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zu den klassischen Prunkstücken, die sie fast auswendig konnte. Doch verriet er eine demokratische Vorliebe für Wagner, und als sie ihm erst den Schlüssel zum Verständnis der ›Tannhäuser-Ouvertüre‹ gegeben hatte, machte dieses Stück auf ihn einen Eindruck wie keines sonst, das sie spielte. Es schien ganz unmittelbar seinem eigenen Leben zu entsprechen. Seine ganze Vergangenheit war das Venusbergmotiv, während sie ihn mit dem Pilgerchormotiv verschmolz, und aus der ekstatischen Stimmung, in die ihn dies hob, schwebte er immer höher in das mächtige Schattenreich des suchenden Menschengeistes, wo Gut und Böse ewig streiten.

      Zuweilen stellte er Fragen, die vorübergehend in ihrer Seele Zweifel erregten, ob ihre Deutung und Auffassung der Musik auch richtig war. Nie aber stellte er Fragen über ihren Gesang. Der war zu sehr sie selber, und er war immer wieder bezaubert von dem göttlichen Klang ihres reinen Soprans. Er konnte es nicht lassen, ihn mit den schwachen Stimmen und dem schrillen Trällern der schlechtgenährten, ungeübten Fabrikarbeiterinnen oder mit dem heiseren Kreischen aus den branntweinrauhen Kehlen der Weiber in den Hafenstädten zu vergleichen. Sie freute sich, wenn sie ihm vorspielen und vorsingen konnte. Es war tatsächlich das erstemal, daß sie Gelegenheit hatte, auf eine Menschenseele zu wirken, und sie arbeitete mit Entzücken in dem weichen Ton, denn sie glaubte, sie forme ihn, und meinte es gut. Im übrigen war das Zusammensein mit ihm beglückend für sie. Er stieß sie nicht ab. Jenes erste Zurückschrecken war in Wirklichkeit nur die Angst vor ihrem eigenen, bisher unbekannten Ich gewesen, und diese Furcht hatte sich jetzt gelegt. Obwohl sie sich dessen nicht bewußt war, enthielt ihr Gefühl für ihn eine Art Besitzerfreude. Dazu übte er eine belebende Wirkung auf sie aus. Ihr Studium war sehr anstrengend, und ihr war gleichsam, als ob sie neue Kräfte erhielte, wenn sie die staubigen Bücher beiseite schob und sich von der frischen Seeluft seines Wesens anwehen ließ. Kraft!

      Kraft war es, was sie brauchte, und die gab er ihr in reichem Maße. In die Stube zu treten, wo er sich befand, ihm in der Tür zu begegnen, hieß für sie Erhöhung des Lebensmuts. Und wenn er gegangen war, kehrte sie mit größerem Eifer und frischer Energie an ihre Bücher zurück. Sie kannte zwar ihren Browning, hatte aber nie begriffen, daß es gefährlich ist, mit Seelen zu spielen. Als ihr Interesse für Martin wuchs, wurde es ihr zur Leidenschaft, sein Leben umzuformen.

      »Sehen Sie Herrn Butler«, sagte sie eines Nachmittags, als sie mit Grammatik, Arithmetik und Poesie fertig waren. »Seine Chancen für ein Vorwärtskommen waren anfangs verhältnismäßig schlecht. Sein Vater war Bankkassierer gewesen, mußte aber viele Jahre wegen eines Lungenleidens in Arizona leben, und als er starb, stand Herr Butler – Charles Butler heißt er – allein in der Welt. Sein Vater war aus Australien gekommen, und er hatte daher keine Verwandten in Kalifornien. Er begann, in einer Druckerei zu arbeiten – das habe ich ihn oft erzählen hören – und bekam anfangs drei Dollar die Woche. Jetzt hat er ein jährliches Einkommen von mindestens dreißigtausend. Wie er das machte? Er war ehrlich, treu, fleißig und sparsam. Er versagte sich die Freuden, die die meisten Knaben haben. Er machte es sich zur Regel, jede Woche soundsoviel beiseite zu legen, einerlei, was er deswegen entbehren mußte. Natürlich verdiente er bald mehr als drei Dollar wöchentlich, und je größer sein Lohn wurde, desto mehr sparte er.

      Er arbeitete am Tage, und abends ging er in die Abendschule. Er hatte den Blick stets auf die Zukunft gerichtet. Später besuchte er die Abendhochschule. Mit siebzehn Jahren verdiente er ausgezeichnet als Setzer, aber er war ehrgeizig. Er wollte Karriere machen, nicht nur sein tägliches Brot verdienen, und er fürchtete sich nicht davor, im Augenblick Opfer zu bringen, um am Ende zu gewinnen. Er entschloß sich für Jura und kam als Bote – denken Sie nur – in Vaters Büro, für einen Wochenlohn von nur vier Dollar. Aber er hatte gelernt, sparsam zu sein, und von den vier Dollar sparte er weiter.«

      Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen und die Wirkung auf Martin zu beobachten. Er hörte mit großem Interesse diese Geschichte von den Schwierigkeiten, mit denen Herr Butler in seiner Jugend zu kämpfen gehabt hatte, aber irgend etwas darin erregte seinen Unwillen.

      »Es muß natürlich schwer für so einen jungen Kerl gewesen sein«, bemerkte er. »Vier Dollar wöchentlich – wie konnte er denn davon leben? Sie können sich darauf verlassen, daß er keine großen Sprünge machen konnte. Ich selbst bezahle fünf Dollar wöchentlich für Kost und Logis, und Sie können mir glauben, daß beides nicht sehr großartig ist. Er muß ja gelebt haben wie ein Hund. Sein Essen – «

      »Er kochte selbst«, unterbrach sie ihn, »auf einem kleinen Petroleumkocher.«

      »Sein Essen muß schlimmer gewesen sein als das, was die Leute auf dem ärgsten Hochseeschiff kriegen; kaum auszudenken.«

      »Aber sehen Sie sich ihn jetzt an!« rief sie begeistert. »Denken Sie, was er sich bei seinem Einkommen leisten kann! Jetzt hat er ja tausendfach Ersatz für seine früheren Entbehrungen.«

      Martin sah sie scharf an.

      »Auf eines möchte ich schwören«, sagte er, »nämlich, daß Herr Butler jetzt in seinen fetten Jahren nicht besonders heiter ist. Wenn er seinen Jungenmagen jahrein, jahraus mit solcher Kost gefüttert hat, so möchte ich wetten, daß sein Magen jetzt nicht mehr besonders gut ist.«

      Unter seinem forschenden Blick schlug sie die Augen nieder.

      »Ich möchte wetten, daß er jetzt einen ganz schlechten Magen hat!« sagte Martin herausfordernd.

      »Ja, das hat er«, räumte sie ein. »Aber – «

      »Und ich möchte wetten«, fuhr Martin fort, »daß er feierlich und ernst wie eine alte Eule ist und sich aus keinem Vergnügen was macht trotz seiner Dreißigtausend jährlich. Und ich möchte wetten, daß er sich auch nicht freut, wenn er sieht, wie sich andere amüsieren. Habe ich recht?«

      Sie nickte zustimmend und erklärte schnell weiter:

      »Aber er ist eben ein ganz anderer Mensch. Er ist von Natur aus schüchtern und ernst. So war er immer.«

      »Ja, sicher!« stellte Martin fest. »Drei Dollar wöchentlich, vier Dollar wöchentlich, ein junger Bengel, der sich sein Essen selbst auf einem Petroleumkocher macht und Geld spart, den ganzen Tag arbeitet, den ganzen Abend studiert – nur arbeitet, nie spielt oder mal über die Stränge schlägt – da kommen die Dreißigtausend natürlich zu spät.«

      Seine einfühlende Phantasie ließ sofort die Tausende von Einzelheiten im Dasein dieses Jungen und seine enge geistige Entwicklung zu einem Mann mit dreißigtausend Dollar jährlich vor seinem inneren Auge aufblitzen. Mit der Schnelligkeit und Weite eines umfassenden Denkens erblickte er Charles Butlers ganzes Leben in dieser Vision.

      »Wissen Sie«, fügte er hinzu, »mir tut Herr Butler leid. Er war zu jung, um es besser zu wissen, aber er hat sich selbst um sein Leben betrogen, für dreißigtausend Dollar jährlich, die ihm jetzt auch nichts mehr nützen. Heute können ihm selbst die dreißigtausend nicht mehr das geben, was die zehn Cent, die er beiseite legte, ihm hätten geben können, als er noch jung war – in Form von Bonbons, Erdnüssen oder einem Billett für die Galerie.«

      Diese selbständigen Gesichtspunkte waren es gerade, die Ruth erschreckten. Nicht nur, daß sie ihr neu waren und ihren Anschauungen widersprachen, sie fühlte auch stets den wahren Kern darin, und das drohte ihre eigenen Überzeugungen zu verändern oder gar umzustürzen. Wäre sie vierzehn Jahre alt gewesen statt vierundzwanzig, so hätte sie dadurch vielleicht gewandelt werden können. Aber sie war vierundzwanzig Jahre alt, konservativ von Temperament und Erziehung und schon erstarrt in der Lebensform, in der sie geboren und gebildet worden war. Allerdings beunruhigten seine bizarren Urteile sie im ersten Augenblick, aber sie schrieb sie dem Umstand zu, daß er ein ungewöhnlicher Typ war und ein sonderbares Leben geführt hatte, und sie vergaß es bald wieder. Und wenn sie seine Urteile mißbilligte, war doch gleichzeitig in der Kraft, mit der er sie vorbrachte, in seinen blitzenden Augen und seinen ernsten Zügen etwas, das sie tief bewegte und anzog. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß dieser Mann, der aus einer Welt ganz außerhalb ihres Lebenskreises kam, in solchen Augenblicken mit seiner tieferen und weiteren Auffassung sich über ihren Horizont erhob. Ihre Grenzen waren die Grenzen ihres Horizonts, aber begrenzte Geister können die Begrenzung nur bei anderen erkennen. Und daher fand sie ihren eigenen Blick sehr weit, und wo

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