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in der Nase, reizte die Schleimhäute und ließ die Augen feucht werden. Gleichzeitig spürte er einen bitteren Geschmack, hinten am Gaumen und in der Kehle. ›Wahrscheinlich ist das Ganze ein Schwindel‹, dachte er ärgerlich. ›Ich bin irgendeinem kleinen Halunken hereingefallen, und meine zweihundert Francs bin ich los …‹

      Er setzte sich aufs Bett und wartete. Würde sein Zustand sich ändern? ›Ich verlange ja gar kein Glück‹, dachte er, ›ich beanspruche keine plötzlichen Wonnen. Was ich möchte, ist nur ein wenig Erleichterung. Daß diese Last weg wäre von meiner Brust! Daß diese fürchterliche Spannung sich löste! Daß ich ruhig würde! Mehr erhoffe ich nicht …‹

      Und während er es dachte, war er schon ruhig geworden. Das Wohlgefühl, das sich einstellte, war unbeschreiblich. Es enthielt Frieden und eine schöne Erregung zugleich. Es war Entrückung und gesteigertes Leben. Übrigens brachte es auch etwas physische Übelkeit und leichten Brechreiz mit sich. Aber das störte kaum. Die Annehmlichkeit war zu groß. ›Welch magische Pulversubstanz hat dieser Pépé mir da für zweihundert Francs kredenzt!‹ dachte Martin benommen. ›So wohlig war mir nicht mehr zumute – seit wann? Seit mir der Onkel Doktor Injektionen gegen Nierenkolik verabreichte. Seit damals habe ich soviel Wohligkeit nicht gekannt … Jetzt möchte ich arbeiten … Ich habe unendlich zahlreiche und sehr gute Gedanken im Kopf … Ich werde mich nicht an den Tisch setzen, davon würde mir schlecht. Ich hole mir den Schreibblock ans Bett …‹

      Nicht umsonst, nicht zufälliger- oder ungerechtfertigterweise haben die Deutschen den Ruf, das gründlichste Volk der Erde zu sein. Ihre Emigration dauerte erst ein paar Monate lang, sie hatte gerade begonnen; es ließ sich noch gar nicht absehen, welchen Umfang sie annehmen, welche Kreise und Typen sie in sich einbeziehen würde – da gingen exilierte deutsche Intellektuelle schon daran, sich über die »Soziologie der Emigration« zu unterhalten. David Deutsch – Kulturkritiker und Nationalökonom – erklärte, daß er eine größere Arbeit über diesen Gegenstand vorbereite. »Ein sehr faszinierendes Thema«, behauptete er. »Faszinierend gerade deshalb, weil die Menschengruppe, um die es sich hier handelt, durchaus kein einheitliches Gebilde, keine Gruppe also im eigentlichen Sinn des Wortes darstellt; vielmehr ein höchst zufälliges Gemisch von Individuen, denen durch sehr verschiedenartige Umstände ein ähnliches Schicksal aufgezwungen wurde.«

      Man saß in dem kleinen Lokal, das die Schwalbe in einer engen Nebenstraße des Boulevard Montparnasse, ein paar Schritte vom »Café du Dôme« und der »Coupole«, eröffnet hatte. Es gab hier recht gutes Bier; billige Mahlzeiten deutschen oder österreichischen Stils; man traf alte Freunde, machte Bekanntschaften, besprach die politischen Neuigkeiten und bekam Kredit bis zu einer gewissen Grenze, die durchaus willkürlich und je nach ihren unberechenbaren Sympathien von der Schwalben-Wirtin bestimmt wurde. Die Stammgäste waren fast sämtlich Deutsche. Zuweilen brachten sie ihre französischen Freunde mit; Marion etwa erschien mit Marcel Poiret, oder Martin führte Kikjou ein.

      »Ich glaube kaum, daß es jemals eine so uneinheitliche Emigration gegeben hat wie unsere«, sagte David und machte beim Sprechen seine schiefen, sinnlosen kleinen Verbeugungen vor Dora Proskauer, die ihm aufmerksam lauschte. »In fast allen anderen historischen Fällen war die Zusammensetzung der Exilierten bestimmt durch soziale, nationale oder gesinnungsmäßige Charakteristika: eben jene psychologischen oder ökonomischen Eigenschaften, die ihren Trägern den Aufenthalt in der Heimat unter gewissen politischen Umständen unmöglich machten. Was uns betrifft, so ist ein solches einigendes Moment, ein solcher Generalnenner kaum festzustellen.«

      David Deutsch war sehr animiert. Auf seinem geisterhaft bleichen, wächsernen Gesicht wurden zarte rosa Farbtöne sichtbar; mit den dünnen, nicht eigentlich hageren, aber wie aus einer gewichtslosen, unirdischen Materie gebildeten Fingern fuhr er sich durch das blauschwarze, dichte, starre, negroid gekrauste Haar: das einzige an ihm, was von einer soliden, haltbaren, sturm- und wetterfesten Substanz zu sein schien.

      »Hallo!« machte er plötzlich schreckhaft – so, als hätte sich jemand einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt: ihn etwa mit einem kalten Metall am Nacken gekitzelt. »Hallo! Nun habe ich aber etwas Riskantes gesagt, etwas Schlimmes!« Er drohte sich selbst mit dem Zeigefinger, zugleich erheitert und schaurig berührt von der Gewagtheit seiner eigenen Bemerkung. »Ei weh!« sagte er noch und wiegte schelmisch-klagend den Oberkörper, während Fräulein Proskauer ihn ernsthaft und interessiert beobachtete. »Wenn das stimmte, daß bei uns ein ›einigendes Moment‹ nicht vorhanden ist; wenn das Wort für Wort wahr wäre, was ich gerade unbedacht genug war anzudeuten – dann hätte der Hitler ein verdammt leichtes Spiel. Natürlich gibt es etwas, was wir alle gemeinsam haben – und wäre es zunächst nur der Haß.« Er war nun wieder ganz ernst geworden. In der Geisterblässe seines Gesichtes hatten die dunklen, kurzsichtigen Augen einen wilden Glanz. »Und sei es zunächst nur der Haß!« wiederholte er drohend, den schmalen Oberkörper schief nach vorne gereckt. »Beim Haß aber bleibt es nicht, und übrigens hat es mit ihm nicht angefangen.« Er sprach jetzt in einem heftigen Flüsterton; gleichsam raunend, beschwörend. »Angefangen hat es mit der Liebe. Wir haben alle unser Land geliebt – wie hätten wir sonst so fürchterlich betroffen sein können von seiner Heimsuchung, seiner Entwürdigung, seinem Sturz? – Nur haben wir es leider auf gar zuviel verschiedene Arten geliebt; hier liegt die Wurzel zu großem Unglück. Der eine verstand die Liebesform des anderen nicht; er beschimpfte sie wohl gar als Verräterei. So erklärt sich, daß die Dinge treiben konnten, wohin sie trieben.«

      Er atmete schwer und schien recht erschöpft. Die Hand hatte er an die Stirne gepreßt, als wäre dort eine Wunde und er müßte das rinnende Blut aufhalten. – »Wir werden lernen müssen, alle gemeinsam eine Zukunft zu lieben«, sprach er schwer atmend, beinah keuchend weiter. »Das wird zunächst nicht leicht für uns sein; aber die Feinde jeder besseren Zukunft, die deutschen Herren, erleichtern es uns.« Er versuchte noch einmal, zu lächeln. Es mißlang; die imaginäre Wunde auf der Stirne tat ihm wohl gar zu weh. »Sie erleichtern es uns: indem sie uns nämlich das exakte Gegenteil zeigen von dem, was wir alle lieben wollen. Der Haß, durch den wir nun hindurch müssen, ist eine gute Schule. Haben wir sie erst hinter uns, so werden wir kundiger geworden sein – in der Liebe …«

      Wußte er noch, daß die häßliche Proskauer ihm zuhörte? Es war deutlich, daß er monologisierte; daß er tausendmal Gedachtes, Überlegtes, Durchlittenes im raunenden Flüsterton aussprechen mußte, gleichgültig, in wessen Gegenwart. Freilich gab es niemanden – bei der »Schwalbe« nicht und nirgendwo sonst – der es so verstand wie die Proskauer, sich selber auszuschalten, gleichsam unsichtbar zu werden, nur Gehör zu sein. Die kleinen, runden, goldbraunen Augen, deren kluger Blick behindert schien durch die ungeheure, gebogene Nase, hingen andächtig und gerührt an den beweglichen Lippen des David Deutsch.

      Der besann sich plötzlich, daß er nicht alleine war und wovon er hatte sprechen wollen. Einem Dozenten ähnlich, der vom Thema seines Vortrages abgeschweift ist und nun das Auditorium um Verzeihung bittet, sagte er, die rechte Schulter schief nach vorne drehend (wobei er endlich die Hand von der Stirne nahm – man war erstaunt, sie blank und unversehrt zu finden): »Aber wohin lasse ich mich entführen? Warum unterbrechen Sie mich nicht, liebe Dora?«

      »Die Abweichung hat sich gelohnt«, konstatierte die Proskauer, ruhig und sachlich; ihre Worte kamen unter der enormen Nase hervor wie ein gleichmäßig plätscherndes, nüchtern freundliches Bächlein unter einer jäh vorspringenden Felszacke.

      »Das Problem unserer Emigration« – David Deutsch sprach nun in einem Ton und mit einer Mimik, als wendete er sich an eine größere Versammlung – was wiederum nur eine andere Form des Monologisierens war – »das Problem unserer Emigration wird kompliziert, fast möchte ich sagen: korrumpiert, durch den Umstand, daß ein erheblicher Teil unserer Leidensgenossen nicht aus Überzeugung, sondern nur durch Zwang ins Exil gekommen ist. Ich rede von den Juden.«

      Er machte eine effektvolle kleine Pause. Die Proskauer nickte ihm aufmunternd zu. David rückte nervös die Schulter, räusperte sich und fuhr fort: »Wie viele deutsche Juden würden sich mit dem infernalischen Phänomen ›Nationalsozialismus‹ herzlich gern abfinden – wenn der Nationalsozialismus nicht antisemitisch wäre?« Der Redner stellte die Frage mit unheilverkündender Strenge. »Die totale Barbarei, die der Nationalsozialismus bedeutet – und von welcher der

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