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sorgfältig zusammengerolltes Pergament zum Vorschein. Ich rollte es auf und sah, dass es ebenfalls von Vincey beschrieben war und die Überschrift trug: Übersetzung der griechischen Unzialschrift auf der Scherbe. Nachdem ich es neben den Brief gelegt hatte, nahm ich eine zweite, stark vergilbte und zerknitterte Pergamentrolle heraus. Als ich sie aufrollte, stellte ich fest, dass es gleichfalls eine Übersetzung der griechischen Unzialschrift war, jedoch in Mönchslatein; Stil und Form der Lettern deuteten darauf hin, dass sie aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts stammten. Unter dieser Rolle lag auf einer zweiten Schicht des faserigen Materials ein harter, schwerer, in gelbe Leinwand gehüllter Gegenstand. Langsam und behutsam entfernten wir das Leinen und fanden darunter eine sehr große, ohne Zweifel überaus alte Scherbe von schmutzig-gelber Farbe. Sie schien von einer mittelgroßen Amphora zu stammen und war zehneinhalb Zoll lang, sieben Zoll breit, etwa einen viertel Zoll dick und auf der Außenseite dicht mit einer stellenweise verblichenen, doch größtenteils gut lesbaren griechischen Unzialschrift bedeckt, die mit größter Sorgfalt ausgeführt war, offenbar mittels einer Rohrfeder, deren sich die Alten häufig zu bedienen pflegten. Irgendwann vor langer Zeit war dieses wunderbare Fragment einmal in zwei Stücke zerbrochen und mit Zement und acht langen Nieten wieder zusammengefügt worden. Auch auf der Innenseite befanden sich zahlreiche Inschriften, die jedoch von der verschiedensten Art waren, also anscheinend von verschiedenen Händen und aus verschiedenen Zeiten stammten.

      »Ist noch mehr drin?«, flüsterte Leo aufgeregt.

      Ich tastete herum und holte etwas Hartes hervor, das in einen kleinen Leinenbeutel eingenäht war. Darin befanden sich ein hübsches Miniaturbild aus Elfenbein und ein kleiner schockoladenbrauner, mit Symbolen verzierter Skarabäus.

      Wie wir später feststellten, bedeuteten die Symbole Suten se Ra, dass heißt: Königlicher Sohn Ras oder der Sonne. Das Miniaturbild stellte Leos Mutter dar - eine hübsche dunkeläugige Griechin. Auf der Rückseite stand in Vinceys Handschrift: »Mein geliebtes Weib.«

      »Das ist alles«, sagte ich.

      »Gut«, erwiderte Leo und legte das Bild, das er zärtlich betrachtet hatte, hin. »Nun lass uns den Brief lesen.« Ohne Zögern erbrach er das Siegel und las uns folgendes vor:

      »Mein Sohn Leo!

      Wenn Du diesen Brief öffnest, hast Du das Mannesalter erreicht, und ich bin schon so lange tot, dass fast alle, die mich kannten, mich vergessen haben werden. Bedenke jedoch, wenn Du dies liest, dass ich gewesen bin und - wer weiß? - vielleicht noch bin, dass ich Dir durch diesen Brief über den Abgrund des Todes die Hand reiche und aus der Stille des Grabes zu Dir spreche. Obwohl ich tot bin und Du Dich meiner nicht erinnerst, bin ich in der Stunde, da Du dieses liest, dennoch bei Dir. Seit Deiner Geburt bis zum heutigen Tage habe ich Dein Gesicht kaum gesehen. Vergib mir das, mein Sohn. Dein Leben kostete das Leben einer Frau, die ich von ganzem Herzen liebte, und der Schmerz darüber erfüllt mich heute noch. Wäre ich am Leben geblieben, so hätte ich dieses törichte Gefühl gewiss überwunden; doch es ist mir nicht beschieden weiterzuleben. Meine Leiden, körperlich und geistig, übersteigen meine Kraft, und sobald ich alle Vorkehrungen für Dein künftiges Wohlergehen getroffen habe, gedenke ich ihnen ein Ende zu bereiten. Möge Gott mir verzeihen, falls ich unrecht handle. Doch mir ist ohnedies bestenfalls nur noch ein Jahr beschieden.«

      »Er hat also Selbstmord begangen«, rief ich aus. »Dacht' ich's mir doch!«

      »Doch nun genug von mir«, las Leo, ohne darauf einzugehen, weiter. »Was ich noch zu sagen habe, soll Dir, dem Lebenden, gelten - nicht mir, dem Toten, der schon so vergessen ist, als hätte er niemals gelebt. Mein Freund Holly (dem ich Dich, wenn er damit einverstanden ist, anvertrauen werde) wird Dir wohl von dem ungewöhnlich hohen Alter Deines Geschlechts erzählt haben. In diesem Kästchen findest Du genügend Beweise dafür. Die Scherbe mit der von Deiner fernen Ahne niedergeschriebenen Legende hat mir mein Vater auf seinem Totenbett übergeben, und seither hat sie unablässig meine Phantasie beschäftigt. Schon mit neunzehn Jahren beschloss ich, gleich einem unserer Vorfahren zur Zeit der Königin Elisabeth, den dieser Entschluss ins Unglück stürzte, ihr Geheimnis zu ergründen. Was ich dabei erlebte, kann ich hier nicht näher schildern, doch dies habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen: An der Küste Afrikas, in einer bisher unerforschten Gegend nördlich der Sambesi-Mündung, befindet sich ein Vorgebirge, an dessen äußerster Spitze ein Fels aufragt, der, ganz wie ihn die Inschrift schildert, die Form eines Negerkopfes hat. Als ich dort landete, erfuhr ich von einem umherziehenden Eingeborenen, der wegen eines Verbrechens von seinem Stamm ausgestoßen worden war, dass es tief im Landesinnern große becherförmige Gebirge und von endlosen Sümpfen umgebene Höhlen gibt. Er berichtete mir weiter, dass die Leute dort eine arabische Mundart sprechen und von einer schönen weißen Frau beherrscht werden, die sie nur selten zu Gesicht bekommen, die aber über alle Lebende und Tote Macht haben soll. Zwei Tage, nachdem er mir dies erzählt hatte, starb dieser Mann an einem Fieber, welches er sich beim Durchqueren der Sümpfe zugezogen hatte, und Mangel an Lebensmitteln und die Symptome einer Krankheit, die mich später aufs Lager warf, zwangen mich, zu meiner Dhau zurückzukehren.

      Von den Abenteuern, die ich danach erlebte, will ich hier nicht sprechen. An der Küste Madagaskars erlitt ich Schiffbruch und wurde nach einigen Monaten von einem englischen Schiff gerettet, das mich nach Aden brachte. Von dort begab ich mich in der Absicht, nach gründlichen Vorbereitungen meine Expedition fortzusetzen, nach England. Unterwegs machte ich in Griechenland Station, wo ich - omnia vincit amor - Deine geliebte Mutter kennenlernte und heiratete, wo Du geboren wurdest und sie starb. Damals befiel mich meine jetzige Krankheit, und ich kehrte nach England zurück, um zu sterben. Trotz allem gab ich die Hoffnung jedoch nicht auf und begann Arabisch zu lernen, um, falls ich doch wieder gesunden sollte, wieder nach Afrika zu gehen und das Rätsel, das so viele Jahrhunderte in unserer Familie überliefert wurde, zu lösen. Ich bin jedoch nicht gesund geworden, und damit ist die Geschichte für mich zu Ende.

      Nun liegt alles an Dir, mein Sohn, und so übergebe ich Dir die Ergebnisse meiner Arbeit und die ererbten Beweise für ihren Ursprung. Ich werde Vorsorge treffen, dass sie erst in Deine Hände gelangen, wenn Du ein Alter erreicht hast, in dem Du imstande sein wirst zu entscheiden, ob Du das größte Rätsel der Welt entschleiern oder das Ganze als eine dumme Fabel, entsprungen dem zerrütteten Gehirn einer Frau, abtun willst.

      Ich glaube nicht, dass es eine Fabel ist; ich glaube, dass es einen Ort gibt, wo die Lebenskräfte der Welt sichtbar existieren, und dass dieser Ort aufzuspüren ist. Das Leben gibt es; warum sollte es nicht auch Mittel geben, es unendlich zu verlängern? Ich möchte Dich jedoch keineswegs beeinflussen. Lies und urteile selbst. Entschließest Du Dich, das Rätsel zu lösen, so habe ich dafür gesorgt, dass Dir die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Solltest Du jedoch zu der Überzeugung gelangen, dass das Ganze eine Schimäre ist, so beschwöre ich Dich, vernichte die Scherbe und die Schriften und erlöse dadurch unser Geschlecht für immer von diesem unseligen Erbe. Vielleicht wäre es das klügste. Das Unbekannte gilt stets als schrecklich, nicht weil die Menschen von Geburt abergläubisch sind, sondern weil es oft in der Tat schrecklich ist. Wer sich mit den ungeheuren geheimen Kräften, welche die Welt beleben, befasst, kann ihnen leicht zum Opfer fallen. Und wenn Du das Ziel erreichen solltest, wenn Du aus dieser Prüfung in ewiger Jugend und Schönheit, gefeit gegen Zeit und Leid, enthoben dem natürlichen Verfall von Fleisch und Geist, hervorgehen solltest - wer vermag zu sagen, ob Dir dies zum Glück gereichen würde? Wähle, mein Sohn, und möge die Macht, die alle Dinge lenkt und die da sagt: Bis hierher und nicht weiter! Deine Wahl zum Glück für Dich und die Welt lenken, die Du, falls Du Erfolg hast, eines Tages gewiss allein durch die Kraft Deiner ungeheuren Erfahrung beherrschen würdest. - Lebe wohl!«

      So endete jäh der Brief, der keine Unterschrift und kein Datum trug.

      »Was hältst du davon, Onkel Holly?«, sagte Leo mit bebender Stimme, als er ihn auf den Tisch legte. »Wir haben ein

      Geheimnis erwartet; nun haben wir, scheint's, eins gefunden!«

      »Was ich davon halte? Offen gesagt - dass dein armer Vater nicht ganz bei Verstand war«, erwiderte ich gereizt. »Ich dachte mir das schon an jenem Abend vor zwanzig Jahren, als er in mein Zimmer trat. Du siehst ja selbst, der Arme hat sein Ende selbst beschleunigt. Es ist der reinste Unsinn.«

      »Ganz

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