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Ein Lebenstraum. Julie Burow
Читать онлайн.Название Ein Lebenstraum
Год выпуска 0
isbn 9783754177402
Автор произведения Julie Burow
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»O dass ich ein Vogel wäre, der unterducken kann im warmen Nest bei seinem Mütterchen, dass ich ein Reh wäre und im Walde meine Heimat hätte«, seufzte das verlassene Mädchen, während von neuem ein Strom von Tränen über ihre Wangen floss. Sie hatte kein Mäntelchen, keine warme Hülle bei sich, die Nacht begann kühl zu werden und Frostschauer gesellten sich zu dem Gefühl des Kummers, der Verlassenheit und des Grauens. Das blasse Mondlicht webte seltsame gespensterhafte Schatten auf dem Boden, die Baumstämme schienen mächtige Riesen, die Wurzeln wanden sich am Boden wie Molche und Schlangen, der leiseste Laut, den der Wind in den Zweigen erregte, ließ sie zusammenschrecken, und die Stille erfüllte sie mit Grausen. Seltsame Bilder aus der Kinderzeit traten vor ihre Seele, Märchen-Bilder von Wurzelmännchen und Moosfräulein.
Im Walde wohnten all’ diese Geister, die den verlassenen Menschen bald freundlich, bald feindlich in ihren Revier aufnehmen. War es doch, als ob sie in Leben und Wirklichkeit ihr winkend an ihr vorüberhuschten, und plötzlich trat ein Kindermärchen lebhaft bis zur Sinnentäuschung vor ihre Erinnerung, das Märchen von dem verwaisten Mädchen, das aus dem Stamm der Weide sich alles holt, dessen sie bedarf. Leonore musste mitten in ihrer Angst und unter ihren Tränen lächeln in innerer Freude; ach die Mutter hatte ihr das oft und oft erzählt, als sie schon kränklich war und ihr dann gesagt:
»Glaub’ mir, mein Kind, Mutterliebe dauert stets übers Grab hinaus, und der Geist einer Mutter umschwebt die Waise immer und überall. Vergiss dies nie, wenn Du in künftigen Tagen leidest, denk’ an die Mutter, rufe sie, wenn Du verlassen bist, sie wird bei Dir sein.«
»Mutter, meine, meine Mutter«, sagte sie, die gefalteten Hände zum Himmel emporhebend, »ich bin verlassen, bin verraten von denen, die mir Gutes tun wollten, ich bin allein, allein in der Welt, allein mit der Erinnerung an Dich –«
»Mit Gott!« tönte es in ihr, so deutlich und vernehmbar, dass Leonore sich umschaute, weil ihr war, als hätte eine milde, sanfte Stimme neben ihr die Worte geflüstert.
»Mit Gott«, sagte sie noch einmal laut, »Mutter, meine Mutter, der Gedanke an den Allgütigen, Allgegenwärtigen, Allmächtigen kam von Dir.«
Sie hatte lange, lange nicht gebetet, obgleich sie noch nie vergessen, ihr Morgen- und Abendgebet zu sprechen.
Bei der Trennung vom Vater hatte sie zuletzt das Gebet empfunden; denn ein gedachtes Gebet ist keines, wie ein Notenblatt keine Musik ist. Erst wenn alle Fibern des Herzens erbeben, in dem Gefühl, dass die höchste Liebe uns nahe ist, wenn je der Nerv sich spannt, beugt oder erhebt, im Schauer vor der Gegenwart der höchsten Macht, erst wenn unsere eigenen Hoffnungen, Wünsche, Überzeugungen zerschmelzen wie der Schnee am Sonnenlicht vor dem Hauche der uns nahen höchsten Weisheit: erst dann haben wir gebetet, – und Leonore betete! Nacht und Einsamkeit durchleuchteten das Licht, das aus dem Gebet strömt, das Licht Gottes! Die Verzweiflung fiel von ihrer Seele, der Zorn erstarb, das Grauen zerfloss.
Im wilden Walde von der Mitternacht umhüllt, von Frost durchschauert, fand das junge Mädchen sich kräftig, gefasst und hoffnungsvoll. Als die höchste Erhebung des Gebets allmählich andern, geringeren Gefühlen Platz machte, als der Gedanke an ihre seltsame Lage wieder vor ihre Seele trat, hatte er alles Grässliche verloren.
»Der Gatte meiner Tante ist ein Nichtswürdiger!« sagte sie sich, »und ich bin jetzt bei Nacht allein im Forst, aber ich kenne ihn und kann mich nun vor ihm hüten, und die weiteste Ausdehnung dieses Waldes ist, wie man mir gesagt hat, wenig über eine Meile. Ich muss, wenn ich nur irgendeinen Pfad finden kann, durchaus nach wenigen Stunden zu Menschen kommen. Wölfe gibt es hier höchstens im tiefen Winter, und das schlimmste Tier, das mir begegnen kann, ist eine Kröte. Allnächtlich durchstreifen Forstbeamte die einzelnen Waldreviere, und begegnete ich selbst einem Holz- oder Wilddiebe, er würde eher Mitleid mit mir haben, als mich beleidigen. Ich will ein Weilchen zu ruhen versuchen, der Tag muss bald anbrechen, und will dem Morgenrot entgegengehen, sobald ich’s durch die Bäume schimmern sehe.«
Sie zog nun ihr Kleid über den Kopf, stützte diesen an den Baum stamm, sprach leise ihr Abendgebet:
»Müde bin ich, geh’ zur Ruh
Schließe meine Augen zu,
Vater, lass’ die Engelein
Liebend meine Wächter sein«,
und schloss die Augen, in denen noch vor kurzem Verzweiflungstränen gebrannt hatten.
»Kommen wohl Engel, die verlassenen Müden zu bewachen?« dachte sie und beantwortete die zweifelnde Frage mit einem mutigen: »Gewiss! Streut doch jede Nacht den Tau auf Pflanzen und Blumen, leuchtet doch der Mond dem verirrten Wanderer und sind doch die Sterne treue Wegweiser selbst den Irrenden auf dem treulosen Ozean.«
Sie öffnete noch einmal die Augen und schaute hinauf zum Nachthimmel. Hoch über ihr, ein wenig rechts vom Zenit stand der Polarstern. Ihr Vater hatte sie gelehrt, ihn, den ewig Ersten, zu finden.
»Grüße ihn von seinem Kinde, das in Gottes Hut steht und seiner gedenkt«, flüsterte sie, den Blick nach dem Stern gerichtet und allmählich sanken die übermüdeten Augen zu und Nacht und Einsamkeit vergessend, entschlief das junge Mädchen tief und fest.
Zehntes Kapitel.
Als der Justizrat sich von der Flucht seiner Nichte überzeugt hatte, überfiel ihn eine nicht geringe Furcht vor den Folgen eines nichtswürdigen Versuches. Er hatte gedacht, gerade die völlige Unwissenheit Leonorens müsse sie zu seiner Beute machen, und selbst wenn sie ihn zurückgewiesen, glaubte er doch noch Mittel genug in Händen zu haben, sich das Schweigen des so jungen, gänzlich in seine Hände gegebenen Mädchens zu erkaufen. Was aber sollte er jetzt tun? – Wo war die Entflohene bei nahender Nacht zu finden und welchen Grund sollte er angeben, um ihre Flucht zu motivieren, ohne sich selbst bloßzustellen?
Der litauische Kutscher hatte dieselbe gar nicht bemerkt, das Lied singend vom Mond, der die Sonnentochter gefreit, fuhr er in langsamem Schritt durch den grünen, lustigen Wald, und hörte erst auf Delbrucks donnerndes: »Halt! Halt!« als dieser es ihm in seiner Sprache zurief. –
»Donaleitis, hast Du gesehen, nach welcher Richtung die Jungfrau, die mit mir war, in den Wald gegangen?« fragte er denn ebenfalls litauisch.
Donaleitis verneinte verwundert und meinte dann, die jungen Mädchen, die er zu fahren gewöhnt sei, hätten alle eine so gewaltige Lust, Erdbeeren zu sammeln, dass er sich nicht wundere, wenn auch das städtische Fräulein darauf verfiele. Für Delbruck war dies ein Fingerzeig. Leonore war nach Erdbeeren gegangen und hatte sich unvorsichtig zu weit vom Wagen entfernt und verirrt, so wollte er in Wilkowischken sagen, wenn er dort Leute aufbieten musste, um das Mädchen zu suchen. –
Er sah indes nach seiner Uhr, es war halb neun vorüber, und die Sonnenscheibe berührte bereits den Horizont.
»Wie weit ist’s noch bis zum Ober-Inspektor nach Wilkowischken?« fragte er den Fuhrmann.
»Von hier bis zur Scheschuppe ein Hundebleff, sind wir erst überm Wasser, noch eine kleine halbe Meile.«
Delbruck kannte die kleinen halben Meilen der Litauer, er wusste jetzt, dass er mindestens, das Übersetzen eingerechnet, noch zwei Stunden unterwegs sein müsste, ehe er ins nächste Dorf käme – indes war’s tiefe Nacht, und was ward aus Leonore? –
»Wir müssen die Jungfrau suchen«, sagte er und der gehorsame Litauer knüpfte die Pferde an den Stamm einer Tanne, machte sich auf den Weg und wanderte etwa in einem Umkreise von tausend Schritten umher, von Zeit zu Zeit durch seine zusammengehaltenen Hände:
»Fräulein! Fräulein!« rufend.
Nur der Widerhall antwortete ihm!
»Wenn sie nur der Waldmann nicht mitgenommen hat«, sagte er beim Zurückkommen, »der Waldmann hat hübsche junge Fräulein gar gern.«
»Narr!« murmelte Delbruck,