und doch schoß es mir ein paarmal durch den Kopf, daß er mich vielleicht bis auf den Grund meiner verlogenen Seele durchschaut hätte.

      »Wohin gehen Sie jetzt?« fragte die gute Frau mich. »Nach Salt Lake City«, sagte ich. »Dort habe ich eine Schwester, eine verheiratete Schwester.« (Ich dachte nach, ob ich sie zur Mormonin machen sollte, ließ es dann aber bleiben.) »Ihr Mann ist Unternehmer.«

      Nun wußte ich gut, daß Unternehmer in der Regel viel Geld verdienen. Aber ich hatte es einmal gesagt. Ich mußte es nach Möglichkeit wieder gutmachen.

      »Sie würden mir das Reisegeld geschickt haben, wenn ich darum gebeten hätte«, erklärte ich, »aber sie haben Krankheit und geschäftliches Unglück gehabt. Sein Kompagnon hat ihn betrogen. Und da wollte ich nicht schreiben und um Geld bitten. Ich wußte, daß ich schon irgendwie hinkommen würde. Ich ließ sie in dem Glauben, daß ich genug hätte, um nach Salt Lake City zu kommen. Sie ist lieb und gut. Sie ist immer gut gegen mich gewesen. Ich denke, ich werde zu meinem Schwager in die Lehre kommen und später in sein Geschäft eintreten. Sie haben zwei Töchter. Die sind jünger als ich. Eine ist noch ganz klein.«

      Von allen verheirateten Schwestern, die ich über die Vereinigten Staaten ausgestreut habe, ist die Schwester in Salt Lake City sicher die beste. Sie steht ganz lebendig vor mir. Wenn ich von ihr erzähle, kann ich sie, ihre beiden kleinen Mädchen und ihren Mann, den Unternehmer, gleichsam vor mir sehen. Sie ist eine große, mütterliche Frau, die ein wenig stark zu werden beginnt, wie es oft der Fall bei gutmütigen Frauen ist, die gut kochen können und nie böse werden. Sie ist dunkel. Ihr Mann ist ein ruhiger, bequemer Mensch. Manchmal ist mir fast, als kennte ich ihn. Und wer weiß, ob ich ihm nicht eines Tages begegnen werde? Wenn der alte Seemann sich Billy Harpers erinnern konnte, so sehe ich nicht ein, warum ich nicht eines Tages dem Unternehmer begegnen sollte, der mit meiner Schwester verheiratet ist, die in Salt Lake City wohnt.

      Anderseits habe ich das sichere Gefühl, daß ich nie meinen vielen Eltern und Großeltern begegnen werde – denn sehen Sie, die habe ich unweigerlich ums Leben gebracht. Ein Herzleiden war meine Lieblingsmethode, um meine Mutter loszuwerden, aber in geeigneten Fällen habe ich sie auch an Schwindsucht, Lungenentzündung und Typhus sterben lassen. Allerdings: die Polizei in Winnipeg kann bezeugen, daß ich Großeltern habe, die in England wohnen; aber das ist lange her, und warum sollten sie nicht seither gestorben sein? Auf jeden Fall haben sie mir nie geschrieben. Ich hoffe, daß die Frau in Reno diese Zeilen lesen und mir meine Frechheit und Verlogenheit verzeihen wird. Ich entschuldige mich nicht, denn ich schäme mich nicht. Es waren Jugend, Lebensfreude und heiße Abenteuerlust, die mich an ihre Tür führten. Es tat mir gut. Es lehrte mich, wie herzensgut Menschen sein können. Ich hoffe auch, daß es ihr gut tat. Jedenfalls kann sie einmal tüchtig lachen, wenn sie den wirklichen Zusammenhang erfährt. Für sie war meine Geschichte »wahr«. Sie glaubte an mich und meine ganze Familie und war von Sorge erfüllt bei dem Gedanken an die beschwerliche Reise, die meiner wartete, ehe ich nach Salt Lake City kam. Diese Besorgnis hätte mich fast in Verlegenheit gebracht. Gerade als ich, den Arm voller Pakete mit Essen und die Taschen von wollenen Socken strotzend, aufbrach, fiel ihr ein Onkel, Neffe oder sonstiger Verwandter ein, der bei der Post angestellt war und noch dazu mit demselben Zuge, mit dem ich mich aus dem Staube machen wollte, ankommen sollte. Das war eine schöne Bescherung! Sie wollte mich zum Bahnhof begleiten, ihm meine Geschichte erzählen und ihn veranlassen, mich im Postwagen zu verstecken. So käme ich ohne Gefahr und Mühe nach Ogden. Von dort seien es nur noch ein paar Meilen bis Salt Lake City. Das Herz sank mir. Sie wurde ganz erregt, setzte ihren Plan in allen Einzelheiten auseinander, und unglücklich, wie ich war, mußte ich tun, als wäre ich entzückt und begeistert über die Lösung! Lösung! Ich hatte mich entschlossen, am Abend nach dem Westen zu reisen, und nun war ich gefangen und mußte nach dem Osten, ja, geradezu gefangen, und ich wagte nicht, ihr zu erzählen, daß alles Lüge und Erfindung gewesen war. Und während ich auszusehen versuchte, als sei ich entzückt, zerbrach ich mir den Kopf, um einen Ausweg zu finden. Aber es gab keinen. Sie wollte mich selbst zum Postwagen bringen, und dann sollte mich der Postbeamte, der mit ihr verwandt war, nach Ogden mitnehmen. Und dann war ich gezwungen, mich diese Hunderte von Meilen Wüste zwischen den beiden Stationen wieder zurückzuschleppen. Aber an diesem Abend stand mir das Glück bei. Gerade in dem Augenblick, als sie ihren Hut nehmen wollte, um mich zum Bahnhof zu begleiten, fiel ihr ein, daß sie sich geirrt hatte. Der Postbeamte, der mit ihr verwandt war, kam an diesem Abend gar nicht durch die Stadt. Sein Zugplan war verändert. Er kam erst in zwei Tagen. Ich war gerettet, denn selbstverständlich erlaubte meine schrankenlose Jugend mir nicht, zwei Tage zu warten. Ich versicherte ihr mit großem Optimismus daß ich schneller nach Salt Lake City käme, wenn ich gleich aufbräche, und verließ sie mit ihren Segenswünschen im Ohr.

      Aber die wollenen Socken waren wirklich großartig. Ich trug ein Paar von ihnen, als ich in derselben Nacht auf dem »blinden« Güterwagen mit dem Überlandzuge nach dem Westen fuhr.

      Blinde Passagiere

       Wenn er kein Pech hat, kann ein tüchtiger junger und gewandter Vagabund trotz aller Versuche des Zugpersonals, ihn zu ›schmeißen‹, an einem Zuge hängen, vorausgesetzt natürlich, daß es Nacht ist. Das ist unbedingt erforderlich. Wenn ein Vagabund dieser Art sich unter solchen Bedingungen zum Anhängen entschließt, so führt er es auch aus, wenn das Schicksal ihm nicht einen Streich spielt. Außer Mord hat das Zugpersonal keine gesetzliche Methode, ihn zu ›schmeißen‹. Daß das Zugpersonal nicht immer vor Mord zurückschreckt, ist ein allgemeiner Glaube in der Landstreicherwelt. Da ich jedoch in meiner Vagabundenzeit keine diesbezüglichen persönlichen Erfahrungen gemacht habe, kann ich nicht dafür einstehen. Aber ich habe folgendes über die ›schlechten‹ Linien gehört: Wenn ein Vagabund ›nach unten gegangen‹ ist und der Zug sich in Bewegung gesetzt hat, gibt es offenbar keine Möglichkeit mehr, ihn zu vertreiben, ehe der Zug hält. Der Landstreicher, der bequem, von den vier Rädern und dem ganzen Rahmen umgeben, auf dem Wagengestell liegt, hat das Personal hinters Licht geführt –oder er glaubt es wenigstens, bis er eines Tages mal auf einer ›schlechten‹ Linie fährt. Eine schlechte Linie ist in der Regel eine Eisenbahn, auf der vor kurzem einer oder mehrere Beamte von Vagabunden totgeschlagen worden sind. Gnade Gott dem Landstreicher, der auf einer solchen Linie unter dem Wagen gefaßt wird – denn gefaßt wird er, und wenn der Zug sechzig Meilen in der Stunde macht. Der Bremser nimmt einen Koppelungsbolzen und eine Signalschnur und geht auf die Plattform vor dem Wagen, unter dem der Vagabund hängt. Dann bindet er den Bolzen an die Schnur, läßt den Apparat zwischen die Plattformen fallen und wirft die Leine aus. Der Bolzen schlägt auf die Schwellen zwischen den Schienen, springt zurück gegen den Wagenboden und schlägt dann wieder gegen die Schwellen. Der Bremser läßt die Schnur hin und zurück, bald nach der einen, bald nach der andern Seite laufen, läßt ein wenig nach, holt wieder ein, so daß seine Waffe Gelegenheit zu jeder Art Stoß und Rückschlag erhält. Jeder Schlag des tanzenden Bolzens kann den Tod bringen, und bei

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