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Seebären mit den goldenen Ringen in den Ohren. Wer war er? Was war er? Das mußte ich ergründen, ehe er mich ergründete. Ich mußte eine neue Richtung einschlagen, sonst gaben mir diese bösen Polizisten die Richtung an, in eine Zelle, vor Gericht, in andre Zellen. Wenn er mich fragte, ehe ich wußte, wieviel er wußte, so war ich verloren.

      Aber glauben Sie, daß ich etwas von der verzweifelten Lage, in der ich mich befand, vor diesen wachsamen Hütern des öffentlichen Wohles von Winnipeg verriet? Nicht die Spur. Ich begegnete dem alten Seemann froh und lächelnd, mit all der gutgespielten Erleichterung über die Befreiung aus einer Gefahr, die ein Ertrinkender an den Tag legen mag, wenn er in seinem letzten Verzweiflungskampf einen Retter findet. Hier war ein Mann, der mich verstand, und der den Bluthunden, die mich nicht verstanden, meine wahre Geschichte bestätigen würde, das war die Rolle, die ich zu spielen hatte. Ich bemächtigte mich seiner, bombardierte ihn mit Fragen über ihn selber. In Gegenwart meiner Richter wollte ich den Charakter meines Retters erforschen, ehe er mich rettete.

      Er war ein freundlicher Seemann – eine »leichte Beute«. Die Polizisten wurden ungeduldig, als ich ihn so ausfragte. Zuletzt sagte einer von ihnen, ich sollte den Mund halten. Ich hielt den Mund; aber während ich den Mund hielt, dichtete ich eifrig, arbeitete fieberhaft an dem Text für den nächsten Akt. Ich hatte genug erfahren, um vorläufig mit ihm fertig zu werden. Er war Franzose. Er war immer auf französischen Kauffahrteischiffen gefahren, mit Ausnahme einer einzigen Reise auf einem englischen Segler. Und schließlich – welches Glück! – war er seit zwanzig Jahren nicht mehr auf See gewesen.

      Der Polizist bat ihn, mich nachdrücklich zu verhören.

      »Du hast Rangoon angelaufen?« fragte er.

      Ich nickte. »Wir mußten den dritten Steuermann an Land schicken. Fieber.«

      Hätte er mich gefragt, welche Art Fieber, so würde ich »gastrisches« gesagt haben, obgleich ich keine Ahnung hatte, was gastrisches Fieber war. Aber das fragte er nicht. Statt dessen war seine nächste Frage:

      »Und wie ist Rangoon?«

      »Wie es sein soll. Es regnete ziemlich stark, als wir da waren.«

      »Hast du Landurlaub gehabt?«

      »Gewiß«, antwortete ich. »Drei von uns Schiffsjungen waren zusammen in der Stadt.«

      »Erinnerst du dich des großen Tempels?«

      »Welches Tempels?« wich ich aus.

      »Des großen, oben auf der Treppe.«

      Ich wußte, hätte ich mich des Tempels erinnert, so wäre ich genötigt worden, ihn zu beschreiben. Ein gähnender Schlund öffnete sich vor mir.

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Du kannst ihn vom Hafen aus sehen«, sagte er. »Man braucht nicht einmal Landurlaub, um ihn zu sehen.«

      Nie in meinem Leben habe ich mich so über einen Tempel geärgert. Aber mit dem Tempel in Rangoon wurde ich doch fertig.

      »Er ist nicht vom Hafen aus zu sehen«, widersprach ich. »Er ist auch weder von der Stadt noch oben von der Treppe aus zu sehen, weil« – ich machte eine Pause, um die Wirkung zu steigern – »weil gar kein Tempel da ist.«

      »Ich habe ihn aber mit eigenen Augen gesehen!« rief er. – »Wann war das?« forschte ich.

      »Einundsiebzig.«

      »Aber der ist doch bei dem großen Erdbeben achtzehnhundertundsiebenundachtzig zerstört«, erklärte ich. »Er war sehr alt.«

      Es trat eine Pause ein. Er versuchte eifrig, sich das Bild des schönen Tempels am Meere, den er in seiner Jugend gesehen hatte, vor seine alten Augen zurückzurufen.

      »Die Treppe ist noch da«, sagte ich, gleichsam um ihm zu helfen. »Man kann sie vom Hafen aus sehen. Und erinnern Sie sich der kleinen Insel rechts von der Hafeneinfahrt?« Ich denke mir, daß dort irgendwo eine Insel gewesen war (ich war entschlossen, sie gegebenenfalls auf die linke Seite zu versetzen), denn er nickte. »Die ist weg«, sagte ich.

      »Sieben Faden Wasser, wo sie lag.«

      Ich konnte einen Augenblick Atem schöpfen. Während er darüber nachgrübelte, wie die Zeit alles verändert, bereitete ich mich auf den Rest meiner Geschichte vor.

       »Kennen Sie das Zollgebäude in Bombay?« Er kannte es.

      »Bis auf den Grund abgebrannt«, teilte ich ihm mit.

      »Kennst du Jim Wan?« drang er auf mich ein.

      »Tot«, sagte ich; aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer Jim Wan war.

      Jetzt befand ich mich wieder auf Glatteis.

      »Kennen Sie Billy Harper in Schanghai?« fragte ich meinerseits schnell.

      Der alte Seemann dachte angestrengt nach, um sich Billy Harpers zu erinnern, aber diese Ausgeburt meiner Phantasie war zuviel für sein geschwächtes Gedächtnis.

      »Selbstverständlich kennen Sie Billy Harper«, sagte ich eindringlich. »Den kennt doch jedermann. Er ist seit vierzig Jahren dort. Na ja, und er ist immer noch da, das ist alles, was ich darüber sagen kann.« Und da geschah das Wunderbare. Der Seemann erinnerte sich Billy Harpers. Vielleicht gab es einen Billy Harper, und vielleicht hatte er vierzig Jahre in Schanghai gelebt und war noch da, aber ich hörte jedenfalls zum erstenmal von ihm.

      Eine gute halbe Stunde sprachen der Seemann und ich weiter auf diese Art. Schließlich sagte er zu den Polizisten, ich wäre der, für den ich mich ausgäbe, und nachdem ich freies Logis für die Nacht und Frühstück erhalten hatte, wurde ich in Freiheit gesetzt und konnte nach San Francisco zu meiner verheirateten Schwester fahren.

       Aber nun zurück zu der Frau in Reno, die mir in der Dämmerung die Tür öffnete. Sobald ich den ersten Schimmer ihres freundlichen Gesichtes sah, war ich mir gleich klar, wie ich mich zu verhalten hatte. Ich wurde ein lieber, unschuldiger, unglücklicher Junge. Ich konnte nichts herausbringen. Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Noch nie hatte ich einen Menschen um Essen gebeten. Ich, der ich das Fechten als eine angenehme, lustige Beschäftigung betrachtete, machte aus mir einen braven Bürgerknaben, mit der ganzen Moral des Bürgerstandes belastet. Und ich versuchte, mein Gesicht in müde und traurige Falten zu legen, wie es sich für einen treuherzigen, hungrigen Burschen schickte, der nicht gewohnt war, zu betteln.

      »Sie sind hungrig, armer junger Mann«, sagte sie. Ich hatte sie dazu gebracht, das erste Wort zu sprechen.

      Ich nickte und schluckte.

      »Es ist das erstemal, daß ich je ... gebettelt habe«, sagte ich mit zitternder Stimme.

      »Kommen Sie herein!« Die Tür wurde weit geöffnet. »Wir haben selbst gerade fertig gegessen, aber es ist noch Feuer auf dem Herde, und ich kann Ihnen schnell etwas machen.«

      Als ich ins Licht trat, betrachtete sie mich forschend. »Ich wünschte, mein Junge wäre so gesund und stark wie Sie«, sagte sie. »Aber er ist nicht stark. Manchmal fällt er hin. Gerade heute nachmittag ist er wieder hingefallen und hat sich bös gestoßen, der arme Junge!«

      In ihrer Stimme lag eine unsagbare Mütterlichkeit und Milde, und ich sehnte mich, teil daran zu haben. Ich sah ihn an. Er saß dünn und blaß, mit verbundenem Kopfe an der andern Seite des Tisches. Er regte sich nicht, aber seine Augen, die im Schein der Lampe schimmerten, ruhten anhaltend und verwundert auf mir.

      »Gerade wie mein armer Vater«, sagte ich. »Er hatte die Fallsucht. Eine Art Schwindel. Die Ärzte waren ratlos. Sie konnten nicht herausbekommen, was mit ihm los war.«

      »Ist er tot?« fragte die Frau sanft und legte mir ein halbes Dutzend weichgekochte Eier vor.

      »Tot«, schluchzte ich. »Vor vierzehn Tagen. Ich war bei ihm, als es geschah. Wir wollten über eine Straße gehen. Auf einmal fiel er hin. Er kam nicht wieder zum Bewußtsein. Man trug ihn in eine Apotheke, und dort starb er.«

      Und so verbreitete ich mich über die mitleiderregende Geschichte meines Vaters – wie er

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