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Krohmer war stinksauer und musste tief durchatmen. Der Tod des Mädchens ging ihm sehr nahe, denn es handelte sich um eine ehemalige Schulkameradin seines Ziehsohnes. Mason war jetzt siebzehn Jahre alt und besuchte die elfte Klasse des König-Karlmann-Gymnasiums in Altötting, auf das er nach der Hauptschule gewechselt hatte – und da waren er und Katharina in einer Klasse gewesen. Während Mason das musische Gymnasium bevorzugte, blieb Katharina in Mühldorf und ging auf das hiesige Gymnasium. Obwohl Mason in seinem jungen Leben bereits viel hatte durchmachen müssen, waren seine schulischen Leistungen immer hervorragend gewesen. Er gehörte zu den Besten seiner Jahrgangsstufe und wusste genau, was er wollte – und das machte Krohmer sehr stolz. Der Junge war nach einer schwierigen Phase umgänglicher geworden, was das Familienleben deutlich entspannte. Krohmers Frau Luise und Mason hatten inzwischen ein sehr herzliches Verhältnis, worauf er oft neidisch war, denn er selbst spürte die Distanz zwischen ihm und dem Jungen ganz deutlich. Als die schreckliche Nachricht eintraf, dass sich das achtzehnjährige Opfer Katharina Oberwinkler vom Dach der Turnhalle der Schule gestürzt hatte, war Krohmer schockiert. Er kannte das Mädchen zwar nur flüchtig, aber er war tief getroffen von dem Selbstmord. Es war selbstverständlich, dass die Umstände völlig aufgeklärt werden mussten, auch wenn der Staatsanwalt nicht seiner Meinung war. Für Eberwein war das ein Selbstmord, der zwar tragisch war, die Mordkommission aber nicht zu interessieren hatte. Krohmer war anderer Meinung und hatte die Ermittlungen auf seine Kappe genommen. So lange die genauen Umstände des Selbstmordes nicht geklärt waren, fühlte er sich verpflichtet, sich darum zu kümmern – und niemand widersprach ihm. Es lag kein weiterer Mordfall an, weshalb nichts dagegen sprach, sich um die Sache zu kümmern. Krohmer hatte es übernommen, sofort mit seinem Ziehsohn zu sprechen, was für beide nicht leicht war und dem Chef der Mühldorfer Polizei immer noch in den Knochen steckte. Mason und Katharina waren keine engen Freunde gewesen, trotzdem war der Junge sehr bestürzt – so wie alle anderen auch.

      „Sie haben mit den Eltern gesprochen?“, wandte sich Krohmer an Hans Hiebler, nachdem der Staatsanwalt endlich Ruhe gab und sich gesetzt hatte.

      Hans nickte und schluckte, denn das war kein einfaches Gespräch gewesen. Auch Leo war immer noch sehr betroffen. Die Kriminalkommissare hatten beide Elternteile zuhause angetroffen. Als die verstanden, dass ihre Tochter nie wiederkommen würde, war der Vater am Boden zerstört. Er schrie und weinte, während die Mutter nichts sagte und keine Miene verzog. Diese Reaktion erschreckte vor allem Hans, denn das verhieß nichts Gutes. Hans forderte einen Arzt und einen Seelsorger an, mehr konnte er für beide nicht tun. Als die Kommissare gehen wollten, tauchte der Bruder des Opfers auf. Auch er war fassungslos, aber ansprechbar.

      „Den Eltern und dem Bruder geht es natürlich nicht gut, das ist logisch. Soweit wir verstanden haben, ist Katharina Oberwinkler kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag bei Nacht und Nebel von zuhause ausgezogen, das war im letzten Jahr im August. Wo sie lebte, konnten uns die Eltern nicht sagen, der Bruder weiß auch nichts. Die Eltern waren völlig durch den Wind, weshalb wir sie vorerst in Ruhe gelassen haben. Wir stehen mit dem Arzt in Kontakt. Der sechzehnjährige Bruder hatte nach seinen Aussagen nur flüchtigen Kontakt zu seiner Schwester. Warum das so war, hatte er nicht erklärt. Er sagte aber, dass es in seinen Augen keine Anzeichen für einen Suizid gab. Das Opfer war eine gute Schülerin und hatte offenbar einen akzeptablen Freundeskreis.“

      „Was ist denn das für eine Aussage?“, mischte sich der Staatsanwalt ein, der nach dem Rüffel beleidigt war. „Was ist denn ein akzeptabler Freundeskreis?“

      „Keine Chaoten oder Spinner. Einfach ganz normale, junge Leute, die ihre Freizeit gemeinsam verbracht haben. Das ist die Aussage des Bruders und selbstverständlich werden wir das noch überprüfen.“

      „Und niemand weiß, wo das Opfer gelebt hat? Das kann ich mir nicht vorstellen!“ Krohmer war schockiert von diesen Familienverhältnissen.

      „Wir kümmern uns darum und werden es herausfinden“, sagte Leo, der ähnlich dachte wie der Chef.

      „Irgendwelche Hinweise auf dem Handy oder Laptop?“

      „Das ist etwas, was wir nicht verstehen“, sagte Leo. „Wir haben kein Handy, Tablet und keinen Laptop gefunden. Die Eltern sagten, dass ihre Tochter nichts davon besaß, was der Bruder bestätigte. Die Eltern legten immer großen Wert darauf, dass ihre Kinder ohne schädlichen Einfluss aufwuchsen, was Handys, Fernsehen und Computer einschloss.“

      „In der heutigen Zeit schwer vorstellbar“, murmelte Krohmer. „Allerdings wissen wir nicht, ob es Laptop und Handy nach dem Auszug gab.“

      „Wir konnten einige wenige Mitschüler befragen, die alle aussagten, dass Katharina Oberwinkler sehr wohl ein Handy besaß. Wir haben es aber nicht gefunden.“

      „Wieso wurden nur einige und nicht alle Mitschüler befragt?“, wollte der Staatsanwalt wissen und alle spürten den vorwurfsvollen Unterton.

      „Weil wir hier sitzen, anstatt unserer Arbeit nachzugehen“, maulte Leo, ohne den Staatsanwalt oder den Chef dabei anzusehen. Leo hielt die Besprechung für reine Zeitverschwendung, denn noch waren sie nicht wirklich weit gekommen. Er spürte, dass bei dem Suizid etwas nicht stimmte und wollte herausfinden, ob er richtig lag.

      „Das hätten Sie alles längst erledigen können“, pampte Eberwein zurück. „Es wäre genug Zeit gewesen, alle Mitschüler, Lehrer und Freunde aufzusuchen und zu befragen.“

      „Die Tote wurde heute früh um sechs Uhr gefunden. Der Leichenfund hatte sich herumgesprochen und es hatten sich trotz der Kontaktbeschränkungen durch das Corona-Virus einige Leute eingefunden, die wir alle befragt haben. Als wir damit durch waren, mussten wir erst die Eltern verständigen, womit Sie hoffentlich einverstanden waren. Wir mussten verhindern, dass die Todesnachricht zu den Eltern durchdringt, bevor wir sie selbst überbringen konnten. Wir haben uns erst um elf Uhr von den Eltern verabschiedet. Jetzt ist es kurz nach dreizehn Uhr und diese Besprechung zieht sich unnötig in die Länge. Wann hätten wir mit den Mitschülern und Lehrern sprechen sollen?“ Leo war außer sich. Diesen Vorwurf musste er sich vom Staatsanwalt nicht gefallen lassen, das war eine bodenlose Frechheit. Während der von allen Kriminalbeamten Unmögliches erwartete, saß er hier und hielt alle nur auf.

      „Es wäre Ihr Job gewesen,…“

      „Jetzt kommen Sie mal runter!“, schritt Krohmer jetzt ein, der immer wütender wurde. Die heutige Laune des Staatsanwaltes war für ihn nur schwer zu ertragen. „Versuchen Sie, das Handy des Opfers zu finden“, sagte Krohmer so ruhig wie möglich zu Leo.

      „Wir sind dabei.“

      „Wie gehen Sie jetzt vor?“

      „Wir werden alle Schüler und Lehrer befragen. Man wartet auf uns in der Schule.“

      „Gut. Versuchen Sie, nochmals mit den Eltern zu sprechen.“

      „Selbstverständlich.“

      „Gibt es von Ihrer Seite noch etwas?“ Krohmer sah seine Leute an. Ihm war klar, dass der Fall allen an die Nieren ging.

      „Ich hätte einen Vorschlag“, sagte Anton Graumaier mit einem Lächeln. Anton, genannt Toni, war zur Aushilfe in Mühldorf. Eigentlich hätte er längst wieder gehen können, aber Krohmer nutzte dessen Anwesenheit aus, um seinen eigenen Leuten Urlaub gewähren zu können. Nachdem die Kollegin Diana Nußbaumer aus Thailand zurück war und auch der Kollege Schwartz einige Tage Urlaub genossen hatte, war jetzt die Leiterin der Mordkommission Tatjana Struck dran, die gemeinsam mit ihrem Freund zwei Wochen in Italien verbrachte. Aufgrund der dortigen Corona-Situation saßen Frau Struck und ihr Begleiter immer noch in Italien fest, da beide immer noch Anzeichen einer Erkrankung zeigten und die Ärzte sie noch nicht entließen. Krohmer hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, beide nach Hause zu bringen, was ihm aber bisher nicht gelang. Wenn Frau Struck wieder zurück war, musste sie sehr wahrscheinlich zwei Wochen in Quarantäne verbringen, was deren Einsatz weiter hinausschob. Nach ihrer Rückkehr war auch für Graumaier die Zeit in Mühldorf vorbei, das wussten alle. Trotzdem mussten sich alle mit der momentanen Situation zurechtfinden, an der sich so schnell nichts ändern würde.

      „Bitte, wir hören“, stöhnte Krohmer, der den Neuen nicht wirklich mochte. Er selbst hatte

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