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Immer führte eine schmale, sehr steile und sehr sauber gehaltene Treppe hinauf zu den Stuben, die gleichfalls ordentlich gehalten und bescheiden möbliert waren. Schmuck und Überfluß bestand meistens nur in einer Vase mit Tulpen auf dem Tisch und in einer gerahmten Photographie der Königin an der Wand.

      Nachdem Benjamin fünf oder sechs Zimmer betrachtet und mit fünf oder sechs Hausbesitzerinnen verhandelt hatte, entschloß er sich für irgendeinen Raum, der ihm nicht besser und nicht schlechter schien als die übrigen. Er fand es angenehm und passend, in der Mozart-Straat zu logieren, die übrigens im stillsten, freundlichsten Viertel der Stadt gelegen war. Man befand sich an der südlichen Peripherie und hatte keinen weiten Weg, wenn man ins Freie wollte. Um die Mozart-Straat herum gab es lauter hübsche, vielversprechende Straßennamen: Richard-Wagner- und Beethoven-Straat, Apollo-Laan, Euterpe-Straat, Clio-Straat, Brahms-, Chopin-, Schubert-, Händel-Straat oder Straßen, die nach Rubens, Velázquez, van Gogh, van Eyck, Tizian, Murillo, Michelangelo, Holbein, Tintoretto hießen. Von allen diesen schönen, ruhmreichen Namen – so meinte der Professor aus Bonn am Rhein – müßte doch ein wohltätiger Einfluß auf die Menschen ausgehen, die hier wohnten.

      Er versuchte, sich sein Zimmer mit Büchern und Photographien möglichst wohnlich zu machen. Aber er brachte es niemals fertig, sich in diesem Raum zu Hause zu fühlen. Jeden Abend fürchtete er sich vor dem Heimkommen, welches eigentlich gar kein »Heimkommen« war; deshalb hielt er sich regelmäßiger und länger in Lokalen auf, als dies früher seine Art gewesen.

      Besonders quälte es ihn, daß es in seiner Stube immer nach den Mahlzeiten roch, die er hier einsam verspeiste. Es nützte nichts, die Fenster aufzureißen; der fatale Duft nach Saucen und Suppen schien zäh in den dicken Plüschportièren, im abgeschabten Teppich zu nisten. Ja, er haßte diesen Geruch, und er verabscheute auch den anderen, mit dem das dämmrig dunkle Treppenhaus ihn empfing und in dem die Aromas von Staub und Speisen, von alten Stoffen und schwitzenden Mägden sich unerfreulich miteinander vermischten.

      Übrigens kam der Professor, im Lauf der Wochen und Monate, dem Haus in der Mozart-Straat allmählich hinter allerlei unheimliche Eigenschaften. Ziemlich lange hatte er nicht gewußt, was es mit dem Brummen für eine Bewandtnis hatte, dessen gedämpfter Laut in seiner Stube fast ununterbrochen zu hören war und das sich verstärkte, wenn man die steile Treppe hinunterging und an einer bestimmten Türe des ersten Stockwerkes vorüberkam. Ohne Frage, hinter dieser Türe hauste ein Brummer; irgend jemand, der auf eine dumpf-melodische Art Tag und Nacht vor sich hin brummte – es war ziemlich schaurig, diesem trostlos monotonen Geräusch zu lauschen. ›Wer mag der Brummer sein?‹ mußte der einsame Professor immer wieder mit einer mechanischen, lustlosen Neugierde denken. Als er der geheimnisvollen Person des Brummers dann von Angesicht zu Angesicht begegnet war, begriff er nicht mehr, wie er jemals erpicht auf ein so makabres Zusammentreffen hatte sein können. Beinah, um ein Haar, wäre Benjamin mit dem Brummer im dämmrigen Korridor zusammengestoßen. Dabei erwies sich, daß es sich um einen alten, mächtig großen, gebückt gehenden Mann mit schlohweißem Haar handelte. Er schwankte dem bestürzten Professor wie ein Betrunkener entgegen. Mit den langen Armen ruderte er, als hätte er gegen Widerstände zu kämpfen und bewegte sich nicht durch Luft, sondern durch eine zähflüssige Materie. Er tastete mit den gespreizten Händen ins Leere; wahrscheinlich war er blind, aber selbst Blinde laufen nicht auf so bedenkliche Art im Zickzack, und Blinde taumeln nicht, wie dieser erschreckende Alte es tat. Der da war geschlagen mit einer gräßlichen Krankheit, er hatte nicht nur den Verstand verloren, sondern auch jede Balance und die simple Fähigkeit, geradeaus zu gehen: ohne Frage, er war aufs schlimmste beschädigt im Zentrum des Organismus, sein Rückenmark war lädiert. Mit diesem Unglückseligen, der in eine geschlossene Anstalt gehörte, hauste Professor Abel also unter einem Dach, schon seit Wochen – und dem verzweifelten Brummkonzert, das der heillos von Gott Geschlagene morgens, mittags und mitternachts veranstaltete, mußte man lauschen, während man versuchte, die verwirrten und gequälten Gedanken auf geistige und reine Gegenstände zu konzentrieren. ›Das ist ja schaurig‹, dachte Benjamin, und er tat entsetzt einen Sprung beiseite; denn der Brummer war im Begriff, auf ihn zuzuschwanken. Die getrübten Augen des Kranken hatten wohl die Gestalt des Professors, deren vage Umrisse sie erkennen mochten, als nächstes Ziel visiert.

      Der Brummer kam näher, lallend, singend, mit den krampfig gespreizten Händen fuchtelnd – und das ärgste war, daß sein taumelnder Zickzacklauf auf schlimme Art einen lustigen Charakter hatte; er erinnerte an gewisse Sprünge, die Kinder manchmal auf der Straße tun, wobei sie ganz bestimmten Spielregeln folgen, die den Erwachsenen mysteriös und unbegreiflich bleiben. Übrigens hatte auch die dumpfe Melodie, die der Schwankende hören ließ, einen munteren, fast hopsenden Rhythmus. Es war deutlich, der Unglückselige fühlte sich relativ wohl; in seinem umnachteten Inneren war ihm nach Tanz und Gedudel und schauerlichem Hopsasa zumute. Er war seiner Pflegerin ausgerissen und wollte nun selbständig schäkern und ein wenig übermütig sein. ›Gott steh mir bei‹, dachte Benjamin, der sich vor Grauen nicht mehr bewegen konnte und erstarrt, so wie in einem bösen Traume stand. ›Gott sei mir gnädig, noch ein paar Sekunden, und er wird mich erreicht haben, er wird mich an den Schultern packen – ich sehe es ihm doch an, was er im Schilde führt: er will sich ein wenig mit mir im Kreise drehen, ein Morgentänzchen, hier auf dem Treppenabsatz, das ist es, wonach der Sinn dem armen Unhold steht …‹

      Da war der im Nervenzentrum schwer lädierte Greis nah herangekommen an den erstarrten Professor. Benjamin spürte schon den Atem des Kranken an der Wange; das blinde, große, öde Antlitz des Brummers stand dicht vor seinem Gesicht, gleich würde das Schreckenstänzchen beginnen. ›Ich überlebe es nicht‹, dachte Abel. ›Ich falle hin und bin tot, wenn ich mit diesem da tanzen muß‹: da kam endlich Rettung in Gestalt der Pflegerin – einer rüstigen Person mit Zwicker auf der Nase, hoch aufgerichtet, in ihrer grauen Schwesterntracht: warum fand sie sich jetzt erst ein? – und sie ließ eine gebieterische Stimme hören: »Kom dadelijk hier, mijnheer van Soderbloem!«

      Damit hatte das arge Vorkommnis im Treppenhaus des »Huize Mozart« sein Ende gefunden. Der Greis wandte sich gehorsam, hörte für ein paar Augenblicke zu brummen und zu fuchteln auf, und nun konnte er sogar die wenigen Schritte, die ihn von seiner Beschützerin und Meisterin trennten, ohne viel Taumeln zurücklegen. Die Pflegerin schleuderte, während sie ihren tiefgebeugten Patienten hinwegführte, Professor Abel einen mißbilligenden Blick über die Schulter zu, als hätte er sich unpassende Spiele und Scherze mit einem armen Kranken erlaubt. Benjamin schwor sich, von nun ab jede Begegnung mit dem Brummer peinlichst zu vermeiden und stets, ehe er die Treppe hinunterging, sorgfältig zu lauschen, ob auch keine tappenden Schritte auf Stufen oder Korridor zu hören seien.

      Je länger er über den traurigen und unheimlichen Fall nachdachte, als desto auffallender, unstatthafter und tadelnswerter erschien es ihm, daß man ein solches Menschenwrack in einer Pension, Tür an Tür mit Gesunden, brummen ließ, anstatt es einer geschlossenen Anstalt zu übergeben. Tagelang nahm er sich vor, mit der Dame des Hauses in diesem Sinne zu sprechen; aber am Ende kam er zu dem Entschluß: ›Nein, ich habe wohl kaum das Recht, über irgend etwas Klage zu führen, mich aufzuspielen als den anspruchsvollen großen Herrn und der Inhaberin eines holländischen Hauses mit Beschwerden lästig zu fallen. Ich bin ein Fremder, hier nur eben geduldet und übrigens nicht vertraut mit den Sitten des Landes, das mir Obdach gewährt. Die anderen Mieter im »Huize Mozart« scheinen an der Existenz des Brummers nicht Anstoß zu nehmen; ein armer Emigrant sollte nicht empfindlicher sein als niederländische Herrschaften, die vielleicht sehr fein und wohlhabend sind …‹

      Immerhin konnte Abel sich nicht enthalten, mit dem jungen Mädchen, das sein Zimmer aufräumte und ihm die Mahlzeiten brachte, gelegentlich über den beunruhigenden Gast im ersten Stockwerk zu sprechen. Das junge Mädchen erklärte ihm, daß Herr van Soderbloem ziemlich reich sei und schon seit Jahren die teuersten Stuben der Pension innehabe. »Er ist ganz ungefährlich«, erfuhr Benjamin. »Wie ein Kind läßt er sich von seiner Pflegerin spazierenführen und füttern. Man würde von seiner Existenz überhaupt nichts bemerken, wenn er nicht eben die Angewohnheit hätte, zu brummen und manchmal, wenn die Laune ihn ankam, ein paar drollig tappende Tanzschritte zu tun. – Mich hat er auch schon einmal um die Taille gefaßt«, erklärte kichernd das Mädchen.

      Sie hieß Stinchen und war ein niedliches Ding; blutjung, noch keine neunzehn Jahre

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