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mehr, und sie verstand sich dazu, die Operation am Nachmittage vornehmen zu /19/ lassen. Der Nachmittag kam und der Schmerz war eher heftiger geworden. Der Zahnarzt wurde deshalb, ohne Marien weiter ein Wort davon zu sagen, mit seinem Apparate herüber bestellt. Als er mit dem Kästchen unter dem Arm in die Thür trat, erschrak das arme Kind wohl und fing an zu zittern, wagte aber doch keine Widerrede mehr. Nur um einen kleinen Aufschub bat sie, sich erst zu sammeln, nur um ein kleines Viertelstündchen, und als das verflossen war, um noch, und um noch eins. Die Mutter, die sich fast ebenso vor der doch ganz gefahrlosen Operation fürchtete, war zu schwach, ernsthaft auf rascher Beendigung derselben zu bestehen, so daß sich die Zeit mehr und mehr verzögerte und in der That schon langsam die Dämmerung hereinbrach.

      Der Zahnarzt hatte sich indessen mit wirklich grenzenloser Geduld der Angst des Kindes gefügt, erklärte aber doch endlich, daß er entweder jetzt die Operation beenden, oder heute ganz davon abstehen müsse. Die Dunkelheit brach mehr und mehr herein, und er wünschte den Vortheil des Lichtes nicht zu verlieren. Da bezwang sich die Leidende; sie fing an, sich ihrer Schwäche zu schämen, und suchte in diesem Gefühl die Furcht zu überwinden, die sie vor dem bleichen Manne in dem schwarzen. Frack und mit dem entsetzlichen blankpolirten Kästchen erfaßt hatte. Der Mutter Arm nehmend, die rasch aufsprang sie zu unterstützen, erhob sie sich vom Sopha und ging selber zu dem schon Stunden lang bereitgeschobenen Lehnstuhl, setzte sich hinein und lehnte ihr Köpfchen in die eine Ecke. Beide Händchen preßte sie dabei gegen den jetzt wieder wie rasend beginnenden Zahn, und sah nun mit klopfendem Herzen, wie der entsetzliche Mann mit der eisernen Ruhe und den weißen ringbedeckten Fingern das Kästchen öffnete. Dort klirrte er ein paar Secunden lang mit seinen Instrumenten, goß dann eine helle Flüssigkeit auf einen Schwamm und kam auf sie zu.

      „Es ist ja nur ein Augenblick, mein liebes, süßes Kind," bat die Mutter; „halte Dich nur wenige Secunden still, und Alles ist vorüber und überstanden. - Wenn nur der Vater zu Hause geblieben wäre!"

      Der bleiche Zahnarzt lächelte, sagte jedoch kein Wort, und /20/ Marie schaute fest und entschlossen zu ihm auf. Aber - die rechte Hand hielt er etwas zurück; schon hob er den linken Arm mit dem Schwamm, da fiel ihr Blick auf das blitzende Instrument, das er, halb versteckt, in der zurückgebogenen Rechten zu verdecken suchte. In dem einen Moment kehrte bei ihr die alte Furcht und Angst zurück, und mit einem gellenden Schrei, ehe selbst die Mutter sie daran verhindern konnte, sprang sie wieder vom Stuhle auf und der Thür zu.

      „Marie!" rief die Mutter erschreckt und bittend, „Marie, wo um Gottes willen läufst Du hin?"

      Aber Marie ließ sich durch den Ruf nicht halten, denn zu gleicher Zeit hörte sie auch, wie der entsetzliche Doctor hinter ihr dreinsprang, um sie einzuholen. In der jetzt nur noch vermehrten Angst, von dem fürchterlichen Manne mit den blitzenden Instrumenten gar mit Gewalt gefaßt und gezwungen zu werden, floh sie die Treppe nieder, Schutz drüben bei der Tante zu suchen, die so gut und freundlich mit ihr war. Aber die Verfolger waren dicht hinter ihr. Schon konnte sie die Schritte fast neben sich hören, und die weiße Hand des Arztes, an der die funkelnden Ringe staken, streckte sich nach ihr aus, sie zu erfassen. Mit einem wahren Angstschrei floh sie den ersten Treppenabsatz nieder, da fiel in diesem entsetzlichen Moment ihr Blick aus die bemalte geheimnißvolle Thür des alten Hauses, neben der sie sich befand und die - ein eisiger Schauer zog ihr durch Mark und Bein - halb geöffnet stand.

      „Bst - bst!" rief dabei eine leise Stimme, und ein bleicher, schlanker Knabe, von zwölf oder dreizehn Jahren vielleicht, stand auf der Schwelle und winkte ihr rasch und ängstlich, zu ihm herein zu flüchten.

      „Um Gottes willen," stammelte Marie - aber hinter ihr sprang Jemand die Stufen herunter, und als sie den Kopf scheu dorthin wandte, sah sie die gierig nach ihr ausgestreckte Hand des Arztes.

      „Marie," flüsterte dabei das liebe, fremde Kind dicht neben ihr, und selber kaum wissend, was sie that - halb besinnungslos in Angst und Aufregung, schlüpfte sie durch die eben weit genug geöffnete Thür, die sich augenblicklich wieder /21/ hinter ihr schloß. Noch immer aber sich nicht sicher glaubend, wollte sie weiter den Gang hinunter fliehen, um fort, nur aus der Nähe des mehr als alles Andere gefürchteten Arztes zu kommen, als der Knabe sie am Arm festhielt und lächelnd flüsterte:

      „Bleib ruhig stehen, Marie; hier können sie nicht her, wenn wir sie nicht hereinlassen wollen. Horch, wie sie hin- und herlaufen und sich den Kopf zerbrechen, wo Du auf einmal hingekommen bist. Hahahaha - ich kenne sie und habe sie oft und oft behorcht, wenn sie aus der alten, hohlklingenden Treppe auf und nieder liefen. Aber Du hast Schmerzen, armes Kind - warte, davon helf' ich Dir gleich."

      Dabei strich er ihr nur ein einziges Mal mit der Hand über das fieberglühende Antlitz, und Marien war es, als ob er mit dem einen eiskalten Finger den Zahn berühre. Im Nu verschwand da der Schmerz, und sie fühlte sich leicht und wohl.

      „So, Marie!" sagte da der fremde Knabe freundlich, „jetzt komm mit mir, denn da Du doch nun einmal bei mir bist, so zeige ich Dir auch jetzt die eigene Heimath. Wie lange habe ich mich darauf gefreut!"

      „Marie, meine Marie!" rief in diesem Augenblicke der Mutter Stimme in Todesangst draußen auf der Treppe, und Marie zögerte ängstlich. Der Laut klang gar zu wehmüthig zu ihr herein.

      „Wir bleiben nicht lange," flüsterte ihr aber der Knabe zu, „nur bis der Doctor fort ist."

      „Der Doctor!" schauderte Marie, und draußen hörten sie sein feines, höfliches Lachen, und es kam ihr fast vor, als ob sie das Klirren der Instrumente, wie der Stahl klingend zusammenstieß, unterscheiden konnte.

      „Fort, fort!" stöhnte sie und floh so rasch den dunkeln schmalen Gang entlang, daß ihr der fremde Knabe kaum zu folgen vermochte, bis sie eine verschlossene Thür erreichte und dort stehen bleiben mußte.

      „Siehst Du," lachte der Knabe hinter ihr drein, „so ist's, wenn man hinter verschlossenen Thüren sitzen und warten muß und nicht hindurch kann. Aber nur vorsichtig, Marie! /22/ hier sind Stufen - tritt leise auf," setzte er mit unterdrückter Stimme hinzu, „und sprich kein Wort, bis ich selber es Dir sage. Wir dürfen den alten Mann nicht böse machen."

      „Welchen alten Mann?" flüsterte Marie mit kaum hörbarer Stimme furchtsam zurück.

      „Nun, den Herrn Quetzlinberger, wen denn sonst? Dem gehört ja das Haus."

      „Ja, dem Herrn Quetzlinberger," hauchte Marie mehr, als sie sprach. Der Knabe drückte ihr aber wieder leise den Finger auf die Lippen und öffnete auch in demselben Augenblick eine hohe und, wie sie beim Oeffnen sah, wunderlich geschnitzte Thür. Dann aber wollte ihr das Blut fast in den Adern stocken, denn vor ihr lag - sie deckte die Augen einen Moment mit der Hand, das konnte und mußte ja doch nur ein Traum sein - nein, vor ihr lag in voller, unverkennbarer Wirklichkeit das Hauptzimmer des alten Hauses, mit seinen gelbseidenen niedergelassenen Gardinen, mit dem schweren Teppich, den alten, aus dunkelm Eichenholze gar sonderbar geschnitzten und vergoldeten, aber auch weichgepolsterten Möbeln, und den polirten und ebenfalls zierlich geschnittenen Nußbaumwänden, an denen alte, kaum noch er- kennbare mächtige Bilder hingen.

      Eins von diesen fesselte ihre Aufmerksamkeit vor allen anderen. Es stellte einen jungen Mann in Lebensgröße dar, mit hochgepudertem Haar und reich bordirtem, hellgelbem Seidenrocke; das Gesicht sehr roth und weiß, und die ganze helle Figur aus dem fast schwarz gedunkelten Hintergrunde des Zimmers herausspringend.

      „Herr Quetzlinberger," flüsterte da der Knabe leise, der dem auf das Bild gehefteten Blicke seines jungen Gastes mit den Augen gefolgt war. Er deutete dabei vorsichtig mit der Hand nach dem schon fast düstern Erker hinüber, wo Marie jetzt zu ihrem Entsetzen die Gestalt des kleinen Mannes erkannte, gerade wie ihn die Großmama in dem gelbseidenen Schlafrocke mit den grellrothen Aufschlägen beschrieben haben sollte, und der jetzt zwischen den fest zusammengezogenen Gardinen vorsichtig nach der Straße hinunter blinzelte. Wie das aber so eigenthümlich ist, daß wir den eigenen /23/ Namen, der in unserem Umkreise, oft selbst außer Gehörweite ausgesprochen wird, fast mehr fühlen als verstehen und uns unwillkürlich, manchmal sogar unbewußt, danach umdrehen, so wandte auch die Gestalt im Erker, die den leisen Ton unmöglich gehört haben konnte, den Kopf halb zur Seite, und ihr Blick fiel in diesem Moment auf das kleine Mädchen, das zitternd in

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