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es wurde beinahe zehn Uhr, als die Frau von Gratz auftrat.

      Am größten war das Gemurmel in einer Ecke der Halle, wo der Kleine Peter, mit großen Augen und hochgezogenen Augenbrauen, zu seiner eigenen Zuhörerschaft sprach.

      »Es ist unmöglich, es ist absurd, vollkommen idiotisch!« Seine dünne Stimme steigerte sich beinahe in den Diskant. »Ich lache darüber, wir sollten es alle tun, aber die Frau von Gratz hat die Sache ernst genommen und hat Angst!« »Angst! Unsinn! Oh Peter, du Dummkopf!« Es wurden noch andere Dinge gesagt, weil jeder, der sich in der Nähe aufhielt, seine Meinung kundtun wollte. Peter war beunruhigt, aber nicht wegen der Kraftausdrücke. Er war vernichtet, gedemütigt, geschlagen von der schrecklichen Kunde. Er weinte fast bei dem schrecklichen Gedanken. Die Frau von Gratz hatte Angst! Die Frau von Gratz, welche... es war schier undenkbar. Er wandte den Blick zur Bühne, aber sie war nicht dort. »Erzähl uns mehr von ihr, Peter«, beschwor ihn ein Dutzend Stimmen; aber der kleine Mann mit den glitzernden Tränen auf den blonden Wimpern winkte ab.

      Weitab von seinem unverstandenen Ausbruch hatten sie nur eines verstanden – dass die Frau von Gratz Angst hatte. Und das war schlimm genug. Denn diese Frau, die einst als ein kleines flachbrüstiges Mädchen mit zwei langen geflochtenen Zöpfen, kurzem Rock und dünnen Beinen daherkam, eine zweistündige Rede in einer kleinen ungarischen Stadt hielt, wobei sie mit klangvollen Sätzen die anfangs grinsenden, dann aber still zuhörenden Männer trotz deren Vorurteile gegenüber Österreich mit ihrer Überzeugungsgewalt zusammenschweißte, wurde zur Frau von Gratz.

      So schaffte es die Frau von Gratz und man sprach über sie und ließ ihre Reden in jeder Sprache zirkulieren. Und sie wuchs heran. Das hohlwangige Gesicht dieses hageren Mädchens füllte sich, der flache Busen rundete sich, sodass sich sanftere Linien ihrer Figur ergaben, und bevor man es noch recht bemerkte, war eine wunderschöne Frau geworden. So war ihr Ruhm gewachsen, bis ihr Vater starb und sie nach Russland ging.

      Dann ereigneten sich mehrere Verbrechen, die man hier kurz und knapp festhalten kann:

      1: General Maloff wurde in seinem Privatzimmer bei der Moskauer Polizei von einer unbekannten Frau erschossen.

      2: In den Straßen von Petrograd erschoss eine unbekannte Frau den Prinzen Hazallarkoff.

      3: Colonel Kaverdavskov wurde durch eine Bombe getötet, die von einer Frau geworfen wurde; sie entkam.

      Und die Frau von Gratz erreichte noch größeren Ruhm. Sie war ein halbes Dutzend Mal inhaftiert gewesen, auch zweimal ausgepeitscht, aber man konnte ihr niemals etwas beweisen, noch aus ihr herausbringen – und sie war eine schöne Frau.

      Nun unter dem donnernden Applaus der wartenden Delegierten stieg sie auf die Bühne und nahm den letzten freien Platz an dem rotgedeckten Tisch ein. Sie erhob ihre Hand und es wurde absolut still in der Halle, sodass ihre ersten Worte schneidend und schrill klangen, denn sie hatte sich mit ihrer Stimme auf den bisherigen Lärm eingestellt.

      Nun drosselte sie ihre Lautstärke und ihre Stimme bekam einen gesprächigen Tonfall. Sie stand lässig da, die Hände hinter sich verschränkt und bewegte sich kaum. Vielmehr ließ sie ihre Emotionen durch ihre wunderbare Stimme erkennen.

      Die Kraft ihrer Rede lag eher in der Art des Vortrages als in seinem Inhalt; denn nur ab und zu wich sie vom ungeschriebenen Text des Anarchismus ab: das Recht der Unterdrückten, den Diktator zu überwältigen; die Gewalt als etwas Göttliches; die Heiligkeit des Opfers und Märtyrertums im Falle einer Aufklärung oder Entdeckung. Ein Satz allein stand abseits von den Allgemeinplätzen ihrer Redekunst. Sie sprach von den Theoretikern, die zu Reformen rieten und Gewalt verdammten, »Diese Christen, welche ihr eigenes Martyrium vertreten«, sie erwähnte sie mit einem feinen Spott und die Halle röhrte ihre Zustimmung bei dieser bildlichen Vorstellung.

      Die Wut, die in diesem Applaus steckte, beunruhigte sie; der größere der beiden Männer bemerkte dies sehr wohl. Denn als das Geschrei abebbte und sie sich anschickte fortzufahren, begann sie zu wanken und zu stammeln und darauf trat plötzlich Ruhe ein. Dann, ganz abrupt und mit überraschender Vehemenz, fing sie wieder zu reden an. Aber sie änderte die Redeabsicht und so sprach sie nun über ein anderes Thema. Es schien ihr in diesem Augenblick wichtiger als jedes andere, denn ihre bleichen Wangen röteten sich und ein fieberhafter Glanz trat in ihre Augen, als sie sprach: »...und nun, bei all unserer perfekten Organisation, wo die Welt nahezu greifbar ist – da kommt jemand daher und sagt STOP!« und wir, die wir durch unsere Aktionen Könige terrorisiert und die Räte von ganzen Reichen beherrschten, wir selbst sind auf einmal bedroht!« Es wurde totenstill im Saal. Man war davor schon ruhig geworden, aber diese Stille schmerzte.

      Die beiden Männer, die ihr zusahen, bewegten sich ein wenig unbehaglich, als ob irgendetwas in der Rede nicht stimmte. In dem Anflug von Prahlerei in ihrer Behauptung von der Macht der Roten Hundert fiel inder Tat eine widersprüchliche Note auf. Daher sprach sie schnell weiter: »Wir haben gehört – ihr alle habt gehört – wir wissen von diesen Männern, die uns geschrieben haben. Sie sagen«, ihre Stimme wurde lauter, »wir sollen das nicht tun, was wir tun. Sie drohen uns – sie drohen mir – dass wir unsere Methoden ändern sollen oder sie werden uns bestrafen wie – wie wir andere bestrafen; töten, wie wir töten...«

      Es gab ein Gemurmel in der Zuhörerschaft und die Männer schauten sich erschreckt an. Denn auf ihren bleich gewordenen Gesichtern stand das blanke und unverhohlene Entsetzen und schaute auch aus den wunderschönen Augen der Frau.

      »Aber wir werden ihnen die Stirn bieten...« Sie wurde von lauten Stimmen und einem Geräusch von schlurfenden Schritten in dem kleinen Vorraum unterbrochen und ein Warnruf ließ das Auditorium von den Stühlen aufspringen. »Die Polizei!«

      Hundert Hände verschwanden in heimlichen Taschen, aber jemand sprang nahe dem Eingang auf eine Bank und hob gebieterisch die Hand. »Gentlemen, es gibt keinen Grund für einen Alarm! Ich bin Detective Superintendent Falmouth von Scotland Yard, und ich habe mit der Roten Hundert kein Problem.«

      Der Kleine Peter, für einen Augenblick wie versteinert, bahnte sich nun seinen Weg zum Detektiv. »Wen wollen Sie und was wollen Sie?«, fragte er. Der Detektiv stand mit dem Rücken zur Tür und antwortete. »Ich will zwei Männer haben, die beim Eintritt in diese Halle gesehen wurden: zwei Mitglieder einer Organisation, die außerhalb der Roten Hundert steht. Sie...«

      »Ha!« Die Frau stand immer noch auf der Bühne und beugte sich jetzt mit blitzenden Augen vor: »Ich weiß – ich weiß!«, schrie sie atemlos; »die Männer, die uns bedrohten – die mich bedrohten – Die Vier Gerechten!«

      Der Große hielt seine Hand in der Tasche, als der Detektiv sprach. Beim Betreten der Halle hatte er sich mit einem schnellen Blick einen Überblick über jedes Detail verschafft. Er sah den perlenverzierten Streifen von unbemaltem Holz, das die elektrischen Kabel verdeckte, und er hatte die Gelegenheit benutzt, während der geschwätzige Bruder seine Rede zum Zwecke weiterer Aufklärung hielt. Links neben der Bühne war ein weißes Schaltbrett aus Porzellan angebracht, mit einem halben Dutzend Schaltern. Er schätzte die Entfernung ab und seine Hand mit der Pistole schnellte hoch. Peng! Peng! Glas zersplitterte, mit einem blauen Blitz schlug eine Flamme aus den zerschmetterten Sicherungen – und die Halle war in Dunkel getaucht. Das alles geschah, bevor der Detektiv von seiner Bank aus in die kreischende, schreiende Menge springen konnte – bevor der Polizeibeamte einen Blick von dem Mann erhaschen konnte, der die Schüsse abfeuerte. Im Nu war das totale Chaos entstanden.

      »RUHE!«, brüllte Falmouth über das Getöse hinweg. »Ruhe! Seid endlich still, ihr elenden Feiglinge! Brown, Curtis, bringen Sie eine Lampe her – Inspektor, wo sind die Laternen Ihrer Leute?«

      Ein Dutzend Blendlaternen schickten ihre Strahlen über das zappelnde Gedränge.

      »Machen Sie Ihre Laternen auf!« Und zum schäumenden Pöbel gewandt rief er »RUHE!« Dann erinnerte sich ein aufgeweckter junger Beamter, dass er in dem Raum Gasleuchter gesehen hatte und kämpfte sich durch den heulenden Mob. Schließlich kam er an die Wand und fand die Installation mit seiner Laterne. Mithilfe eines brennenden Streichholzes zündete er das Gas an und die Panik legte sich so schnell

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